Robert Kurz
Die Unselbständigkeit
des Staates und die Grenzen der Politik
Vier Thesen zur Krise der politischen Regulation
1. Markt und Staat, Ökonomie und Politik als Pole desselben historischen
Feldes
In der Geschichte der modernen Welt trafen immer wieder zwei Prinzipien mehr
oder weniger feindselig aufeinander: Markt und Staat, Ökonomie und Politik,
Kapitalismus und Sozialismus. Stets erneuerte sich der Streit zwischen dem "homo
oeconomicus" und dem "homo politicus"; in jedem Schub der Modernisierung,
in jeder Krise traten "Individualisten" und "Kollektivisten",
freie Unternehmer und Planökonomen, betriebswirtschaftliche Manager und
Staatsbürokraten, Wirtschaftsliberale und Interventionisten, Freihändler
und Protektionisten zum Gefecht gegeneinander an. In den letzten Jahrzehnten
hat sich diese Konstellation auch als wirtschaftspolitischer Gegensatz von Monetaristen
und Keynesianern dargestellt.
Beide Seiten können auf Erfolge ebenso wie auf Mißerfolge zurückblicken.
Aber wie soll es weitergehen? Wir stehen heute nicht nur am Ende eines Jahrhunderts
und eines Jahrtausends, sondern vielleicht auch am Ende der bisher gewohnten
Konstellationen und Gegensätze, am Ende der Moderne, und möglicherweise
sogar am Ende der Wirtschaftspolitik. Zumindest scheint überall das Gefühl
vorzuherrschen, daß wir es nicht bloß mit einem außergewöhnlichen
Kalenderdatum zu tun haben, nämlich mit dem Ende eines Milleniums und den
dabei auftretenden irrationalen Ängsten, sondern wirklich mit einem tiefen
"Epochenbruch" und mit einer säkularen Krise der Weltgesellschaft.
Der Zusammenbruch des sowjetischen, staatsökonomischen Modells verführte
die Theoretiker und Analytiker freilich zunächst zu der Meinung, daß
der alte strukturelle Konflikt nun für immer entschieden sei. Das westliche,
wirtschaftsliberale, individualistische, unternehmerische und marktorientierte
Paradigma habe den absoluten historischen Sieg davongetragen. Die globale Wirklichkeit
spricht jedoch eine andere Sprache. Die marktwirtschaftliche Transformation
der ehemaligen Staatsökonomien ist im großen und ganzen vorerst gescheitert.
Stattdessen hat die große Strukturkrise inzwischen auch die westlichen
Metropolen selbst erreicht. Und das Verschwinden der ewigen Alternative, des
anderen ideologischen Pols der Modernisierung, hat nicht zur Befriedung im Zeichen
der warenförmigen Individualisierung und des totalen Marktes geführt.
Die kapitalistische Lebensweise ist zu einseitig, der Markt ist zu desintegrativ
und die westliche Ideologie ist zu schwach, als daß dieses System ohne
Gegenpol existenzfähig wäre. Deshalb konnte das westliche, marktwirtschaftliche
Paradigma auch das von der Staatsökonomie und Staatsideologie hinterlassene
Vakuum nicht ausfüllen. Stattdessen strömten der pseudoreligiöse
und der ethnische Fundamentalismus in den Raum der verlorenen Alternative ein:
weitaus gefährlicher und unberechenbarer, als es der Staatssozialismus
jemals gewesen war. Der Fundamentalismus ist die gerechte Strafe für die
Hybris der Marktwirtschaft ebenso wie für das Versagen des Sozialismus
bzw. des staatlichen, planwirtschaftlichen, kollektivistischen Pols der Modernisierung.
Im Rückblick zeigt sich überhaupt, daß Sozialismus und Staatsökonomie
keineswegs bloß äußerliche Gegenkräfte der westlichen
Marktwirtschaft waren. Wie die beiden Pole eines Magnetfeldes oder einer elektrischen
Batterie einander nicht bloß ausschließen, sondern auch gegenseitig
bedingen und somit komplementär sind, so verhält es sich auch bei
den antipodischen Positionen der Modernisierung. Markt und Staat, Geld und Macht,
Ökonomie und Politik, Kapitalismus und Sozialismus sind in Wahrheit keine
Alternativen, sondern die beiden Pole ein- und desselben historischen "Feldes"
der Moderne. Dasselbe gilt für Kapital und Arbeit. So feindlich die beiden
Pole auch sein mögen, sie können ihrer Natur nach nicht für sich
allein existieren, solange das historische "Feld" existiert, das sie
in ihrer Gegensätzlichkeit konstituiert hat. Dieses "Feld" als
ganzes ist das warenproduzierende System der Moderne, die totalisierte Warenform,
die unaufhörliche Verwandlung von abstrakter Arbeit in Geld, und damit
prozeßhaft die "Inwertsetzung" oder abstrakte Ökonomisierung
der Welt.
Es ist leicht einzusehen, daß in diesem System stets die beiden Pole von
Kapital und Arbeit, Markt und Staat, Kapitalismus und Sozialismus usw. existieren
müssen, in welcher historischen Verkleidung und mit welcher unterschiedlichen
Gewichtung der beiden Pole auch immer. Die totale Staatsökonomie sowjetischer
Prägung und der totale Wirtschaftsliberalismus (in der Doktrin etwa eines
Friedrich August v. Hayek oder eines Milton Friedman) bilden nur die Extreme
eines ganzen Spektrums von Ideologien, Wirtschaftspolitiken und politisch-ökonomischen
Reproduktionsformen, die sich allesamt gleichermaßen auf dasselbe Bezugssystem,
d.h. auf die totale Warenform der Gesellschaft beziehen. Das bedeutet, daß
auch die extremste Staatsplanung immer nur "in" den Formen des Marktes,
d.h. in Waren- und Geldkategorien planen kann, wie es bekanntlich in der Sowjetökonomie
stets der Fall war. Umgekehrt kommt aber auch der extremste Marktradikalismus
niemals ohne den staatlich-politischen Pol aus. Im Gegenteil, es gibt in jeder
Marktwirtschaft ein "Gesetz der wachsenden Staatsquote und der wachsenden
Staatstätigkeit", wie es der Ökonom Adolph Wagner bereits 1863
erstmals formuliert hatte. Im wesentlichen ist diese Theorie seither durch die
reale strukturelle Entwicklung bestätigt worden. Neoliberale Ideologen
sehen darin den "sozialistischen Sündenfall" innerhalb des Kapitalismus.
Das ist zwar insofern unsinnig, als es sich nicht um einen "Sündenfall",
sondern um eine systembedingte Strukturentwicklung handelt. Aber richtig ist,
daß es immer schon den Sozialismus in der Marktwirtschaft und die Marktwirtschaft
im Sozialismus gab, wenn man Sozialismus als mehr oder weniger starkes staatsökonomisches
Moment versteht (insofern ist der Begriff des "Staatssozialismus"
auch für die Sowjetökonomie völlig zutreffend, die sich trotz
der marxistischen ideologischen Legitimation theoretisch viel mehr mit Lassalle,
Rodbertus und Wagner als mit Marx begründen läßt).
