erschienen in der Jungle World /2000
Robert Kurz
Euphorie um die New Economy
Das Internet als Traumfabrik des Neuen Marktes.
Was linke Antikrisentheoretiker,
Antideutsche und deutsche Kleinanleger nicht wissen wollen, weiß inzwischen
jeder Banklehrling: das Weltkapital sitzt auf der größten Finanzblase
aller Zeiten. Natürlich wagt es trotzdem nur eine kleine Minderheit von
Bankern und Finanzanalysten, die Seifenblase der von jeder ökonomischen
Realität abgehobenen Börsenkapitalisierung auch eine Seifenblase zu
nennen. Die große Mehrheit der Akteure im globalen Kasinokapitalismus,
der Lobby-Analytiker und der ideologischen Wunderheiler ist wie immer berufsoptimistisch;
und je mehr der Kapitalismus seine eigenen Geschäftsgrundlagen zerstört,
desto zuversichtlicher werden sie. Aber ganz ohne Verweis auf einen substantiellen
ökonomischen Inhalt im Sinne zukünftiger Kapitalverwertung kann selbst
die luftigste finanzkapitalistische Phantasie nicht auskommen. Die enorme Börsenkapitalisierung
muß als Vorbote eines ebenso enormen realen Wachstumsschubs vorgegaukelt
werden. Dabei wäre dann freilich auch genauer zu zeigen, welcher Sektor
der Produktion es denn eigentlich sein soll, der mit seinem sachlichen Gehalt
den neuen säkularen Aufschwung tragen wird.
Peinlicherweise sind die geisterhaften finanzkapitalistischen Vorboten inzwischen
schon ein wenig arg lange unterwegs, ohne daß eine neue sachliche Gestalt
so recht sichtbar geworden wäre, in der sich das Kapital abermals im großen
Maßstab realökonomisch inkarnieren könnte. Denn schon seit den
80er Jahren werden die mit ständiger Beschleunigung steigenden Börsenkurse
durch den Hinweis auf neue Inhalte der Produktion gerechtfertigt, die angeblich
das ersehnte Potential für den Durchbruch zu neuen Ufern der realen Kapitalverwertung
in sich bergen. Leider mußten diese Inhalte jedesmal nach ein paar Jahren
ausgewechselt werden, weil sich die vollmundigen Voraussagen nicht bewahrheitet
hatten. So war die Produktion von Mikrochips und Personalcomputern nicht in
der Lage, den Abbau von Beschäftigung und realer Wertschöpfung zu
kompensieren, der von eben diesen neuen mikroelektronischen Technologien durch
die damit verbundenen Rationalisierungswellen verursacht wurde. Ebensowenig
erfüllten sich die Hoffnungen auf eine "postindustrielle Dienstleistungsgesellschaft":
Bei den industriebezogenen Diensten wurde das Wachstum durch die "Verschlankung"
der industriellen Kapazitäten begrenzt und bei den sogenannten Humandienstleistungen
durch den Abbau von Massenkaufkraft und Staatskonsum. So blieb auch in dieser
Hinsicht die Erwartung eines großen Schubs von rentablen Arbeitsplatz-
und Erweiterungs-Investitionen unerfüllt.
Inzwischen sind nicht nur die 80er, sondern auch die 90er Jahre dahingeflossen
und es wird allmählich brenzlig. Wenn die ökonomisch körperlose,
aufgedunsene Geldseele der Börsenkapitalisierung nicht bald glaubhaft in
einen neuen "Körper" schlüpfen kann, droht sie sich ins
Nichts aufzulösen. Not macht erfinderisch, und so mußte wenigstens
ein neuer vielversprechender Name gefunden werden, um das Platzen der Blase
noch einmal zu verzögern. In diesem Sinne machte seit 1999 ein wohlklingender
Begriff Blitzkarriere: "New Economy". Von US-Finanzanalysten schon
Mitte der 90er Jahre ausgebrütet, hat diese Wortschöpfung innerhalb
kürzester Zeit einen Siegeszug rund um die Welt angetreten und wird in
allen Medien besinnungslos heruntergebetet. Worin soll diese ominöse "New
Economy" ihren Gehalt haben? Die Rede ist von "Hochtechnologien".
Hatten wir das nicht schon mal? Der Name ist irreführend, denn schließlich
wird High-Tech auch im gesamten Spektrum der alten Industrien und Dienstleistungen
eingesetzt. Was jetzt aber endlich eine "New Economy" kreieren soll,
ist schlicht das Internet; genauer gesagt: spezifische Techniken und Dienstleistungen
für das Internet und im Internet.
