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erschienen im Neuen Deutschland
am 12.12.2011

Robert Kurz

KAPITALISMUS WIEDERHOLT SICH NICHT

Beim Lebensgefühl nennt man es Nostalgie: nämlich die Erinnerung an angeblich bessere Zeiten zum Beispiel des Wirtschaftswunders. In der Popkultur heißt es „Retro“: Wenn den Produzenten nichts mehr einfällt, wärmen sie alte Sachen leicht verändert wieder auf. Und beim „Tatort“ im Dritten muss man darauf achten, ob man ihn nicht vor ein paar Jahren schon mal gesehen hat. Nichts Neues unter der Sonne, so scheint die Devise zu lauten. Irgendwie hat sich der Glaube verbreitet, dass bloß in der Vergangenheit nachschlagen muss, wer ein Rezept für die Gegenwart finden will. Warum sonst suchen Politik, Medien und Wirtschaftswissenschaft in der Krisenentwicklung der letzten Jahre ständig nach historischen Parallelen? Wer die Zeitung aufschlägt, glaubt sich oft in eine Geschichtsstunde versetzt.

Halsbrecherische Finanzspekulationen, kleine und große Krisen, jede Menge Staatsbankrotte, sogar die eine oder andere gescheiterte Währungsunion - die Wirtschaftshistoriker der modernen Zeiten haben so ziemlich alles im Angebot. Und die Moral von der Geschicht? Alles schon mal da gewesen, das soll auch heißen: Alles halb so wild, alles bewältigbar auf dem Boden der herrschenden Tatsachen. Nicht nur der Wunsch ist hier der Vater des Gedankens, sondern auch ein bestimmtes Bild vom Kapitalismus als ewige Wiederkehr des Gleichen. Mal brummt die Konjunktur, mal kracht sie eben; es gibt Aufsteiger und Absteiger des Jahres oder des Jahrhunderts. Aber im Prinzip, so der Glaube, wird es immer so weiter gehen.

Das ist jedoch ein Irrtum. Wir haben es nicht mit einem statischen, sondern mit einem dynamischen System zu tun. Der Kapitalismus wiederholt sich nicht und dreht sich auch nicht im Kreis, weil er selber ein irreversibler historischer Prozess ist. Die Kapitalverwertung fängt nicht immer wieder bei Null an, sondern sie muss im gesellschaftlichen Maßstab ihr jeweils letztes Niveau übertreffen, wenn es weiter gehen soll. Der Grad der globalen ökonomischen Integration lässt sich nicht zurückdrehen, erst recht nicht die Entwicklung der Produktivkräfte. Dafür sorgt schon die universelle Konkurrenz.

Wenn sich aber die Globalisierung und die Produktivität immer höher entwickeln, warum sollen dann der Charakter, die Tiefe und die Reichweite der Krisen immer dieselben bleiben? Die gern erzählte Geschichte von der Tulpenzwiebel-Spekulation an der Amsterdamer Börse des 17. Jahrhunderts lehrt uns nichts über die Immobilienblase des Jahres 2008 und den Bankrott von Lehman Brothers. Um zu begreifen, dass ein Staatsbankrott im frühen 19. Jahrhundert etwas ganz anderes war als er es heute wäre, genügt ein Blick auf den Staatsanteil am Sozialprodukt. Die aktuelle Geschichtsstunde der Experten und medialen Kaffeesatz-Leser ist eine Geisterstunde.

Immer wieder hört man die Behauptung, aus den Krisen der Vergangenheit hätten Politik und Management so viel gelernt, dass heute genügend Instrumentarien und Werkzeuge für die Bewältigung bereit stünden. Die Diagnostiker streiten höchstens darüber, ob die Krise nun eine ist wie 1872 oder womöglich eine wie 1929 oder doch bloß eine wie 1973. Der Lernerfolg scheint ein geringer zu sein, wenn uns die Regierungen und Notenbanken tagtäglich beweisen, dass ihre wirtschafts- und geldpolitischen Konzepte ungefähr so hilfreich und kompetent sind wie der Werkzeugkoffer einer Dampflokomotive für die Notreparatur eines ICE. Wer so viel von der Zukunft redet wie die Eliten der Gegenwart, der sollte sich nicht allzu sehr auf die Systemrettungen der Vergangenheit verlassen. Im Gedächtnis der Menschheit firmieren die alten Rettungspakete und deren Folgen sowieso eher als Katastrophen.