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Erschienen in KONKRET 06/15

Tomasz Konicz

Auf ein Neues

Wann platzt die große Liquiditätsblase, in der das Weltfinanzsystem verfangen ist?

Sollte es künftig Warnhinweise für Finanzmarktanalysen geben? Die bekannte US-News-Site „Business Insider“ warnte jedenfalls vor der Lektüre des Mitte April veröffentlichten „Global Financial Stability Report“ des Internationalen Währungsfonds (IWF), da dieser Zustandsbericht der Weltfinanzmärkte „nichts für zartbesaitete Gemüter“ sei. Der Währungsfonds konstatierte eine Zunahme der Instabilität im Weltfinanzsystem seit dem Oktober 2014, die mit einer Verlagerung von „Stabilitätsrisiken“ in Bereiche einhergehe, in denen sie schwerer auszumachen seien. Diese würden sich von den „avancierten Ökonomien auf die Schwellenländer, von den Banken auf die Schattenbanken, und von Bonitäts- zu Liquiditätsproblemen“ verlagern.

Der IWF schlussfolgerte, dass die „Märkte zunehmend anfällig für Episoden sein könnten, in denen die Liquidität verschwindet und die Volatilität nach oben schießt.“ Als Beispiele für die zunehmende strukturelle Instabilität des Weltfinanzsystems nannte der Report die Verwerfungen, die im Januar 2015 durch die Aufhebung der Eurobindung des Schweizer Franken ausgelöst wurden, sowie den kurzfristigen Sturzflug zehnjähriger US-Staatsanleihen im Oktober 2014, deren Einbruch vergleichbar mit der Reaktion auf die Pleite von Lehman Brothers 2008 war. Diese Marktturbulenzen seien hauptsächlich durch massiven „Entzug von Liquiditätsunterstützung“ verstärkt worden, warnte der IWF.

Im Klartext: Unter der Oberfläche des „normalen“ Marktgeschehens machen sich Skepsis und Misstrauen unter den Marktsubjekten breit, da die Ahnung von der Unhaltbarkeit der gegenwärtigen Spekulationsdynamik – der Liquiditätsblase, die durch die expansive Geldpolitik der Notenbanken ausgelöst wurde – durchaus vorhanden ist. Jeder Finanzmarktakteur muss möglichst lange bei der Bonanza mitmachen, doch zugleich wächst die Bereitschaft, bei Turbulenzen möglichst schnell auszusteigen. Hierdurch können auch begrenzte Ereignisse größere Schockwellen durch das Gesamtsystem jagen, wie „Business Insider“ bemerkte: „Wenn die Marktliquidität in Zeiten erhöhter Volatilität austrocknet, wird das Ausmaß und der Umfang der Marktbewegungen verstärkt.“ Was sich hier abzeichnet, ist die Wiederkehr der Krisenkonstellation während der Weltfinanzkrise 2007/2008, als die Märkte nach dem Schock der Lehmann-Pleite „einfroren“ und die Kreditvergabe im Interbankenhandel nahezu zum Erliegen kam, da die Finanzmarktakteure sich untereinander nicht mehr trauten.

Seitdem hat insbesondere die US-Geldpolitik die Versorgung des Weltfinanzsystems mit immer neuer Liquidität zu ihrer Maxime gemacht, was – neben der lang anhaltenden Nullzinspolitik – zu der größten Gelddruckaktion in der fünfhundertjährigen Geschichte des kapitalistischen Weltsystems führte. Die US-Notenbank Fed kaufte zwischen 2009 und Oktober 2014 Finanzmarktpapiere im „Wert“ von 3,5 Billionen Dollar auf, wodurch das System tatsächlich kurzfristig stabilisiert werden konnte. Die Initiierung der Quantitative Easing genannten Gelddruckaktion sei genauso umstritten gewesen wie die Entscheidung, sie ab Ende 2013 langsam zu in ihren Ausmaßen zu reduzieren und schließlich ganz einzustellen, rekapitulierte „Bloomberg“ in einem Hintergrundbericht: „Ob die Fed (das Anleihekaufprogramm) zu früh begrenzte, angesichts der globalen Wirtschaftsschwäche, oder zu spät, angesichts den Anzeichen für Blasenbildung in etlichen Märkten, wurde heiß debattiert.“