Die "Konvergenztheorien" seit den 50er Jahren haben dieses Problem
durchaus reflektiert und daraus auf eine allmähliche Angleichung der beiden
Systemblöcke geschlossen. Und nachdem sich inzwischen die neoliberale Euphorie
seit 1989 ein wenig gelegt hat, gibt es auch jetzt wieder Stimmen, die vor einer
einseitigen Marktradikalisierung warnen. Es komme vielmehr, so wird gesagt,
auf die "richtige Mischung" von Markt und Staat an. So erleben wir
das merkwürdige Schauspiel, daß in demselben Maße, wie die
Sozialisten und Keynesianer mehr oder weniger zu Neoliberalen und Monetaristen
geworden sind, die Monetaristen und Neoliberalen ihrerseits allmählich
mehr oder weniger zu Keynesianern werden. Sogar in den USA gibt es neuerdings
eine von den Ökonomen Paul Romer (Berkely) und Richard Freeman (Harvard)
repräsentierte Strömung, die in den vom radikalen Neoliberalismus
verursachten zu starken Einkommensunterschieden eine Gefahr für das Wachstum
sieht und eine gewisse ausgleichende Staatsintervention fordert. Ebenso sehen
sich die neoliberalen Regierungen in Chile und Mexiko gezwungen, alarmiert u.a.
durch den Aufstand in Chiapas und durch den gefährlichen sozialen Verfall,
mit dem Programm einer sozialen Staatsintervention gegenzusteuern. Dasselbe
gilt für die marktwirtschaftlichen Reformer in Osteuropa und in der ehemaligen
Sowjetunion. Auch die Weltbank hat unter dem Eindruck der Krise damit begonnen,
ihre radikal marktwirtschaftlichen Programme zumindest kosmetisch durch soziale
und ökologische "Auffangprogramme" zu ergänzen, die nicht
ohne Staatseingriffe möglich sind.
Kommt also nach dem einseitigen Sozialismus bzw. Keynesianismus und nach dem
ebenso einseitigen marktradikalen Neoliberalismus nun endlich doch noch die
übergreifende Konvergenz, der "mittlere Weg" von Theorie und
Praxis? Die Frage ist allerdings, ob dieses ziemlich schwache Paradigma ausreicht,
um die große säkulare Strukturkrise bewältigen zu können.
Es ist zweifelhaft, ob jemals eine "richtige Mischung" von Markt und
Staat für eine einigermaßen ausgeglichene Systementwicklung möglich
sein wird. Genausogut ist es möglich, daß in Wahrheit das gemeinsame
historische "Feld" der beiden Pole von Markt und Staat bzw. Ökonomie
und Politik, nämlich die gemeinsame Bezugsform des modernen warenproduzierenden
Systems, an absolute Grenzen stößt. Dann aber würden sich ganz
andere und viel grundsätzlichere Fragen stellen, die mit keinem der bisherigen
Instrumentarien mehr bearbeitbar sind, auch nicht durch ein eklektisches Zusammenwerfen
der bisher einander ausschließenden Therapien.
2. Die ökonomischen Funktionen des modernen Staates
Warum hat sich die Staatstätigkeit auch in den offenen Marktwirtschaften
des Westens säkular ausgedehnt, trotz gegenteiliger offizieller Ideologien?
Im wesentlichen lassen sich fünf Ebenen oder Sektoren der modernen Staatstätigkeit
feststellen, die allesamt aus dem marktwirtschaftlichen Prozeß selbst
resultieren. Mit anderen Worten: je stärker sich die Marktwirtschaft strukturell
ausdehnte, die gesamte gesellschaftliche Reproduktion ergriff und zur allgemeinen
Lebensweise wurde, desto stärker mußte auch die Staatstätigkeit
ausgedehnt werden. Es handelt sich also um ein unausweichliches reziprokes Verhältnis.
Die erste Ebene ist die juridische, d.h. der Prozeß der "Verrechtlichung".
Je mehr sich die Marktwirtschaft und damit die abstrakte Geldbeziehung ausdehnt,
desto geringer wird die bindende Kraft der traditionellen, vormodernen Beziehungsformen,
und desto mehr müssen alle sozialen Handlungen und Beziehungen in die abstrakte
Rechtsform gebracht und also juristisch codiert werden. Alle Menschen ohne Ausnahme,
auch die unmittelbaren Produzenten, müssen zunehmend als moderne Rechtssubjekte
agieren, weil sich alle Beziehungen in warenförmige Vertragsbeziehungen
verwandeln. Der Staat wird daher zur permanenten Gesetzgebungsmaschine, und
je mehr Waren- und Geldbeziehungen es gibt, desto mehr Gesetze bzw. Ausführungsbestimmungen
gibt es. Demzufolge vergrößert sich auch der staatliche Verwaltungsapparat
sukzessive, denn die Verrechtlichung muß ja auch kontrolliert und exekutiert
werden. Das aber ist keineswegs ein völlig "außerökonomischer"
Vorgang, denn der stetig wachsende Verwaltungsapparat muß finanziert
werden. Schon allein die wachsende Verrechtlichung zieht also einen ebenso permanent
wachsenden Finanzbedarf des Staates nach sich. Auch die rein rechtliche Regulation
ist nicht kostenneutral.
Die zweite Ebene der wachsenden Staatstätigkeit sind die sozialen und ökologischen
Folgeprobleme des marktwirtschaftlichen Systems. Durch die Modernisierung wurden
nicht nur die traditionellen Bindungen aufgelöst, sondern gleichzeitig
die damit verbundenen Sozial- und Generationenverträge. An die Stelle lokaler,
persönlicher, familialer und naturaler Sozialsysteme für Kindererziehung,
Krankheits- und Pflegefälle sowie für die Sicherung des Lebensunterhalts
im Alter mußten zunehmend nationale, unpersönliche, öffentliche
und waren- bzw. geldförmige Sozialsysteme treten. Nicht der Markt, sondern
nur der Staat konnte diese Aufgabe übernehmen; denn die Marktwirtschaft
als solche hat kein Sensorium und kein Organ für Etappen des menschlichen
Lebens, die aus dem unaufhörlichen Prozeß der Verwandlung von Arbeit
in Geld herausfallen bzw. darin ihrer Natur nach nicht aufgehen können.
Je nach Entwicklungsstand, Geschichte und Weltmarktfähigkeit ist diese
Staatstätigkeit natürlich von Land zu Land sehr verschieden und mehr
oder weniger ausgeprägt geregelt, aber ihre säkulare Ausdehnung im
Gefolge der Ausdehnung von Marktbeziehungen ist unbestritten.