Mit einem Wort: Das Internet soll jetzt den letzten realökonomischen Hoffnungsträger
abgeben, um dem fiktiven Geldkapital der aufgeblasenen Börsenkapitalisierung
wenigstens eine Art virtuellen Körper zu verleihen. Was natürlich
heißen müßte, daß via Internet ein säkularer Schub
von Beschäftigung und realer Kapitalverwertung kommt. Die schon gescheiterten
Paradigmen von "neuer Technologie" und "Dienstleistungsgesellschaft"
werden also in einem zweiten Versuch zusammengemixt und auf das Internet projiziert.
Das kommende Wirtschaftswunder soll sich im "World Wide Web" abspielen,
die realökonomische Wachstumsdynamik paradoxerweise dem virtuellen elektronischen
Raum entspringen. Und dieser neue Wunderglaube wird in noch schrilleren Tönen
als alle vorhergehenden propagiert. Schon sehen die Chefeuphoriker aller Länder
einen angeblichen Internetkapitalismus mit gewaltigen Potentialen heraufdämmern,
in dem sich ein "Total Webbased Management" über den "Mehrwert
auf der Webseite" (so die Web-benebelte Wirtschaftswoche) freut.
"Alle müssen ins Internet", befand daher der deutsche Medienkanzler
Schröder anläßlich der Eröffnung der Computermesse Cebit
im Februar 2000. Die "linke" grüne Oberrealistin Renate Künast
hechelte gleich hinterher und forderte in einem TV-Interview forsch, junge Frauen
weniger als Altenpflegerinnen, sondern stattdessen "für den E-Commerce"
auszubilden. Internetkapitalismus und Internetfeminismus: was für ein nettes
Paar. Und auch der britische Strahlemann Blair hat schon wieder mal eine Vision:
Er sieht die neoliberalen Blütenträume von "New Labour"
jetzt im Web reifen und "will Großbritannien zu einer zentralen Macht
im Internethandel machen" (Handelsblatt v. 13.3.2000). Politik und
Medien reagieren auf die neuen Stichworte wie Pawlowsche Hunde, denn für
sie gilt erst recht die Devise: Dabeisein ist alles, Mitmachen um jeden Preis
- und je besinnungsloser, desto besser.
Die Frage ist nur: Liegt der Option des kommenden Internetbooms überhaupt
irgendein sachlicher ökonomischer Gehalt im Sinne der Kapitalverwertung
zugrunde? Zusätzliche Ausrüstungen für das Internet werden auf
der Ebene der materiellen Industrieproduktion kaum ein gesamtwirtschaftlich
auch nur bemerkbares zusätzliches Realwachstum generieren. Denn die Hardware
für eine Breitband-Telekommunikation ist bereits vorhanden (sie wurde ganz
ohne Beschäftigungsboom geschaffen); und die Innovationen für einen
direkten Internet-Anschluß oder überhaupt eine gesamtmediale Integration
können weder technologisch noch ökonomisch ein neues Zeitalter elektronischer
Massenproduktion mit dazugehöriger Massenbeschäftigung tragen. Letzter
Schrei: Handys, mit denen man im Kaufhaus per Online-Banking bezahlen kann.
Das Produktions- und Beschäftigungsvolumen derartiger Erweiterungen von
längst schon eingeführten Technologien ist viel zu gering, um den
Erwartungen eines neuen säkularen Internetkapitalismus gerecht zu werden.
Die spezifischen Hilfsmittel für die Nutzung des Internet bestehen sowieso
weniger aus zusätzlicher Hardware, sondern hauptsächlich aus neuer
Software: Die "User" benötigen diverse Suchmaschinen, um im globalen
Netz surfen und Informationen herausfiltern zu können; für alle möglichen
Interessen werden spezielle Zugänge (sogenannte Portale) angeboten. Der
Begriff der Maschine ist dabei allerdings nur metaphorisch zu verstehen, denn
es handelt sich nicht um materiell bearbeitete Produktionsmittel, sondern um
spezifische Computerprogrammierungen. Das gilt auch für die geschäftliche
Präsentation, für Werbung usw. im Internet durch Home-page-Gestaltung
(Web-Design). Das Angebot von Software in dieser Hinsicht mag rapide zunehmen.
