Startseite Krise und Kritik der Warengesellschaft


erschienen im Neuen Deutschland
am 9.1.2012

Robert Kurz

ÖKONOMISCHE STERBEHILFE

In der Ideologie der Volkswirtschaftslehre ist Geld ein ausgeklügeltes Hilfsmittel, um die Gesellschaft optimal mit materiellen Gütern und sozialen Dienstleistungen zu versorgen; gerade deshalb soll es im eigentlichen ökonomischen Sinne unwesentlich und ein bloßer „Schleier“ über der realen Produktion und Verteilung sein. Marx dagegen hat gezeigt, dass Geld als Medium der Kapitalverwertung ein fetischistischer Selbstzweck ist, der die Befriedigung der konkreten Bedürfnisse unterjocht hat. Reale Güter werden nur produziert, wenn sie diesem Selbstzweck der Geldvermehrung dienen; andernfalls wird ihre Produktion stillgelegt, obwohl sie technisch möglich wäre und sogar lebenswichtige Bedürfnisse danach bestehen. Besonders deutlich wird das in Bereichen wie der Altersversorgung und des Gesundheitswesens, die selber keine Träger von Kapitalverwertung sind, sondern aus deren Löhnen und Gewinnen finanziert werden müssen. Rein sachlich wären genügend Ressourcen vorhanden, um eine Bevölkerung auch bei wachsendem Anteil von Nicht-Erwerbstätigen mit Lebensmitteln und medizinischer Betreuung zu versorgen. Aber unter dem Diktat des Geldfetischs wird diese sachliche Möglichkeit „unfinanzierbar“.

Altersversicherung und Krankenversicherung sind indirekt dem abstrakten Verwertungsdiktat untergeordnet. Unter erschwerten Finanzierungsbedingungen werden sie „ökonomisiert“. Das bedeutet, dass sie selber nach betriebswirtschaftlichen Kriterien agieren müssen, um an den Geldströmen teilhaben zu können. Sogar die medizinische Diagnose wird dabei zur Ware, die unter Konkurrenzdruck steht. Nicht Gesundheit und Wohlbefinden der Menschen sind das Ziel, sondern das Doping zur „Leistungsfähigkeit“ einerseits und die Verwaltung der Krankheiten andererseits. Der ideale Mensch im Sinne der herrschenden Institutionen wäre ein Olympiakämpfer am Arbeitsplatz (um das Sozialprodukt zu steigern), der gleichzeitig als chronisch krank definiert werden kann (um die Kassen des Gesundheitswesens zu füllen), und der pünktlich mit Eintritt ins Rentenalter freiwillig den Löffel abgibt (um dem Kapitalismus nicht zur Last zu fallen).

Dieser famosen Rechnung hat die medizinische Wissenschaft selber einen Strich durch die Rechnung gemacht. Sie war sachlich so erfolgreich, dass immer mehr Menschen weit über das Erwerbsalter hinaus leben. Das ist ein besonders deutliches Beispiel dafür, dass die von der Konkurrenz erzwungene Produktivkraftentwicklung nicht mehr mit der kapitalistischen Logik vereinbar ist. Der „stumme Zwang der Verhältnisse“ (Marx) erzeugt daher eine Tendenz, die sachlichen medizinischen Errungenschaften irgendwie zunichte zu machen. Präventiv wirkt die Erzeugung künstlicher Armut. So ist in der BRD die Lebenserwartung von Geringverdienern seit 2001 von 77,5 auf 75,5 Jahre gesunken. Wer trotz Vollzeitarbeit mit Leistungshetze nicht einmal genug Geld für das Existenzminimum verdient, ist im Alter so ausgelaugt, dass er die medizinischen Möglichkeiten gar nicht mehr ausschöpfen kann. Aber auch die medizinische Versorgung selbst wird zunehmend zurückgefahren nach Maßgabe der Zahlungsfähigkeit. Weil die griechischen Krankenhäuser faktisch bankrott sind, haben die Pharmakonzerne die Lieferung von Medikamenten gegen Krebs, Aids und Hepatitis eingestellt; auch die Versorgung mit Insulin wurde unterbrochen. Das ist kein Sonderfall, sondern das Bild der Zukunft. Zumindest den armen und „überflüssigen“, nicht mehr kapitalistisch verwendungsfähigen Kranken wird in aller Sachverständigkeit signalisiert werden, was einst der Preußenkönig Friedrich seinen vom Schlachtfeld fliehenden Soldaten zugebrüllt hat: „Hunde, wollt ihr ewig leben?"