Dasselbe gilt für die sozialen Probleme, wie sie aus den Wechsellagen und
Zyklen der Marktwirtschaft folgen. Modernisierung ist ja nicht der Übergang
aus einem fixierten Zustand in einen anderen fixierten Zustand, sondern der
Übergang aus einer statischen in eine dynamische Form von Gesellschaft.
Modernisierung ist also ein permanenter Veränderungsprozeß, der die
gesamte Reproduktionsstruktur immer wieder durcheinanderwirbelt. Sowohl der
Konjunkturzyklus als auch die "schöpferische Zerstörung"
von ganzen Sektoren, wie Joseph Schumpeter die periodischen Strukturbrüche
etwas euphemistisch nannte, erzeugen immer wieder das Problem der Massenarbeitslosigkeit.
Nicht nur die Lebenslagen von Kindheit, Krankheit und Alter müssen also
in einer durchmonetarisierten und verrechtlichten Welt ganz oder teilweise durch
Staatstätigkeit reproduziert werden, sondern auch der "lag" zwischen
Markt- und Konkurrenzprozessen einerseits und menschlicher Anpassungsfähigkeit
andererseits. Die Veränderung von Qualifikation und Wohnort oder die Entstehung
neuer an Stelle alter Industrien usw. sind Faktoren, die sich langsamer entwickeln
als die "Freisetzung" von Arbeitskraft durch Rationalisierung, Rezession
und Stillegung. Auch das soziale Problem der Arbeitslosigkeit kann daher letzten
Endes nur durch Staatseingriffe einigermaßen reguliert werden. Die sozialen
Folgeprozesse der Modernisierung bringen ebenso wie der Prozeß der Verrechtlichung
zusätzliche Staatstätigkeiten und damit erst recht einen steigenden
staatlichen Finanzbedarf mit sich.
In den letzten Jahrzehnten sind zu den sozialen die ökologischen Folgeprobleme
der Modernisierung hinzugekommen. Auch dafür sind die Organe und Sensorien
des Marktes völlig unzureichend. Das Geld ist seiner Natur nach abstrakt
und gleichgültig gegen den sinnlichen Inhalt, und die betriebswirtschaftliche
Rationalität abstrakter Kostenminimierung "externalisiert" ständig
nicht nur soziale, sondern auch ökologische Kosten. Dies umso mehr, als
die Natur ihrem Wesen nach kein Rechtssubjekt sein kann und schon deswegen als
Schuttabladeplatz der Systemkosten mißbraucht wird. Schwierigkeiten macht
auch die marktförmige Positionierung von allgemeinen Naturgrundlagen. Luft,
Gewässer (Grundwasser, Flüsse, Ozeane) und Klima lassen sich nicht
den ökonomischen Knappheitsrelationen unterwerfen und in Marktpreisen darstellen,
um nur der zahlungskräftigen Nachfrage zugänglich zu sein. Die Naturgrundlagen
der Welt sind letzten Endes entweder für alle gut oder für alle unerträglich.
Ferner sind die ökologischen Zerstörungsprozesse langfristiger Natur
und erstrecken sich über mehrere Generationen hinweg, während der
Zeithorizont des Marktes immer nur kurzfristig ist. Und schließlich läßt
sich die betriebswirtschaftliche Externalisierung ökologischer Kosten nur
schwer durch Steuern oder andere Auflagen wieder internalisieren, weil die globale
Konkurrenz die nationalstaatlich beschränkte Besteuerung immer wieder ad
absurdum führt. Auch die ökologischen Folgekosten muß also letzten
Endes der Staat tragen und dafür besondere Institutionen schaffen, wodurch
sich abermals sein Aufgabenbereich ebenso wie sein Finanzbedarf ausdehnt.
Die dritte Ebene der wachsenden Staatstätigkeit sind die infrastrukturellen
Aggregate: Straßenbau und Teile des Verkehrswesens, der Energieversorgung
und der Kommunikation, Ausbildung und Erziehung (Schulen, Universitäten),
Wissenschafts-Institutionen, Kanalisation und Müll-Entsorgung, Gesundheitswesen
usw. All diese infrastrukturellen Bereiche haben sich mit zunehmender Industrialisierung
und Verwissenschaftlichung der Produktion als praktische Notwendigkeiten einer
totalen Warenproduktion herausgebildet. Diese Aggregate sind jedoch selber keine
marktförmige Warenproduktion, sondern vielmehr infrastrukturelle Voraussetzungen
einer industriellen, verwissenschaftlichten Warenproduktion. Es handelt sich
um allgemeine, gesamtgesellschaftliche Inputs, die in die betriebswirtschaftliche
Produktion eingehen, ohne selber in ausreichendem Maße durch betriebswirtschaftliche
Rationalität darstellbar zu sein (hier verhält es sich ähnlich
wie bei den allgemeinen Naturgrundlagen). Auch die infrastrukturellen Aggregate
werden daher nicht zufällig überall größtenteils vom Staat
betrieben (oder subventioniert), und damit hat sich ein weiteres riesiges Feld
gesellschaftlicher Reproduktion erschlossen, das Staatstätigkeit und Staatsfinanzen
aufbläht.
Die vierte Ebene der Staatstätigkeit bzw. Staatsökonomie ist das direkte
Auftreten des Staates als betriebswirtschaftlicher Warenproduzent, d.h. als
Betreiber von Produktion für den Markt. Der Staat als Unternehmer oder
sogar, in der staatssozialistischen Extremform, als "reeller Gesamtunternehmer"
ist zwar eigentlich eine Paradoxie, da auf diese Weise der staatlich-politische
Pol das gesamte "Feld" des warenproduzierenden Systems zu usurpieren
sucht und seinen systemischen Gegenpol negiert, ohne andererseits das System
als solches aufzuheben. Diese Paradoxie ist letztlich systemzerstörend;
sie kann aber auch nicht vom "Idealstandpunkt" des Systems aus kritisiert
werden, weil sie aus den realen Systemwidersprüchen selbst hervorgegangen
ist und weiter hervorgeht. Der Staat als Unternehmer findet sich vor allem in
den Gesellschaften "nachholender Modernisierung", also bei den historischen
Späteinsteigern in das moderne warenproduzierende System. Das ist kein
Zufall, denn in vielen Ländern konnte nur die Staatsmaschine durch zentralisierte
Akkumulation der "abstrakten Arbeit" (Marx) den Versuch eines Anschlusses
an die entwickelten Länder in Gang bringen. Aber auch in den älteren
Nationen der Moderne finden sich je nach ihrer besonderen Geschichte mehr oder
weniger starke Spuren des Staates als industrieller Unternehmer, so vor allem
in Frankreich (z.B. Renault) und in Italien mit ihren immer noch gewaltigen
industriellen Staatskomplexen.
Trotz der allgemeinen und vorherrschenden Privatisierungsideologie ist die staatliche
Unternehmertätigkeit seit 1989 im Weltmaßstab nur gering zurückgegangen.