Aber auf diese Weise werden keine entscheidenden neuen Beschäftigungs-
und damit Wertschöpfungspotentiale herbeigezaubert. Denn die Kreation von
Software ist extrem beschäftigungsarm und kann von einer Handvoll Spezialisten
betrieben werden. Vor allem aber kann die massenhafte Reproduktion dieser Software
nicht den Boom der früheren Industrien wiederholen. Folgte der Konstruktion
von Autos oder Waschmaschinen noch eine ungeheuer beschäftigungsintensive
materielle Produktion nach, so wird die selber schon ohne nennenswerte zusätzliche
Wertschöpfung produzierte Software schlicht durch Mausklicks kopiert. Da
werden nicht Millionen von zusätzlichen "Händen" benötigt.
Weder die Hardware- noch die Software-Hilfsmittel rechtfertigen die Euphorie
einer kapitalistischen "New Economy". Wenn überhaupt, dann müßte
das neue reale Wachstumspotential im Internet selber zu finden sein. Aber die
Möglichkeiten einer virtuellen Produktion von kapitalistisch verwertbaren
Gütern sind eng begrenzt. Immaterielle Waren ohne nennenswerte materielle
Investitionen können keine reale Wachstumsdynamik auslösen. Was als
Option übrig bleibt, ist also hauptsächlich die Kommerzialisierung
des Internet: Das vielbeschworene E-Business oder Net-Business kann allenfalls
als jener E-Commerce in Erscheinung treten, auf den die gar nicht mehr besonders
grünen Regierungs-Realos so begierig schielen. Aber genau das ist eine
nur allzu durchsichtige Milchmädchenrechnung. Denn der bloße Handel
bleibt immer eine nachgeordnete Erscheinung der realen Produktion. Wenn nicht
ausreichend kapitalistisch produktive Einkommen erzeugt werden, muß auch
der Kommerz erlahmen, der niemals aus sich selbst heraus ökonomisch reproduktionsfähig
ist. Für die Ausweitung des E-Commerce gilt insofern dasselbe wie für
die Verlängerung oder völlige Freigabe der Öffnungszeiten im
Einzelhandel: Die Leute haben auf diese Weise natürlich nicht mehr Geld
in der Tasche, sodaß nur Umschichtungen der Umsätze stattfinden.
Gesamtwirtschaftlich handelt es sich bestenfalls um ein Nullsummenspiel.
Ohnehin sind dem Einzelhandel im Internet enge Grenzen gesetzt, denn man kann
zwar virtuell einkaufen, aber natürlich nicht virtuell konsumieren (jedenfalls
nicht die Masse der durchaus handfesten Produkte). Internet-Shopping und virtuelle
Auktionshäuser, quasi elektronische Flohmärkte, mögen als Modeerscheinung
einen gewissen Zulauf haben; ihre Sinnfälligkeit bleibt jedoch auf wenige
Spezialprodukte (z.B. antiquarische Bücher, seltene Sämereien etc.)
beschränkt. Für die überwältigende Mehrzahl der Konsumgüter,
die man nicht suchen muß, sondern an jeder Ecke erwerben kann, ist E-Commerce
schlichter Blödsinn. Was man per Mausklick gekauft hat, ohne mehr als den
Finger krumm zu machen, muß schließlich "real" und kostenträchtig
abgeholt oder angeliefert werden - und worin soll dann eigentlich der große
Vorteil von Shopping per Bildschirm bestehen? Im Grunde genommen haben wir es
bloß mit einer hochgestochenen Umbenennung des guten alten Versandhandels
zu tun. So startete der Otto-Versand Anfang 2000 den ersten bundesweiten Lieferdienst
für Lebensmittel im Internet: bei einem Mindestbestellwert von 30 Mark
fallen 8,95 DM Liefergebühr an. Angesichts solcher Kostenrelationen wird
es die Masse der Normalverbraucher wohl notgedrungen vorziehen, sich doch lieber
in die Schlange an der Supermarktkasse einzureihen. Und manche, die in einer
Sekunde Echtzeit im Web eingekauft haben, durften sich dann schon mal vier Wochen
Echtzeit auf das Eintreffen ihres jeweiligen Glücksgutes freuen.
Die lästige "erste Realität" steht auch im Hintergrund der
Überlegungen, wenn nur ein kleiner Prozentsatz der zahlungsfähigen
Konsumenten zur Aktion "unbesehen kaufen" (Handelsblatt) bereit
ist. Daß zum Beispiel der E-Heiratsmarkt unliebsame Überraschungen
bergen kann, mußte jüngst der britische Tankwart Trevor Tasker leidvoll
erfahren: Die pralle 30-jährige Schönheit seiner E-Romanze im Cyberspace
entpuppte sich in der schnöden Realität als verwelkte 65jährige,
die den Leichnam ihres vorherigen Lebensgefährten in der Tiefkühltruhe
verwahrte (AP, 11.3.2000). Sicherlich wird die Diskrepanz zwischen virtuellem
Versprechen und realer Erfüllung nicht immer so groß sein; und nicht
alle handelbaren Güter haben einen so heiklen Charakter wie Bräute.
