Startseite Krise und Kritik der Warengesellschaft


erschienen im Neuen Deutschland
am 19.09.2011

Robert Kurz

ÖKONOMISCHES DOPING

Krisen kommen und gehen, der Kapitalismus aber bleibt bestehen. Davon sind liberale wie linke Theoretiker gleichermaßen überzeugt. Wie wird eine große ökonomische Krise überwunden? Durch die Entwertung von überschüssigem Kapital in allen seinen Formen (Produktionsmittel, Arbeitskraft, Waren, Geldkapital). Danach kann es angeblich immer wieder auf ein Neues gehen. Die VWL-Professoren nennen das „Anpassung“, die akademischen Linken „Bereinigung“. Seit dem Herbst 2009 hat es allgemein geheißen, die neue Weltwirtschaftskrise sei schon wieder ausgestanden. Aber die große Entwertung oder Bereinigung hat gar nicht stattgefunden. Stattdessen wurde „gerettet“ auf Teufel komm raus. Nach den eigenen Auffassungen der offiziellen Wirtschaftswissenschaft wie ihrer linken Kollegen würde das beweisen, dass der wirkliche Entwertungsschock erst noch kommen muss.

Vielleicht waren die Pragmatiker klüger als die Theoretiker, weil sie ahnten, dass nach der globalen Bereinigung nur noch ökonomisch verbrannte Erde übrig bleiben würde. Freilich schieben ihre Rettungsmaßnahmen das elementare Problem nur vor sich her und lassen es in immer größere Dimensionen wachsen. Seit mehr als 20 Jahren lebt die Weltwirtschaft hauptsächlich vom finanziellen Doping. Lange Zeit waren es die Finanzblasen, die Kaufkraft ohne reale Grundlage kreierten, dann seit der Jahrhundertwende die Notenbanken und Staatshaushalte. Die Mobilisierung von Arbeitskraft in China, Indien und Europa beruhte allein auf einseitigen Defizitkreisläufen. Letzten Endes sind die auf solche Weise angeschobenen Produktionsprozesse „ungültig“. Sie müssen mit der Entwertung aller ihrer Bestandteile enden. So werden zwar die Theoretiker recht behalten, aber daraus folgt keine neue Perspektive für die globale Kapitalverwertung.

Man kann von einer Paralyse der Wirtschaftstheorie und der Wirtschafts- bzw. Geldpolitik sprechen. Davon zeugen auch die heftigen Kontroversen in der ökonomischen Zunft und in den Regierungen. Die neoliberalen Hardliner wie der soeben zurückgetretene EZB-Chefvolkswirt Jürgen Stark wollen ein Ende mit Schrecken in Kauf nehmen, weil sie ihrer Ideologie mehr glauben als der Realität. Die Pragmatiker dagegen wollen das finanzpolitische Doping exzessiv ausdehnen, obwohl sie damit immer neuen Zündstoff für den unvermeidlichen Entwertungsschock anhäufen. Gegenwärtig laufen überall die staatlichen Konjunkturprogramme aus, und sofort sinken die Wachstumsraten mit beachtlichem Tempo - wie einem gedopten Läufer die Luft ausgeht, wenn er keinen Stoff mehr bekommt. Die nächste globale Rezession steht vor der Tür. In den USA will Präsident Obama schon ein neues Mega-Konjunkturpaket schnüren, ohne zu wissen, woher er das Geld dafür nehmen soll.

Man kann das kapitalistisch unlösbare Dilemma auch anders formulieren. Solange mit immer neuen Maßnahmen nur das durch und durch marode Finanzsystem gestützt wird, bleibt die Krise sozusagen in der Schwebe. Sobald sich aber substanzlose Geldschöpfung in reale Nachfrage verwandelt, marschiert die Geldentwertung, die sich noch in Grenzen hielt, solange nur der konjunkturelle Einbruch von 2009 überbrückt wurde. Trotzdem steht die in den Schwellenländern kaum noch zu bremsende Inflation auch in der EU vor der Tür; in Großbritannien hat sie bereits die Marke von 4,5 Prozent erreicht. Die EZB, die Sarkozy- und die Merkel-Regierung haben sich offenbar wie die britische Administration für die Inflationierung als vermeintlich kleineres Übel entschieden. Das führt zur politischen und ökonomischen Zerreißprobe. In Wirklichkeit ist es eine Systemfrage, aber das will niemand wahrhaben.