Allen Privatisierungsprojekten zum Trotz befinden sich selbst in den Reformstaaten
Ostmitteleuropas (Polen, Ungarn, Tschechien) noch wesentliche industrielle Kerne
in Staatsbesitz. Erst recht gilt dies für das übrige Osteuropa, für
die Regionen der ehemaligen Sowjetunion, für die VR China und Indien. Auch
in Lateinamerika ist bei näherem Hinsehen die Privatisierung der Staatsunternehmen
nur teilweise gelungen. Und selbst in Westeuropa gibt es Probleme und Widerstände,
die eine vollständige Privatisierung der Staatsunternehmen als unwahrscheinlich
erscheinen lassen. Soweit die Staatsunternehmen Profite machen, entlasten sie
natürlich die Staatsfinanzen; selbst dann wird freilich ein Teil dieser
Gewinne durch die (oft aufgeblähte) Verwaltung und Kontrolle der Staatsbetriebe
wieder aufgefressen. In den meisten Fällen aber handelt es sich sowieso
eher um unrentable Verlustunternehmen, die aus politischen Gründen durchgeschleppt
werden müssen. Allgemein gilt dabei das Prinzip: "Sozialisierung (Verstaatlichung)
der Verluste, Privatisierung der Gewinne". Privatisiert werden also in
der Regel nur die wenigen profitablen Staatsbetriebe, während der Staat
auf dem Gros der unrentablen Staatsunternehmen sitzenbleibt, die finanziell
zum "Faß ohne Boden" werden.
Die fünfte und letzte Ebene der Staatsökonomie sind die Subventionspolitik
und der Protektionismus. Selbst wenn der Staat nicht direkt als Unternehmer
auftritt, kann er doch indirekt den Marktprozeß der Warenproduktion über
die rein rechtliche Regulation hinaus beeinflussen, indem er formell private
Betriebe durch Subventionen über Wasser hält und/oder die Unternehmen
auf seinem Staatsgebiet durch protektionistische Maßnahmen vor ausländischer
Konkurrenz schützt. Auch in dieser Hinsicht war der Staatssozialismus mit
seiner Subventionspolitik und seinem Außenhandelsmonopol nur der Sonder-
und Extremfall einer allgemeinen Tendenz, die auch in den westlich-kapitalistischen
Ländern des warenproduzierenden Systems große Ausmaße angenommen
hat.
Von der Kontinentalsperre Napoleons bis zur berüchtigten "Strafliste"
der USA finden sich durchgehend auch im Westen alle nur denkbaren Formen dieser
indirekten staatlichen Unternehmertätigkeit bzw. "Marktverfälschung".
Von sämtlichen "alten" Industriestaaten des Westens werden heute
die Montan-Industrien und der Schiffbau massiv subventioniert. Und die bis zur
Absurdität getriebene gigantische Agrarbürokratie der Europäischen
Gemeinschaft (EU) übertrifft bekanntlich sogar noch den untergegangenen
Staatssozialismus. Auch wenn die Globalisierung der Märkte heute jede nationale
Autarkie und sogar jede "Blockautarkie" (etwa auf der Ebene der "Triade"
von USA, EU und Japan) praktisch unmöglich gemacht hat, so geht doch innerhalb
des GATT bzw. der WTO der "Weltwirtschaftskrieg" (Edward N. Luttwak)
erst recht weiter. Je mehr die Staaten zu "Geiseln" der multinationalen
Ökonomie werden, je mehr die "Standortfrage" ihnen zusetzt, desto
stärker statt schwächer wird ihre Neigung, sich in diesem Systemwiderspruch
von globalisierter Ökonomie einerseits und nationalstaatlicher Reproduktion
andererseits mit allen versteckten Tricks von Subventionismus und Protektionismus
zu behaupten. Daß dieser globale Standortkrieg für den Staat erst
recht ein ungeheurer Kostenfresser ist, versteht sich von selbst.
Insgesamt läßt sich also sagen, daß die Verifizierung des Gesetzes
von Adolph Wagner seit mehr als 100 Jahren gute Gründe hat, die auch durch
den gegenwärtigen Neoliberalismus nicht aus der Welt geschafft werden können.
Es handelt sich dabei um den inneren Widerspruch des modernen warenproduzierenden
Systems selbst, der sich auf immer höherer Stufenleiter reproduziert: je
totaler der Markt, desto totaler der Staat; je mehr Waren- und Geldwirtschaft,
desto mehr Vorauskosten, Nebenkosten und Folgekosten des Systems und also auch
desto mehr Staatstätigkeit und desto größer der staatliche Finanzbedarf.
In allen Ländern liegt die Staatsquote heute durchschnittlich bei ungefähr
50 Prozent des Sozialprodukts, und überall ist mehr als die Hälfte
der Bevölkerung direkt oder indirekt von der Staatsökonomie abhängig.
3. Die strukturelle Unselbständigkeit des staatlich-politischen Subsystems
und die Illusion vom Primat der Politik
Die polare, dualistische Struktur des modernen gesellschaftlichen Systems verführt
immer wieder dazu, eine Gleichrangigkeit der beiden Pole von Markt und Staat
bzw. Ökonomie und Politik anzunehmen. Aber obwohl beide Pole des "Feldes"
nicht für sich allein existieren können und jeweils den anderen Pol
voraussetzen, sind sie dennoch nicht gleichrangig. Vielmehr existiert ein strukturelles
Übergewicht des ökonomischen Pols, das zwar zeitweilig zugunsten des
staatlich-politischen Pols als aufgehoben erscheinen mag, sich jedoch immer
wieder neu herstellt. Diese Auffassung einer grundsätzlichen Strukturdominanz
des Marktes bzw. der Ökonomie gegenüber dem Staat bzw. der Politik
wird oft als "Ökonomismus" denunziert. Es handelt sich aber keineswegs
um einen theoretischen Fehler, sondern um eine realgesellschaftliche Vorherrschaft
des Marktes über den staatlich-politischen Pol.
Die Evidenz dieser Vorherrschaft des Marktes läßt sich an einer fundamentalen
Tatsache aufzeigen: der Staat besitzt kein eigenes primäres Medium
der Regulation, sondern er ist auf das Medium des Marktes angewiesen, d.h. auf
das Geld. Das Medium "Macht", das dem Staat zuerkannt und theoretisch
meistens dem Geld gleichgesetzt wird, besitzt jedoch keinen primären, sondern
nur sekundären Rang. Denn alle Maßnahmen des Staates müssen
finanziert werden, nicht nur die juristischen, infrastrukturellen Tätigkeiten
usw., sondern auch die Macht im unmittelbarsten Sinne des Wortes, d.h. die bewaffneten
Formationen. Insofern ist nicht einmal das Militär ein wirklich "außerökonomischer
Faktor", denn über das Finanzierungsproblem ist es ebenfalls dem Medium
des Marktes unterworfen.