Trotzdem wird auch die profane Ware in der Regel weiterhin nicht ohne sinnliche
Prüfung Gefallen finden. Die wenigsten wollen die sprichwörtliche
Katze im nunmehr elektronischen Sack erwerben.
Soweit aber der Internet-Einzelhandel überhaupt funktioniert, nimmt er
dem realen Einzelhandel, der kostenträchtige Ladenflächen und Filialen
betreiben muß, Umsätze und Marktanteile weg. Das zwingt logischerweise
zu Schließungen und zu neuen Rationalisierungsschüben; bald werden
sich die Kunden selber abkassieren müssen - natürlich ebenfalls mittels
elektronischer High-Tech. Letzten Endes wird die schöne neue Welt des E-Commerce
die Krise der 3. industriellen Revolution verschärfen statt überwinden.
Das gilt in noch höherem Maße für den kommerziellen Sektor des
sogenannten "Business-to-Business" im Internet, auch unter dem Kürzel
B2B bekannt. Gemeint ist damit der elektronische Handel von Unternehmen untereinander,
der allerdings eine weitaus größere Bedeutung besitzt als das E-Shopping
von Privatleuten. In Form von Beratungsfirmen und Software-Häusern schießen
seit Ende der 90er Jahre B2B-Unternehmen wie Pilze aus dem Boden. "Hat
Ihre Firma eCommerce schon in ihren Erbanlagen verankert?", wirbt etwa
die Andersen Consulting mit ganzseitigen Anzeigen in der Wirtschaftspresse.
Zweifellos, B2B revolutioniert tatsächlich große Teile des Handels.
Aber mit welchen Konsequenzen? Das Internet, bislang eine globale Spielwiese,
mausert sich bei der kommerziellen Anwendung zum neuartigen "Kostenkiller":
"Die Automatisierungswelle, die in den achtziger Jahren Produktionsprozesse
grundlegend neu gestaltet hat, läßt sich im Internet-Zeitalter in
wenigen Jahren auf das gesamte Wirtschaftsgeschehen übertragen. Das Internet
liefert die technische Plattform für diese neue Ökonomie, die das
traditionelle Wirtschaftsgeschehen in seiner ganzen Flexibilität elektronisch
darstellt und abwickelt. Am Beispiel der Finanzmärkte wird schon heute
im Ansatz sichtbar, was auf den Gütermärkten bald geschehen wird.
Aktienkäufe und Aktienverkäufe laufen heute weitgehend elektronisch
ab. Sind bestimmte Schwellenwerte erreicht, werden in den Handelscomputern Kettenreaktionen
ausgelöst, die von Menschen vorher definiert wurden. Käufer und Verkäufer
schließen automatisch Verträge ab, ohne lange Suche oder aufwendige
Verhandlungen. Der neue Marktpreis bildet sich binnen weniger Sekunden. Intermediäre
wie die Handelsmakler werden in diesem System keine Funktion mehr haben. An
den Gütermärkten werden diese technischen Änderungen jedoch deutlich
tiefere Spuren hinterlassen als an den Finanzmärkten. Die Hälfte der
Kosten eines Industrieunternehmens sind heute im Durchschnitt immer noch Transaktionskosten,
die nicht zur eigentlichen Wertschöpfung beitragen. Dazu gehören vor
allem die Kosten arbeitsintensiver Prozesse wie die Suche nach Vertragspartnern
und die anschließenden Vertragsverhandlungen, aber auch Maklerprovisionen
und der Aufwand für viele innere Verwaltungstätigkeiten..." (FAZ
v. 23.2.2000).
Mit anderen Worten: Was da über die Welt rollt, ist nicht der Anfang eines
neuen Wirtschaftswunders, sondern eine riesige Freisetzungswelle von Arbeitskraft.
