Startseite Krise und Kritik der Warengesellschaft


erschienen im Neuen Deutschland
am 25.06.2010

Robert Kurz

WER LEBT ÜBER SEINE VERHÄLTNISSE?

Zuerst waren es die Finanzmärkte, denen man angesichts der Krise mangelnde Seriosität bescheinigte, dann die Staatsfinanzen. Wenn sie mit ihrem Latein am Ende sind, fallen den ohnmächtig gewordenen Mächtigen nur noch großmütterliche Weisheiten ein. Plötzlich ist die Rede von Schuldensünden allenthalben, als wäre das eine ganz neue Entdeckung. Wir hätten, so heißt es, über unsere Verhältnisse gelebt. Aber was bedeutet das? Würde es sich bloß um ein Fehlverhalten von Defizitsündern handeln, die gegen den „richtigen“ Kapitalismus verstoßen haben, dann müssten all diejenigen schlicht bankrott gehen, die ihre Schulden nicht mehr bedienen können. Bei Lehman Brothers war das der Fall. Aber die Konsequenzen erwiesen sich als derart verheerend, dass seither die fälligen Bankrotte mit abenteuerlichen Finanzaktionen verschleppt werden. Zuerst im Bankensystem, dann bei Großkonzernen wie General Motors, schließlich bei Staaten wie Griechenland. Gegen die Marktgesetze pumpen die Notenbanken immer mehr Liquidität in die Märkte. Die angekündigten Einsparungen sind demgegenüber nur ein Tropfen auf den heißen Stein.

Es gibt eine einfache Erklärung für diesen inneren Widerspruch der staatlichen Maßnahmen. Schon immer befinden sich Schuldner und Gläubiger in einem Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeit. Die Schulden der einen erscheinen als Guthaben der anderen. Dieses Verhältnis hat heute eine historisch beispiellose Dimension angenommen. Wie der Untergang von Lehman Brothers zeigte, droht jeder Großbankrott eine globale Kettenreaktion nach sich zu ziehen. Es gibt kein einfaches Verhältnis von Schuldnern und Gläubigern mehr, sondern die fiktiv gewordenen Guthaben dienen ihrererseits als Pseudo-Sicherheiten für die Kreditaufnahme. Alle Gläubiger sind auch Schuldner und umgekehrt. Der griechische Staatsbankrott musste verhindert werden, weil wichtige Großbanken auf den maroden Staatsanleihen in Höhe von dreistelligen Milliardenbeträgen sitzen. Dasselbe gilt für die faulen Kredite der Banken untereinander, der Produktionsunternehmen und der Privaten.

Was niemand wahrhaben will: Die materiellen Produktionskapazitäten sind über die gesellschaftliche Form der Kapitalverwertung hinausgewachsen. Deshalb greift auch das Argument zu kurz, dass wir es nun mit einer Sozialisierung der Verluste auf Kosten der Steuerzahler zu tun hätten. Das würde immer noch eine intakte reale Verwertung voraussetzen. Tatsächlich sind aber die Kreditblasen als Vorgriff auf eine imaginäre zukünftige Wertschöpfung zur fragilen Basis des gesamten Weltsystems geworden. Nimmt man die gesellschaftlichen Produktivkräfte als Maßstab, dann leben die meisten Menschen weit unter ihren Verhältnissen. Während nach internationalen Statistiken die globale Massenarmut weiter steigt, ist das Dasein der viel beschworenen Mittelschichten auch in den Schwellenländern vom aufgeblähten nationalen und transnationalen Kredit abhängig. Davon nährt sich beispielsweise der aktuell bejubelte Exportboom der Autoindustrie. Das Hinauszögern einer Marktbereinigung durch immer neue Bürgschaften und Umschuldungen ist nichts anderes als der Versuch, die Produktivkräfte weiterhin in die substanzlos gewordene Verwertungslogik einzubannen. Aber die Löcher im Finanzsystem werden nur gestopft, um neue aufzureißen. Die nächste Finanzkrise ist durch die aufschiebenden Maßnahmen selbst programmiert, egal wo sie ihren Ausgang nimmt. Es ist die kapitalistische Produktionsweise selbst, die längst über ihre eigenen Verhältnisse lebt.