Das Geld ist also das allgemeine und totale Medium (gleichzeitig der ebenso
abstrakte wie absurde Selbstzweck der Moderne), das auch den staatlich-politischen
Pol umschließt. Der Staat besitzt jedoch keine eigene Geldschöpfungspotenz,
sondern er ist strukturell darauf angewiesen, daß die bürgerliche
Gesellschaft "am Markt" genügend Geld verdient, sodaß auch
die wachsende Staatstätigkeit finanziert werden kann. Nur im blinden Marktprozeß,
der sich außerdem immer weniger auf das jeweilige Staatsgebiet bzw. auf
die "Nationalökonomie" des jeweiligen Staates beschränken
läßt (Globalisierung), "entsteht" das Geld durch die abstrakte
Arbeit und deren "Realisation". Damit ist jedoch nicht nur die fundamentale
Strukturdominanz des Marktes gegeben, sondern auch ein ebenso fundamentaler
innerer Systemwiderspruch. Denn der Staat gerät mit sich selbst in Widerspruch,
indem seine Maßnahmen und Tätigkeiten einerseits keinen anderen Zweck
haben, als das Marktsystem der Warenproduktion auf seinem Territorium zu fördern
und am Laufen zu halten; andererseits muß er jedoch das für die Finanzierung
eben dieser Tätigkeiten notwendige Geld aus dem Marktprozeß "abschöpfen",
die Marktwirtschaft dadurch einschränken und also gerade dadurch, daß
er seinen Zweck erfüllt, seinem Zweck gleichzeitig zuwiderhandeln.
Die Paradoxie dieser Struktur trat historisch immer deutlicher zutage, je mehr
das warenproduzierende System die gesamte gesellschaftliche Reproduktion ergriff.
Die einzige "reguläre" Staatsfinanzierung ist die Besteuerung
von Einkommen aus dem direkten Marktprozeß (gleichgültig, ob in Form
direkter oder indirekter Steuern). Wenn aber die Vorauskosten, Nebenwirkungen
und Folgeprobleme der Warenproduktion und damit die notwendigen Staatstätigkeiten
stärker ansteigen als die Einkommen aus dem Marktprozeß, dann droht
die Ausdehnung der Staatsfinanzen auf dem regulären Weg der Besteuerung
den weiteren Marktprozeß nicht bloß einzuschränken, sondern
zu ersticken. Wenn nämlich der Staat das "Futter" für die
monetäre Milchkuh Markt nur noch dadurch beschaffen könnte, daß
er die Kuh schlachtet, dann wird offenbar eine Systemgrenze sichtbar.
Im 1. Weltkrieg trat dieses Problem erstmals im großen Maßstab auf,
als klar wurde, daß die moderne technologische Kriegführung mit regulären
Steuermitteln nicht mehr zu finanzieren ist. In periodischen Abständen
wird seither die "Finanzkrise des Steuerstaats" diskutiert.
Rudolf Goldscheid und Joseph Schumpeter haben dieses grundsätzliche strukturelle
Krisenproblem 1917/18 im Anschluß an die Kriegswirtschaft des Ersten Weltkriegs
theoretisch aufgeworfen, und seither sind die Auseinandersetzungen darüber
das ganze 20. Jahrhundert hindurch nicht mehr verstummt. Keineswegs zufällig
wurde das Finanzproblem des "Staatskapitalismus" bzw. der "permanenten
Kriegswirtschaft" vor allem im Flaggschiff des marktwirtschaftlichen Westens,
in den USA, immer wieder zum großen Thema und Politikum; und keineswegs
zufällig stets in fast derselben Problemformulierung wie bei Goldscheid
und Schumpeter (so bei James O'Connor 1973).
Wenn das Mittel der regulären Besteuerung versagt, dann muß der Staat
zu einem zweiten Mittel übergehen, dessen grundsätzlich unsolider
Charakter allmählich in Vergessenheit geraten ist: nämlich zur Verschuldung
bei den Marktteilnehmern seiner Nationalökonomie. Der Staat finanziert
sich also nicht mehr bloß aus den Steuern, die er als Souverän kraft
seines Hohheitsanspruchs und Gewaltmonopols eintreibt, sondern er leiht sich
bei seinen Bürgern Geld als ganz gewöhnlicher Teilnehmer am Finanzmarkt.
Heute wird dieser Vorgang nicht mehr als grundsätzlich unsolide angesehen;
man streitet nur noch darüber, bis zu welcher Höhe des Sozialprodukts
der Staat sich verschulden darf, um noch als solvent gelten zu können.
Es gibt aber dennoch einen Grund, der die Staatsverschuldung prinzipiell als
prekär und krisenträchtig erscheinen läßt. Denn das Kreditsystem
ist seinem Wesen nach überhaupt nicht auf die Finanzierung der Staatsaufgaben
zugeschnitten. Die Spargelder der Gesellschaft werden vielmehr im Bankensystem
als Geldkapital konzentriert, um gegen Zins an Produktivkapital verliehen zu
werden. In einer kapitalistischen Gesellschaft wird auf diese Weise auch dasjenige
Geld für den Verwertungs- und Akkumulationsprozeß mobilisiert, das
von seinen Eigentümern selber nicht für diesen Zweck verwendet werden
kann. Wird das verliehende Geld aber für Konsum statt für produktive
Verwertung verwendet oder mißlingt die produktive Verwertung, dann verfehlt
es seinen Zweck und der Kredit wird früher oder später "faul".
Geschieht dies in großem Maßstab, dann haben wir es mit einer kommerziellen
Kreditkrise und schließlich mit einer Krise des Bankensystems zu tun.
Der Staatskredit wird nun aber größtenteils nicht für produktive
Verwertungszwecke ausgegeben, sondern eben für den vielseitigen Staatskonsum,
der ja keineswegs ein Luxus ist, sondern systemnotwendig (ohne jedoch produktiv
im Sinne der Verwertung zu sein). Der Staatskredit läuft also ökonomisch
auf dasselbe Desaster hinaus, was auf der kommerziellen Ebene zu "faulen"
Krediten führt, weil das Geldkapital real konsumtiv statt kapitalproduktiv
verwendet worden ist. Diese Entwicklung hat aber auch eine Kehrseite: je mehr
Geldkapital an den Staat verliehen wird, desto mehr Spargelder der Gesellschaft
verwandeln sich aus realem Geldkapital in bloße Ansprüche an den
Staat, d.h. immer mehr Spargelder sind in Wirklichkeit nichts als Schuldscheine
des Staates. Sie werden dennoch so behandelt, "als ob" es sich dabei
um Zinseinkünfte aus produktiv angelegtem Kapital handeln würde, obwohl
alle diese Gelder längst im Orkus des Staatskonsums für immer verschwunden
sind. Marx sprach deshalb bei den Staatspapieren mit Recht von "fiktivem
Kapital". Ein großer Teil der gesellschaftlichen Reproduktion
ebenso wie des vermeintlich aufgehäuften gesellschaftlichen Reichtums in
Form von "Geldvermögen" beruht demnach heute weltweit auf "fiktivem
Kapital".