Der gesamte Zwischenhandel, große Teile der Zulieferer, Lagerhaltung,
Einkaufs- und Beschaffungsabteilungen - alles wird überflüssig, ganze
Ebenen des "Wirtschaftsgeschehens" einschließlich erheblicher
Teile des Managements selber müssen mittelfristig von der Bildfläche
verschwinden. Schon setzen die großen Automobilkonzerne und Handelsketten
mittels B2B ein "gigantisches Einsparkarussell" in Gang:
"Beschaffungswege werden dramatisch verkürzt, beschleunigt und verbilligt...Die...Internet-Einkaufskooperation
der Autogiganten Daimler-Crysler, Ford und General Motors - die immerhin eine
Einkaufsmacht von rund 480 Milliarden DM repräsentieren - ist erst der
Anfang. Sie beleuchtet jedoch schon sehr gut, welch ungeheures Potenzial im
Internet steckt...Wie so etwas dann aussehen könnte, wird sich deutlich
an der zweiten Mammut-Kooperation zeigen, die jetzt verkündet wurde. Die
Handelsgiganten Sears aus den USA und Carrefour, der größte Einzelhändler
Europas, bauen einen offenen Internetmarktplatz auf, auf dem sie ihre Lieferantenbeziehungen
konzentrieren wollen..." (Handelsblatt v. 1.3.2000).
Diese qualitativ neuartige "Ausgliederung ganzer Prozeßketten"
als "Revolution in der Logistik" (Handelsblatt v. 15.3.2000)
mittels Internet entpuppt sich als die lange erwartete (und befürchtete)
zweite große Welle der mikroelektronischen Revolution. Waren es in den
80er und 90er Jahren vor allem die Prozesse der industriellen Fertigung, die
dabei von Automatisierung und Rationalisierung erfaßt wurden, so handelt
es sich jetzt um das gesamte Spektrum der kommerziellen Bereiche, der Verwaltung
und der Logistik: Wie zuvor die Produktionstätigkeiten mittels Industrierobotern,
so werden nun endlich auch die Bürotätigkeiten und Dienstleistungen
durch das Internet ausgedünnt oder ganz abrasiert.
Schon die erste Welle oder Stufe der mikroelektronischen Revolution hatte weitaus
mehr Arbeitskräfte überflüssig gemacht, als durch die Verbilligung
der Produkte und die damit mögliche Markterweiterung vom kapitalistischen
Verwertungsprozeß wieder absorbiert werden konnten. Hatte also der Kompensationsmechanismus
der früheren Revolutionen in der kapitalistischen Produktivkraftentwicklung
schon auf der ersten Stufe der mikroelektronischen Umwälzung nicht mehr
gegriffen, so greift er auf der zweiten, durch das Internet definierten Stufe
erst recht nicht mehr. Das Resultat kann nur ein weiterer großer Schub
der strukturellen Massenarbeitslosigkeit sein: In der BRD wird es dann eben
nicht mehr bloß vier, sondern acht oder zehn Millionen Arbeitslose geben.
Auch die Folgen auf dem Weltmarkt werden dieselben sein wie bei der Anwendung
der Mikroelektronik im industriellen Produktionsprozeß: Ganze Länder
und Weltregionen, denen das Geldkapital für die Investitionskosten der
neuen Technologien fehlt, werden zusätzlich in den Ruin getrieben, wie
die publizistischen Trommler für die wunderbare kommerzielle Internet-Revolution
sehr gut wissen: "Der Wettbewerb wird sich verschärfen. Dramatisch
wird es für Marktteilnehmer werden, die sich nicht auf die neue Situation
einstellen können" (Handelsblatt v. 1.3.2000). Was betriebswirtschaftlich
gilt, ist aber auch volkswirtschaftlich hochzurechnen. Da wird die Nato wieder
viel Friedensarbeit zu leisten haben in den neuen Zusammenbruchsregionen.
