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Uwe Stelbrink

Systemfehler

In den Boom-Zeiten der sogenannten New Economy nervten mich selbst noch im Ruheraum der Sauna zumeist sportliche Machotypen mit Waschbrettbauch, aber auch biedere Hausfräulichkeiten mit ihren ständigen Tipps, welche absolut sicheren Anlagemöglichkeiten ungewöhnliche Rendite versprachen. Auch die „Handys“ waren in dieser eigentlich heiligen Zone der Schwitzanstalt dauerhaft im Gange: Man ließ sich Kurse durchsagen, gab Kauf- und Verkaufsordern ab und diverse Jubelschreie von sich. Die Sachlage war klar: Ich war ein älterer mehr oder weniger Trottel, der den Lauf der Welt nicht verstanden und vor allem nicht begriffen hatte, dass man nur „sein Geld arbeiten lassen muss“. Umgeben von lauter Erfolg- und Neureichen, nur von Gewinnern eben. Als ich eines Tages mein Recht auf Ruhe im Ruheraum verteidigen wollte, wurde mir freundlich herablassend und ein wenig mitleidig Verständnis anheimgestellt: Schließlich sei man „Day-Trader“ und da könne man es sich nicht leisten – auch nicht in der Sauna – für Stunden die Kurse des eigenen Portfolios unbeobachtet zu lassen, ohne die nächsten allfälligen Gewinne zu verpassen. Denn es wurde nur „gewonnen“ in dieser Zeit. Immerhin – es ging noch um Stunden.

Mittlerweile hat sich die Situation in der Sauna wieder entspannt, was – neben der für viele ernüchternden Erkenntnis, dass es bei Lotteriespielen nur Gewinner geben kann, wenn sich eine ausreichende Zahl Verlierer beteiligt – vor allem dem technologischen Fortschritt zu danken ist. Was bei Banken als automatisiertes Risikomanagement funktioniert (besser: funktionieren soll), steht auch dem unbelehrbaren Kleinspekulanten als light version zur Verfügung. Allerdings geht es heutzutage nicht mehr um Stunden oder gar Tage, sondern quasi um millisecond trading. In einem intransparenten Spekulationsdickicht sollen durch blitzschnelles Kaufen und Verkaufen Gewinne „realisiert“ oder doch wenigstens Verluste vermieden werden. Der spekulierenden Marktseele, sowohl dem Kleinanleger und erst Recht dem Bankdirektor oder hilfsweise dessen Risikomanager, musste es naheliegend erscheinen, die Entscheidungen über Kaufen, Halten und Verkaufen in dem unüberschaubaren Geflecht der Finanzmärkte wie auch der Unübersichtlichkeit der Abhängigkeiten in den eigenen Portfolios, einer Software zu überantworten. Die war – zumindest in den Lobpreisungen ihrer Entwickler wie auch in den Hoffnungen ihrer User – nur noch mit Vorgaben zu füttern, bei welcher Kursentwicklung einzelner Kapitalanlagen zu kaufen oder zu verkaufen ist. Automatisch, weil auch von den besten Risikomanagern nicht mehr überschaubar, und vor allem blitzschnell, schneller als jeder aufgeregte Börsenbroker seine Order überhaupt aussprechen bzw. ausschreien kann.

Von den Fehlern, die solchen Programmen unterlaufen, sollte man sich nicht täuschen lassen: Einmal kommt in diesen Software-Entwicklungen der Konkurs nicht vor, der eigene sowieso nicht, und die Pleite anderer größerer Akteure oder gar des Systems kann schon per definitionem nicht eingeplant sein – siehe das automatisierte Hinterherwerfen von 320 Mio. € im September 2008 durch die KfW an die faktisch schon pleite gegangenen Lehman Brothers und auch Fehlentscheidungen wie die 150 Mrd. € schwere Verkaufstransaktion der Deutschen Bank1 vor einigen Tagen sind eher den Kinderschuhen zuzurechnen, in denen sich diese Entwicklungen noch befinden.