Eine solche Konstellation des Kreditsystems kann letztlich nur zum Zusammenbruch
des Finanzsystems führen, d.h. zur mehr oder weniger schockartigen "Entwertung"
des "fiktiven Kapitals". Seit dem Ersten Weltkrieg ist dies bekanntlich
auch in vielen Ländern mehrfach geschehen, und heute nähern wir uns
vielleicht einem neuen großen und weltweiten Entwertungsschock. Denn in
den letzten Jahrzehnten wurde das "fiktive Kapital" des Staatskredits
(ebenso wie übrigens die andere Form des "fiktiven Kapitals",
die kommerzielle Spekulation mit ihren Formen eines "derivativen Kasino-Kapitalismus")
in einem weitaus stärkeren Maße ausgedehnt als jemals zuvor. Mag
der Finanzkrach des Staatskredits auch langfristig angelegt sein, so ist er
doch das unvermeidliche Resultat eines endlichen Prozesses. Und mag der Staat
auch kraft seines Hoheitsanspruchs ein "infallibler Schuldner" sein,
so ist er dies doch am Ende nur um den Preis einer Enteignung seiner Bürger
und eines Zusammenbruchs der nationalen Finanzen.
Es gibt aber auch ein direktes und kurzfristiges Problem bei der permanenten
staatlichen Kreditaufnahme. Denn der Staat tritt als Kreditnehmer und damit
als Nachfrager auf den Finanzmärkten natürlich in Konkurrenz zu den
kommerziellen und produktiven Nachfragern nach Geldkapital. Eine zu hohe staatliche
Kreditaufnahme, die den Finanzmarkt sozusagen leerfegt, kann daher eine ähnlich
negative Wirkung auf Konjunktur, Wachstum und also auf die gesamte Volkswirtschaft
haben wie eine zu hohe Besteuerung der Einkommen. Wenn der Staat also die Spargelder
seiner eigenen Gesellschaft bereits leergesaugt hat und/oder die negativen Rückwirkungen
hoher Staatsnachfrage auf das eigene Kreditsystem verhindern will, dann kann
er zum Mittel der Außenverschuldung greifen und sich, seine Solvenz
vorausgesetzt, auf den internationalen Finanzmärkten bedienen. Damit
wird das grundsätzliche Problem freilich nicht gelöst, sondern lediglich
mit neuen und zusätzlichen Risiko-Potentialen auf eine internationale Ebene
transformiert. Viele Länder vor allem in Osteuropa, Lateinamerika und Afrika
sind auf diese Weise bereits in die "Schuldenfalle" gelaufen. Aber
auch einige große westliche Industriestaaten sind bekanntlich inzwischen
von der Außenverschuldung abhängig geworden, allen voran die USA,
die heute die größte Außenverschuldung der Welt bedienen müssen.
Nicht zuletzt durch die internationalisierte Verschuldung der Staatenwelt befindet
sich das globale Finanzsystem heute in einer äußerst labilen Verfassung.
Wenn alle Stricke reißen und der Staat sich weder durch Steuern noch durch
innere und äußere Kreditaufnahme mehr finanzieren kann, bleibt als
ultima ratio nur noch das Anwerfen der Notenpresse: der Staat
läßt per Ukas von seiner Nationalbank "unproduktives Geld"
aus dem Nichts schöpfen. Damit maßt er sich gegen die Gesetze des
Marktsystems die Geldschöpfungskompetenz an, d.h. er negiert als politischer
Pol gewaltsam die Strukturdominanz des ökonomischen Pols. Die Strafe dafür
folgt auf dem Fuße, und zwar bekanntlich in Gestalt der Hyperinflation.
Seit dem Ende des Ersten Weltkriegs ist diese Erscheinung als Folge unproduktiver
staatlicher Geldschöpfung periodisch wiedergekehrt, und heute ist sie für
eine wachsende Zahl von Ländern bereits zum dauerhaften Strukturzustand
geworden. Gegen alle Illusionen vom "Primat der Politik" ist längst
praktisch bewiesen, daß über das Medium Geld der Staat dem Markt
und die Politik der Ökonomie gegenüber fundamental unselbständig
ist.
Obwohl alle strukturellen Formen und Probleme dieser Abhängigkeit bekannt
sind, hält sich dennoch hartnäckig die Vorstellung, daß der
staatlich-politische Pol gleichrangig sei oder sogar als "letzte Instanz"
der Ökonomie und dem Geld gegenüber eine regulative Kompetenz besitze.
Und obwohl die nationalen und internationalen Finanzsysteme im Laufe des 20.
Jahrhunderts mehrfach schwer erschüttert wurden und heute labiler denn
je sind, wird nach der Art von Glücksspielern allgemein darauf gehofft,
daß das globale warenproduzierende System und sein gewaltiger Finanzüberbau
trotz seiner logischen inneren Widersprüche "irgendwie" weiterlaufen
wird; einfach aus dem Grund, weil es bisher immer "irgendwie" weitergegangen
ist. Eine absolute Schranke wird nicht für möglich gehalten. Selbst
die Länder, deren Finanzsystem bereits zusammengebrochen ist, bringen immer
neue wirtschafts- und finanzpolitische "Pläne" hervor, die das
Desaster abschließend bewältigen sollen (so auch neuerdings wieder
der "Plano Real" in Brasilien). Keine Wirtschaftspolitik wird aber
jemals etwas an der Unselbständigkeit des Staates gegenüber dem Geld
ändern können.
4. Die säkulare Krise der staatlich-politischen Regulation
Die strukturelle Systemschranke des gesamten "Feldes" der Moderne,
die im tagespolitischen Geschäft und im wissenschaftlichen "business
as usual" des akademischen Betriebs sozusagen verschwindet, wird bei einer
historischen Betrachtung des gesamten Modernisierungsprozesses umso deutlicher
sichtbar. Ganz im Gegensatz zur neoliberalen Ideologie kann gezeigt werden,
daß am Ende des 20. Jahrhunderts die Systemkosten der Marktwirtschaft
ihre Erträge absolut und irreversibel zu übersteigen beginnen.
Das bisher nur virtuelle bzw. periodische Problem, daß die in der Staatstätigkeit
erscheinenden Systemkosten die Substanz auffressen, wird zum realen und strukturellen
Dauerproblem. Damit aber ist nunmehr endgültig eine absolute historische
Systemschranke errichtet, die als schwelende und sich voranfressende Krise der
"Finanzierbarkeit" systemnotwendiger Aufgaben in Erscheinung tritt.