Natürlich will das herrschende Bewußtsein einer allgemeinen kommerziellen
Web-Euphorie von solchen Konsequenzen nichts wissen. Gegen alle Erfahrung mit
der Anwendung mikroelektronischer Rationalisierung in den letzten zwanzig Jahren
soll nun ausgerechnet das Internet zur "Jobmaschine Nummer eins" (Wirtschaftswoche)
werden. Aber schon jetzt, noch im Vorfeld der großen Wegrationalisierung
von Arbeitskraft durch B2B, zeigt sich das krasse Mißverhältnis von
Freisetzungspotential einerseits und zusätzlich für das E-Business
benötigten Arbeitskräften andererseits. Angeblich wird die E-Jobmaschine
gegenwärtig nur durch den Mangel an Fachkräften gebremst. Aber das
Räsonnement über die künftige wundersame Jobvermehrung dementiert
sich selbst bis zur Lächerlichkeit:
"Frappierend ist das Tempo, mit dem die Stars am Jobhimmel ihr Personal
aufstockten, allen voran die frisch gegründeten, vielfach am Neuen Markt
notierten Firmen. Die 1&1 AG, Spitzenreiter der Neuen Wirtschaft..., verdoppelte
in den zurückliegenden zwei Jahren ihre Belegschaft - ohne Firmenübernahmen
- auf 1700 Beschäftigte...Bei der Jenaer E-Commerce-Schmiede Intershop
heuerten die vergangenen beiden Jahre mehr zusätzliche Computerfreaks an,
als bis dahin für das Vorzeige-Startup arbeiteten. Geht es nach den Planzahlen
der IT-Gemeinde, ist der Schwenk der Jobmaschine in Richtung New Economy unumkehrbar...Die
Deutsche-Telekom-Tochter T-Mobil etwa, erfolgreichster Arbeitsbeschaffer unter
den Telefonie-Anbietern hier zu Lande, will dieses Jahr zu den vorhandenen rund
7500 Mitarbeitern weitere 2200 Kräfte einstellen, die Konkurrenten E-Plus
und Mannesmann Mobilfunk peilen 800 zusätzliche Leute an...Selbst Siemens
Fujitsu will in Deutschland ausbauen und die PC-Montage im thüringischen
Sömmerda dieses Jahr von derzeit 700 auf mindestens 900 Leute hochfahren.
Je kleiner die IT-Firma, desto größer der Bedarf an neuen Kräften.
Ob Basler, Haitec, Poet oder Softmatic - für viele IT-Aufsteiger am Neuen
Markt gehört die Verdoppelung der Belegschaft von Anfang 1999 bis Ende
2000 zum Kursfeuerwerk wie die Suchmaschine zum Internet...Der Hamburger Multimediaspezialist
Management Data will bis Ende dieses Jahres mit 145 Angestellten fast dreimal
soviele Leute unter Vertrag haben wie 24 Monate zuvor. Die Münchner Softwareberatung
Bmp plant für Anfang 2001 rund 100 Gehaltsempfänger, fast eine Verfünffachung"
(Wirtschaftswoche 11/2000).
Kunststück, wenn die Ausgangsbasis derart absurd klein ist. Offenbar will
der Autor dieser Lobes- und Hoffnungshymne seine Leser auf den Arm nehmen. Während
das zusätzliche Freisetzungspotential nach Millionen zu zählen ist,
geht die absehbare Reabsorbtion von Arbeitskraft gerade mal in die Hunderte,
bestenfalls in die Tausende. Allein um die bereits vor der Kommerzialisierung
des Internet entstandene Millionenmasse von Arbeitslosen aufnehmen zu können,
müßten die E-Commerce-Unternehmen und Software-Klitschen bei den
angegebenen Dimensionen ungefähr ein halbes Jahrtausend lang boomen. Als
Jobmaschine kann man die "New Economy" vergessen - damit aber auch
als realen Wachstumsträger von "Wert", das heißt von "geronnenen"
gesellschaftlichen Arbeitsquanta. Im Internet kann sich das Kapital genausowenig
reinkarnieren wie in der mikroelektronischen Industrie oder in den Humandienstleistungen.
Das globale Web-Business setzt nur jenen Geisterkapitalismus fort, dessen ruhelose
Seele die für sich allein auf Dauer nicht lebensfähige aufgeblasene
Börsenkapitalisierung ist.
In der Tat besteht das Neue an der "New Economy" vor allem darin,
daß sie das ausschließlich spekulativ genährte Scheinwachstum
verlängert, und zwar auf eine noch viel windigere Weise als bisher schon.
Ein erheblicher Teil der E-Business-Phantasie war sowieso von vornherein auf
die Börse gerichtet; und eine ganze Reihe der "neuen" Unternehmen
stellen nicht einmal virtuelle Waren her, sondern offerieren schlicht als sogenannte
Discountbroker (Online- und Telefonbroker) die sekundenschnelle Abwicklung von
Aufträgen und "Realtime"-Informationen über die Kursentwicklung
für die rapide wachsende Masse der Amateur-Börsenzocker, bestehend
aus Minderjährigen, Hausfrauenclubs und Möchtegern-Cleverles jeden
Alters und aus allen Bevölkerungsschichten. Für lumpige 99 Mark gibt
es die Börsensoftware "Money Maker classic"; und sogar die technischen
Innovationen sind zunehmend auf die Börse zugeschnitten: Mit dem "intelligenten
Handy" kann man jetzt nicht nur Einkäufe bezahlen, sondern direkt
Börsen-Transaktionen abwickeln - am Strand, im Auto oder im Bett.