In diesem Kommentar kommt die sich immer deutlicher abzeichnende Sackgasse der kapitalistischen Krisenpolitik zum Vorschein, da die Funktionseliten aus Politik und Wirtschaft längst zu Getriebenen der Krisendynamik geworden sind und nur unterschiedliche Wege der weiteren Krisenentfaltung bestimmen können: Auf der Ebene der Geldpolitik ist es die Scheinwahl zwischen expansiver oder restriktiver Geldpolitik, bei der nur zwischen der Aufblähung neuer Blasen oder drohendem „Liquiditätsentzug“ – mitsamt der Gefahr eines „Einfrierens“ der Märkte – gewählt wird. Deswegen ist es auch kein Zufall, dass der IWF die Instabilität im Weltfinanzsystem gerade von jenem Zeitpunkt an ansteigen sieht, an dem die FED ihre „Quantitativen Lockerungen“ einstellte. Und deswegen finden sich in dem Global Financial Stability Report sowohl Warnungen vor einer Fortsetzung der expansiven Geldpolitik, da sie zur Blasenbildung führe, als auch vor deren vorzeitigen Beendigung, weil diese zu einem „Sturm der Volatilität“ führen könne, wie es das „Wall Street Journal“ in einem Bericht über den IWF-Report formulierte.

Dieselbe Aporie kapitalistischer Krisenpolitik kennzeichnet übrigens auch den nicht enden wollenden Streit zwischen Keynesianern und Neoliberalen bezüglich der Konjunkturpolitik, da beide Streitparteien zu Recht die Rezepte der Gegenseite kritisieren: Offensichtlich halten schuldenfinanzierte Konjunkturprogramme der Keynesianer das System als eine Art „Strohfeuer“ nur kurzfristig am Laufen – und genauso trifft es zu, dass neoliberale Sparprogramme die betreffenden Länder in den sozioökonomischen Kollaps führen. Die einzige logische Schlussfolgerung, die aus dieser ermüdenden Debatte zu ziehen ist, besteht in der Einsicht, dass der Kapitalismus offensichtlich ohne permanente Schuldenbildung nicht mehr funktionsfähig ist.

An potenziellen Brandherden in dem durch jahrelange Gelddruckerei aufgeblasenen Weltfinanzsystem scheint es tatsächlich nicht zu mangeln. Ausdrücklich nennt der IWF den Immobiliensektor Chinas, wo fallende Preise nicht nur den heimischen Finanzmarkt bedrohten, sondern auch andere Märkte anstecken könnten. Neben der dramatischen Lage in etlichen Schwellenländern – die durch den Doppelschlag aus drohender US-Zinswende und fallenden Energiepreisen ausgelöst wurde – sieht der Report die Finanzstabilität auch in den Zentren des Weltsystems gefährdet, da die drohende Zinswende der Fed und die gerade erst gestartete Gelddruckerei der EU zu der Ausbildung von Ungleichgewichten im Weltfinanzsystem (Carry Trades) führten. In der EU macht der IWF zudem einen gigantischen Berg von faulen Krediten im Umfang von rund 900 Milliarden Euro aus, die ein Überbleibsel der letzten Finanzmarktkrise bilden. Die expansive Geldpolitik der EZB bringe überdies die europäischen Lebensversicherer „in Bedrängnis“, da die lang anhaltende Niedrigzinspolitik inzwischen dazu geführt habe, dass „nahezu ein Viertel der Versicherer ihre Solvenzkapitalanforderungen nicht mehr erfüllen“ könne. Dies sei ein Markt mit „4,4 Billionen an Wertpapieren (Assets)“, so der IWF, der eine „Quelle für ein potenzielles Überschwappen“ einer Krisendynamik bilde.

Die Gelddruckerei der EZB hat selbstverständlich nicht nur zur Verstärkung der Ungleichgewichte im Finanzüberbau geführt, sondern sie hat – und dies ist die eigentliche Intention dieses bis Ende 2016 laufenden Gelddruckprogramms – vor allem die Handelsüberschüsse des Euroraums (vor allem der BRD) gegenüber dem außereuropäischen Ausland weiter ansteigen lassen. Der schwache Euro verbilligt die in der Eurozone hergestellten Waren auf außereuropäischen Märkten, womit die gesamte von der BRD nach ihrem Ebenbild umgeformte Eurozone nun dieselbe verheerende Beggar-thy-neighbour-Politik gegenüber dem außereuropäischen Ausland betreibt, wie sie die BRD bis zum Ausbruch der Eurokrise gegenüber der Eurozone mit verheerenden Erfolg verfolgte. Da die USA – im Gegensatz zu Südeuropa – über eine eigene Notenbank und die Weltleitwährung verfügen, sind Gegenaktionen vorprogrammiert.