Dagegen zeichnet sich in diesem Trend offensichtlich eine Entwicklung ab, in der sich das „automatische Subjekt“ selbst widerspiegelt in den automatisierten Transaktionen der Finanzindustrie. So wie die tautologisch auf sich selbst bezogene Verwertung des Werts von Menschen in Gang gesetzt wurde, denen dieser Prozess verdinglicht und also fremd gegenüber tritt, starten nun Menschen den Versuch, vermittels automatisierter Verwertungsprozesse dem automatischen Subjekt nicht nur gerecht zu werden, sondern ihm quasi zuvorzukommen. Kennt schon die „Idealbewegung“ G-G´ keinen Umweg mehr über gesellschaftlich vermittelte Verwertungsprozesse und hat in ihnen der Mensch nur noch einen randständigen Platz als technologisch bedingtes Agens, so wird – der Tendenz nach – in den Software-Phantasien des automatisierten Risikomanagements auch dieser anthropologische Rest eliminiert. Mit der wachsenden Komplexität dieser Softwarelösungen verschwindet die immerhin auch einem immanent denkenden Verstand möglich sein sollende Einsicht, dass der Versuch, mit einer maschinellen, automatisierten Anlage- und Transaktionsstrategie dem Chaos der Finanzmärkte zu begegnen, dasselbe noch vergrößern wird, weil die degenerierten Reste sogenannter „unternehmerischer Vernunft“ in Zahlenreihen nicht auszudrücken sind.

Wird heute noch – allein durch die unterschiedliche Investitionskraft der Akteure der Finanzindustrie und den damit möglichen Entwicklungskapazitäten – eine technologische Differenz im Niveau der jeweiligen Software-Entwicklungen gleichsam zum Vorteil im „Produktions“niveau, aus dem sich zumindest zeitweilige Extra-Profite in der Verwertung des Werts generieren lassen, so ist – wenn dieser Trend sich fortsetzt – wie bei allen „Produktiv“kraftentwicklungen eine Angleichung des Niveaus der unterschiedlichen Software absehbar. Irgendwann könnten sich die großen Akteure der spekulativen Finanzmärkte in Form gleichgestrickter und gleich leistungsstarker Spekulationssoftware gegenüberstehen – und es ginge zu wie bei einer Schachmeisterschaft zwischen Großrechnern gleicher Art und identischer Software-Bestückung: Alle Partien enden in einem Patt oder mit einem Remis. Dem hilft man übrigens heute schon bei solcher Gelegenheit ab durch sogenanntes Randomizing, also das planmäßig unplanmäßige Begehen von Fehlern.

Um im Bild zu bleiben: Sollten sich die Spekulationsrechner der globalen Anleger dereinst in ihrem Zwecke gegenseitig blockieren, wäre das absichtsvolle unbeabsichtigte Begehen von Fehlern (natürlich automatisiert) die einzige Lösung, die substanzlose Vermehrung von Kapital aus sich selbst heraus wieder in Gang zu setzen. Das wäre dann der letzte Selbstbeweis der Idiotie eines Systems, das nur funktionieren kann, wenn es die eigenen Regeln verletzt. Wäre das wertdeformierte gesellschaftliche Bewusstsein kritischer Reflexion fähig, müsste das der letzte Auslöser werden, ein irrationales gesellschaftliches Verhältnis als solches zu erkennen und aufzuheben.

Vermutlich wird es nicht soweit kommen. Die mathematische Abbildung des automatischen Subjekts wird von Akteuren, die ihre gesellschaftlichen Verhältnisse nur ideologisch verkürzt wahrnehmen, kaum zur nötigen Perfektion geführt werden können. Und selbst die theoretische Mathematik wird sich schwer tun, den zwangsläufigen Spekulationsdrang in all seinen irrationalen Implikationen abzubilden. Die im Gange befindliche Entwicklung verweist aber heute schon auf ein Ineinanderfallen von in der Krise befindlichen Kategorien mit ihren konkreten Ausformungen. Die Gleichwerdung von Inhalt und Form aber delegitimiert und zerstört nicht nur den Begriff, sondern auch seinen konkreten Gegenstand.