Wie der Internetkapitalismus die zweite Stufe der Wegrationalisierung von Arbeitskraft
bildet, so bildet er auch die zweite Stufe der fiktiven Börsenkapitalisierung.
Nachdem absehbar geworden war, daß sich das spekulative Potential der
als "Blue Chips" bezeichneten klassischen Industrie- und Dienstleistungskonzerne
Ende der 90er Jahre erschöpfen würde, mußte dem Voodoo-Finanzkapitalismus
ein neues Feld eröffnet werden. In Wahrheit besteht die "New Economy"
vor allem aus einem zusätzlichen Segment der Aktienmärkte, das sich
(ausgehend von den USA) als sogenannter "Neuer Markt" mit eigenen
Indizes etabliert hat. Das ist kein neuer Markt für reale Warenproduktion,
sondern eben für neue Aktienpakete ohne jeden nennenswerten Verwertungsprozeß.
So trat in New York seit Mitte der 90er Jahre der Nasdaq Composite neben den
altbekannten Dow-Jones-Index; und in der BRD macht der Nemax-Index des "Neuen
Marktes" (Nemax Allshare und Nemax 50) dem Dax Konkurrenz. Auch die Börse
Tokio hat im Januar 2000 mit dem Segment "Mothers" den ersten Ansatz
eines "Neuen Marktes" lanciert, dem bald mit Nasdaq Japan der "Quantensprung"
folgen soll. Sogar die aufstrebende junge Börse in Polen liebäugelt
schon damit, diesen Beispielen zu folgen. Zu erwarten ist, daß solche
neuen Aktienmärkte in kürzester Zeit an allen Börsen aus dem
Boden gestampft und mit eigenen elektronischen Handelssystemen versehen werden.
Es ist eine Flut von Neuemissionen, die da an die Börse drängen (inzwischen
zwanzig bis dreißig in einem Monat!) - mit dem einzigen Zweck, durch wilde
Kurssprünge nach oben Geld aus dem Nichts zu scheffeln. Angehängt
an den Internet-Boom haben sich alle möglichen Unternehmungen, die bis
dahin niemals als Aktiengesellschaften in Frage gekommen wären. In Frankfurt
und London geht sogar die Börse selbst an die Börse (mit B-Aktien
der jeweiligen Börsenvereine). Börsennotiert und webaktiv ist inzwischen
auch der altbekannte deutsche Sexversand Beate Uhse. Das Geschäftsergebnis
ist zwar offenbar mager: "Nur verhältnismäßig wenige allerdings
bestellen dann online Artikel wie das Strapshemd >Lustkracher< oder die
Gleitcreme >Glitschi<..." (Der Spiegel 10/2000). Aber darauf
(nämlich auf reale Gewinne) kommt es ja auch schon längst nicht mehr
an, sondern eben auf eine möglichst schnelle und exorbitante Börsenkapitalisierung
am "Neuen Markt".
Das gilt für die gehätschelten jungen Internet-Gründer doppelt
und dreifach. Während es bei den "Blue Chips" noch eine haltlose
Gewinnphantasie für das vermeintlich vor der Tür stehende Wirtschaftswunder
war, von der die Kurse nach oben getrieben wurden, ist der "Neue Markt"
jetzt schon so weit, daß es fast als schädlich für die Kursphantasie
gilt, wenn ein soeben an die Börse gegangenes junges E-Unternehmen nicht
happige Verluste macht. In den USA wurde dafür der Begriff der "Cash
Burn Rate" geprägt:
"Dahinter steckt letztlich nur eine Frage: Wie viel Geld verbrennen Gründer
beim Gründen? Gemeint ist die Höhe aller monatlichen Ausgaben - für
Personal, Investitionen und Marketing -, die bei Web-Startups inzwischen üppige
Dimensionen erreicht. So verpulvern High-Tech-Schmieden in der Regel schon im
ersten Jahr 2,5 bis 5 Millionen Euro; Marketingausgaben können dabei bis
zu 50 Prozent ausmachen. Das Interessante daran: Je höher die Cash Burn
Rate (CBR), so die gängige Faustformel, desto erfolgreicher das Startup.
So ist eine monatliche Rate von 500.000 Euro für Internetgründer normal...Spätestens
durch Startups wie Amazon.com oder Yahoo wurde klar: Wer im Web was werden will,
muß mit ordentlich PS auf den Datenhighway, um eine starke Marke aufzubauen.