Einen Vorgeschmack auf die krisenbedingt zunehmenden finanzpolitischen Auseinandersetzungen zwischen den „westlichen Verbündeten“ beiderseits des Atlantik lieferten die Berichte über Spekulationen von US-Investoren gegen deutsche und europäische Anleihen. „Zahlungskräftige Spekulanten nehmen Deutschland ins Visier“, empörte sich die FAZ Ende April, da hierdurch die Gelddruckaktion der EZB unterminiert wurde und die Rendite der zehnjährigen Bundesanleihe einen extremen Anstieg von zehn Basispunkten binnen eines Tages erlebte. Die anderen großen Wirtschaftsräume – wie China und Japan – werden ebenfalls auf diese durch die Geldpresse realisierte Exportförderung mit Gegenmaßnahmen reagieren, so dass hier ein globaler Abwertungswettlauf der Währungen droht (ein sogenannter „Währungskrieg“), der letztendlich in einer Hyperinflation münden könnte – spätestens, wenn die gegenwärtige globale Liquiditätsblase platzt.

Denn es ist gerade der gigantische Wasserkopf der spätkapitalistischen Finanzmärkte, der die Inflation trotz Gelddruckerei niedrig hält: Die Spekulationsdynamik führt zu einer Inflation der Wertpapierpreise, die erst bei dem Platzen der Blase in eine reelle Inflation überschlagen kann, wenn das fiktive Kapital panisch aus der Finanzsphäre zu fliehen versucht. Um die Dimensionen der gegenwärtigen Liquiditätsblase abzuschätzen, lohnt ein Blick auf das „Niveau der Korrelation“ zwischen den unterschiedlichen Finanzmärkten (Aktien, Hypotheken, Bonds etc.). Laut IWF ist dies seit Krisenausbruch nicht etwa gefallen, sondern angestiegen – im Schnitt von 0,4 auf nun 0,7, wobei ein Wert von 1,0 eine synchrone Bewegung implizieren würde. Der Währungsfonds warnt auch hier von einer „Zunahme der Ansteckungsrisiken“ zwischen einzelnen Marktbereichen in der Finanzsphäre. Dies scheint fast schon anachronistisch, weil das gesamte Finanzsystem zusehends synchron agiert, da es von ein und derselben Spekulationsdynamik befeuert wird. Über alle Marktbereiche der Finanzsphäre hinweg – ob nun Futures auf Schweinehälften und gefrorenen Orangensaft oder Verbriefungen von Hypotheken – bildet sich in der gegenwärtigen Liquiditätsblase immer stärker eine einheitliche spekulationsbefeuerte Verwertungsbewegung des fiktiven Kapitals heraus.

Und es ist ein immer größerer Schuldenberg, der die realwirtschaftliche Grundlage dieser wuchernden Blasenbildung auf den Weltfinanzmärkten darstellt, indem er die entsprechenden Defizitkonjunkturen (etwa in den Schwellenländern) befeuert. Die Unternehmensberatung McKinsey gab jüngst an, dass die globale Gesamtverschuldung zwischen 2007 und 2014 von 269 auf 289 Prozent der Weltwirtschaftsleistung angeschwollen ist. Der „Geneva Report“, herausgegeben von dem „International Centre for Monetary and Banking Studies“, gab im September 2014 die langfristige Zunahme der Weltschulden (unter Ausschluss des Finanzsektors) an: Diese seien von 160 Prozent der Weltwirtschaftsleistung in 2001, über 200 Prozent in 2009, auf 215 Prozent in 2013 geklettert. Der Report warnte vor einer „giftigen Kombination“ aus hohen und weiterhin steigenden Schulden und erlahmendem Wirtschaftswachstum. Das geringfügig sinkende Schuldenniveau in dem Finanz- und Privatsektor der entwickelten Ökonomien sei durch den Anstieg ihrer „öffentlichen Verschuldung“ und ein rasches Anschwellen der Verschuldung in den Schwellenländern überkompensiert worden. „Entgegen der allgemeinen Überzeugung hat die Welt nicht angefangen, sich zu entschulden, und das Größenverhältnis zwischen Schulden und BIP steigt weiter an, indem es immer neue Rekorde bricht.“

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