Es nützt wenig, in der Manier eines antiquierten "guten Hausvaters"
die "staatliche Schuldenmacherei" zu beklagen, wie es zur Gewohnheit
konservativer und populistischer Politiker geworden ist. Die Kritik an den "zu
hohen Staatsausgaben" geht blind vom Standpunkt des Geldes aus und übersieht
völlig, daß die Kosten der Staatstätigkeit nicht das Resultat
eines schlechten Staats-Managements sind, sondern das zivilisatorische Niveau
der Moderne repräsentieren. Die politische Korruption, wie wir sie heute
in allen Ländern finden, ist nicht die Ursache, sondern selber eine Folge
der Krise. Es gibt sicherliche einige marktwirtschaftliche hardliner,
die bereit sind, für die nicht mehr rentablen Menschenmassen das zivilisatorische
Niveau wegen mangelnder "Finanzierbarkeit" zu liquidieren und sie
in die Barbarei zu entlassen. Die Hoffnung dabei ist wohl, mit einer globalen
Minderheit in "Inseln der Normalität" weiterhin eine kapitalistische
Reproduktion betreiben zu können.
Dies ist jedoch eine doppelte Illusion. Erstens werden die Rückwirkungen
der Barbarei die bei den sozialen Programmen, bei der Infrastruktur usw. eingesparten
Kosten nur als "Sicherheitskosten" reproduzieren und in astronomische
Höhen treiben. Zweitens ist das zivilisatorische Niveau der Infrastruktur,
der Ausbildung und Wissenschaft, des Gesundheitswesens, der öffentlichen
Verkehrsmittel, der Abfallbeseitigung usw. kein Luxus, sondern notwendig, um
die Kapitalakkumulation selber am Laufen zu halten. Eine verwissenschaftlichte
Produktion mit hochempfindlichen Strukturen der Vernetzung kann nicht langfristig
in einem Ozean von Analphabetismus, Elend, Gewalt, Müll, Krankheit und
Verwahrlosung stattfinden. Wenn das zivilisatorische Niveau nicht mehr finanzierbar
ist, dann heißt das nur, daß der innere Systemwiderspruch seine
historische Reife erreicht hat. Die westliche Marktwirtschaft selber hat die
Potenzen hervorgebracht, die über sie hinausgewachsen sind und die sich
nicht mehr in die Formen des modernen warenproduzierenden Systems bannen lassen.
Die Paradoxie, daß die notwendigen Systemkosten auf der heute erreichten
Höhe der Produktivität und Verwissenschaftlichung die Belastbarkeit
des Verwertungsprozesses übersteigen, kann auch nicht durch die neoliberale
Lieblingsidee der "Privatisierung" aus der Welt geschafft werden.
Wenn die Rahmenbedingungen des Systems mehr Aufwand kosten als der eigentliche
Systemzweck selbst einbringen kann, dann ändert sich an dieser Misere durch
einen Wechsel der bloßen Rechtsform gar nichts, weil die substantiellen
Probleme dieselben bleiben. Dies gilt auch für diejenigen Bereiche, in
denen der Staat systemwidrig als Unternehmer einer Warenproduktion für
den Markt auftritt. Wenn sogar auf diesem Gebiet weltweit die Privatisierung
nur schleppend vorankommt, dann hat dies schwerwiegende ökonomische Gründe,
die sich keineswegs auf "falsche sozialistische Ideologie" zurückführen
lassen. Zwar kann die Produktion durch ein privates, marktorientiertes Management
tatsächlich "effizienter" im Sinne der Forderung nach Rentabilität
betrieben werden. Aber "Effizienz" bedeutet eben auch Rationalisierung,
Schließung ganzer Betriebe und Massenentlassungen. Länder wie Rußland,
Indien oder China müßten in kurzer Zeit mehr als die Hälfte
ihrer Bevölkerung auf die Straße setzen. Das Resultat könnte
nur der Bürgerkrieg sein. Wenn die Staatsunternehmen nicht mehr finanzierbar
sind, gleichzeitig aber die Privatisierung erst recht zum Systemkollaps führt,
dann haben wir die klassische Situation der Paralyse.
Noch mehr gilt dies für die Bereiche der Infrastruktur. Ist es systemwidrig,
wenn der Staat (notgedrungen) Unternehmen der Warenproduktion betreibt, so ist
es erst recht systemwidrig, wenn umgekehrt private Unternehmen die Staatsaufgaben
der Infrastruktur als Warenproduktion betreiben sollen. Das Wesen der Infrastruktur
ist ihr Charakter als gesamtgesellschaftlicher Input, der flächendeckend
vorhanden sein muß, um seine Aufgabe erfüllen zu können. Werden
aber die infrastrukturellen Aggregate der ökonomischen Knappheitsrelation
unterworfen und nur noch für die unmittelbare zahlungskräftige Marktnachfrage
betrieben, dann verlieren sie ihren Charakter als allgemeine Rahmenbedingung
der Warenproduktion. Es ist unmöglich, die gesamtgesellschaftlichen Inputs
zu privatisieren, ohne die Kapitalverwertung selber schwer zu schädigen.
Diese Inputs werden dann erstens viel zu teuer, und zweitens stehen sie dann
selbst für die zahlungskräftigen Nachfrager nicht mehr zur richtigen
Zeit und am richtigen Ort ausreichend zur Verfügung.
Die bisherigen Privatisierungen von Teilen der Infrastruktur in allen Teilen
der Welt haben dieses Problem bestätigt. In Argentinien finden Unternehmen
in den Stadtzentren nicht mehr genügend Arbeitskräfte, weil die öffentlichen
Verkehrsmittel stillgelegt wurden oder so teuer geworden sind, daß sich
für die Arbeiter aus den Suburbs die Fahrt zur Arbeit nicht mehr lohnt.
In den USA beklagten sich japanische Investoren, daß sie die Auflagen
für einheimische Produktionsanteile ("local content") nicht erfüllen
können, weil die lokalen Arbeitskräfte zu ungebildet für die
Bedienung komplizierter Maschinen sind. In England jammert die Industrie, daß
das öffentliche Telefonnetz nach der Privatisierung aus Rentabilitätsgründen
so dünn geworden ist, daß sämtliche Angestellten im Außendienst
unter hohem Kostenaufwand mit Funktelefonen ausgerüstet werden müssen.
In Ungarn stellten deutsche Investoren zu ihrem Schrecken fest, daß der
Billiglohn durch ständige Stromausfälle mehr als ausgeglichen wird
und daß sie praktisch ihr eigenes Elektrizitätswerk bauen müßten.
Für alle infrastrukturellen Aggregate gilt: je privater, desto weniger
und desto teurer. Das hält keine Volkswirtschaft lange aus. Überall,
wo der Staat die Infrastruktur versilbert, kommt bald der große Katzenjammer.
Die Schere der Systemkrise öffnet sich aber auch nach der Seite des Verwertungsprozesses
selbst. Nicht nur die notwendige Staatstätigkeit wird zu teuer, sondern
auch die Kapitalverwertung als solche geht weltweit von Zyklus zu Zyklus zurück.
Die marktwirtschaftliche Reproduktion scheint sich auch an ihrer Basis zu erschöpfen.
Diese Entwicklung wird bis jetzt noch verkannt, gerade auch von der linken Theorie.
Allgemein herrscht die Auffassung vor, daß durch Steigerung der Produktivität
früher oder später auch die Kapitalakkumulation wieder beflügelt
wird. Diese Argumentation beruht jedoch auf einem großen Mißverständnis.
Im Kern besteht das Problem darin, daß durch Produktivitätssteigerung
und Rationalisierung pro Produkt und pro Kapitaleinsatz immer weniger "Wert"
erzeugt wird, weil "Wert" ein relativer Begriff ist, gemessen am jeweiligen
(historisch stets gesteigerten) Produktivitätsniveau des jeweiligen kapitalistischen
Bezugssystems. Der kapitalistische Prozeß gräbt sich also letztlich
selber das Wasser ab, indem er seine eigene Substanz (abstrakte Arbeit) minimiert.
Wenn die in diesem Widerspruch angelegte Systemkrise in der Vergangenheit überwunden
werden konnte, so einzig durch den Kompensationsmechanismus einer Ausdehnung
der Produktionsweise als solcher. Schon die Rationalisierung durch Henry Ford
hat den Arbeitsaufwand pro Produkt gewaltig gesenkt. Aber auf diese Weise wurde
z.B. das Produkt Automobil derart verbilligt, daß es überhaupt in
den Massenkonsum eingehen konnte und der Automobil-Markt sich sprunghaft erweiterte.
So wurde zwar pro Automobil weniger Arbeit, aber für die überproportional
gesteigerte Automobilproduktion insgesamt weitaus mehr Arbeit als vorher benötigt.
Die fordistische Rationalisierung lebte also von einer ständigen Ausdehnung
der Märkte, der Massenarbeit, der Masseneinkommen und des Massenkonsums.
Im Grunde genommen handelte es sich um einen Prozeß, in dem die Sektoren
der lokalen nicht-kapitalistischen Warenproduktion und der hauswirtschaftlichen
Subsistenzproduktion von der betriebswirtschaftlichen Rationalität aufgesaugt
wurden.
Diese historische Reserve ist jetzt aufgebraucht, wie der deutsche Soziologe
Burkart Lutz in einer Untersuchung gezeigt hat. Gleichzeitig haben aber die
postfordistische mikroelektronische Rationalisierung und die Globalisierung
der Waren-, Arbeits- und Finanzmärkte derart große Arbeitsmengen
unrentabel gemacht, daß der bisherige historische Kompensationsmechanismus
zusammenzubrechen beginnt. Mit anderen Worten: erstmals in der kapitalistischen
Geschichte übertrifft die Geschwindigkeit der "Wegrationalisierung"
von Arbeit die Ausdehnung der Märkte. Die Produktivität steigt immer
schneller, während die Ausdehnung der Produktionsweise insgesamt zum Stillstand
gekommen ist. Deswegen ist die Hoffnung auf einen neuen Akkumulationsschub ziemlich
blauäugig. Der fundamentale Selbstwiderspruch, daß diese Gesellschaft
auf der unaufhörlichen Verwandlung von abstrakten Arbeitsquanta in Geld
beruht, sich aber selber an einen Punkt geführt hat, an dem nicht mehr
genügend Arbeitsquanta auf der Höhe des selbstgeschaffenen Produktivitätsstandards
rentabel mobilisiert werden können, ist von jetzt an nicht mehr bloß
eine zyklische, sondern eine strukturelle Erscheinung. Je schwächer aber
die Realakkumulation wird, desto weniger ist der Staatskredit finanzierbar,
und je weniger der Staat sich finanzieren kann, desto größer werden
seine Aufgaben durch die strukturelle Krise der Akkumulation. In diesem Teufelskreis
hat sich die warenproduzierende Moderne selbst gefangen.
In diesem Zusammenhang muß auch die "Regulationstheorie" kritisiert
werden, die von politisch regulierten und kulturell ausgeformten "Akkumulationsmodellen"
ausgeht. Dabei soll der Kapitalismus angeblich unendlich "anpassungsfähig"
sein und sich immer wieder von "Akkumulationsmodell" zu "Akkumulationsmodell"
schwingen. Dieses theoretische Modell erinnert ein wenig an den Mythos von der
"ewigen Wiederkehr", und soweit es marxistisch inspiriert ist, könnte
man geneigt sein, gewissermaßen von einem "buddhistischen Marxismus"
zu sprechen. Betrachtet man die Gesamtgeschichte der Moderne, dann erscheint
dieses Modell ziemlich merkwürdig. Sicherlich spielt die politische Regulation
eine zunehmende Rolle im marktwirtschaftlichen System, weil systemnotwendig
die Staatstätigkeit zunimmt, wie ja schon Adolph Wagner festgestellt hat.
Aber wir haben keine unendliche Geschichte von Krisen, Prosperität und
"Akkumulationsmodellen" hinter uns.
Tatsächlich gibt es strenggenommen nur ein einziges ausgebildetes "Regulations"-
und "Akkumulationsmodell", das gleichzeitig das erste und das letzte
ist: nämlich das fordistische. Vorher, im 19. Jahrhundert, konnte die kapitalistische
Produktion noch nicht voll auf ihren eigenen Grundlagen agieren, auch die Krisen
waren noch mit vorindustriellen Agrarkrisen vermittelt, und der größere
Teil der Bevölkerung war selbst in den entwickelten Ländern nicht
oder nur teilweise von der betriebswirtschaftlichen Rationalität erfaßt.
Und ein "Nachher", wie soll es das geben, wenn mit immer weniger Arbeit
immer weniger Kaufkraft und immer mehr Produkte erzeugt werden? Globale marktwirtschaftliche
Prosperität wird es in Zukunft nur dann geben, wenn uns das Kunststück
vorgemacht werden kann, wie das Kapital ohne Arbeit akkumuliert. "Jobless
growth" ist eine Illusion, die gegenwärtig nur durch eine weltweite
unproduktive Geldschöpfung von "fiktivem Kapital" mühsam
(bis zum Finanzkrach) aufrechterhalten werden kann.
Ein rein "politisches Akkumulationsmodell" aber kann es erst recht
nicht geben. Die "Regulationstheorie" scheint sich von einer akkumulationstheoretischen
Argumentation zu politizistischen Illusionen fortzubewegen. Erst muß ein
neuer Akkumulationszyklus da sein, dann kann er politisch reguliert werden,
nicht aber umgekehrt. Noch keine Politik hat einen neuen Schub der Akkumulation
aus dem Hut gezaubert wie ein Kaninchen. Für die Politik sind nur die Verlaufsformen,
nicht aber die blinden Basisgesetze der kapitalistischen Warenproduktion regulativ
zugänglich. Das fordistische Modell lebte davon, daß die Akkumulation
aus dem subjektlosen Systemprozeß heraus gelang, das politische Regulationsmodell
konnte dagegen erst sekundär greifen. Wenn die gesellschaftliche Reproduktion
heute zwischen Markt und Staat aufgerieben wird, dann müssen wir uns etwas
anderes einfallen lassen, als auf Godot zu warten, d.h. auf das nächste
"Wirtschaftswunder" des warenproduzierenden Systems, das nie mehr
kommen wird.