Gewinne waren plötzlich egal, Anlaufverluste geradezu ein Wachstumsindex...Den
Rekord in Sachen CBR hält noch immer Amazon.com. Der erst fünf Jahre
alte Onlinebuchhändler fuhr allein im vierten Quartal 1999 bei einem Umsatz
von 676 Millionen Dollar einen Verlust von 185 Millionen Dollar ein. Das entspricht
einer Verbrennungsquote von rund 60 Millionen Dollar im Monat. Auch nicht schlecht:
der Dienstleistungsmarktplatz Smarterwork.com. Erst kürzlich schlossen
die Briten eine Finanzierungsrunde über 12 Millionen Dollar ab, die vermutlich
nur für die nächsten sechs Monate reichen wird. Dasselbe Bild hier
zu Lande: Die Meinungsportale Ciao.com und Dooyoo.de beispielsweise rechnen
derzeit mit jeweils rund zehn Millionen Euro Anlaufverlusten bis zum Jahr 2002..."
(Wirtschaftswoche 11/2000).
Kein Wunder, daß unter den "Zehn Geboten für Revolutionäre"
in der E-conomy das neunte lautet: "Trachte nach Potential - Gewinne sind
egal" (Wirtschaftswoche 33/1999). Während der große Konsumgüterproduzent
Procter & Gamble Anfang März 2000 an der New Yorker Börse für
eine bloße Gewinnwarnung (die Ankündigung nicht etwa von Verlusten,
sondern von etwas weniger Gewinn) mit einem drastischen Kurssturz von mehr als
30 Prozent bestraft wurde und damit seinen zwölfjährigen Höhenflug
als "Blue-Chip" beenden mußte, rasten gleichzeitig die Kurswerte
am "Neuen Markt" ohne jede Rücksicht auf solche Nebensächlichkeiten
nach oben. So wurde etwa als Erfolgsmeldung berichtet, daß die Tomorrow
Internet AG (Hamburg) im Geschäftsjahr 1999 "nur" 15,46 Millionen
Mark Miese gemacht hat und das Ergebnis damit "um 18 % besser ausfiel als
der ursprünglich geplante Verlust..." (Handelsblatt v. 6.3.2000).
Natürlich wissen alle längst, daß das Gerede von bloßen
"Anlaufverlusten" für das Gros der neuen Aktiengesellschaften
nichts als Augenwischerei ist. Die Broker selber machen sich schon lustig über
das Wortgeklingel der hoffnungsvollen Internetkapitalisten:
"Fondsmanager und Analysten in Frankfurt spielen Bullshit-Bingo: Bei Präsentationen
haken sie Schlagworte ab, sobald der Vorstandschef sie in den Mund genommen
hat. Der Manager, der die meisten Worthülsen genannt hat, gewinnt. >Internetphantasie<
allein genügt nicht mehr, um Kurssprünge zu provozieren. Seit auch
der letzte Investor mitbekommen hat, daß Unternehmen sich die Größe
ihres Marktes nach Belieben herunterdefinieren, imponiert auch der >Marktführer<
kaum mehr...Niemals fehlen die Hinweise auf das erwartete tausendprozentige
Wachstum im E-Commerce. Etwas wird schon am Unternehmen hängen bleiben,
so das Kalkül der Sprachstrategen. Eine Internetseite hat heute jeder -
folgerichtig verklärt sich jedes Angebot zum Internetportal...Wunderbar
auch >Migration-Play<: So tauften Banker die Wette auf ein Unternehmen,
das sein klassisches Geschäft aufs Internet überführt (migriert).
Profane Aktien werden so im Handstreich auf Technologie getrimmt..." (Wirtschaftswoche
10/2000).
Aber Banken, Groß- und Kleinanleger machen mit, weil es in Wahrheit nicht
um mehr als zweifelhafte zukünftige Geschäftserfolge geht, sondern
vielmehr der "Gier-Faktor" alle auf phantastische Kurszuwächse
von 100, 200 oder noch mehr Prozent in kürzester Zeit hoffen läßt.
An der "Traumfabrik Neuer Markt" (Handelsblatt) verdoppeln
sich die Ausgabekurse der Neuemissionen oft schon innerhalb eines einzigen Tages.
Inzwischen hat sich sogar das Lottospiel direkt mit der neuen Börsenzockerei
verschränkt: Beim "Spiel 77" waren im März 2000 Aktienpakete
im Wert von je 10.000 Mark zu gewinnen. Wie die Pilze schießen sonderbare
Mini-Unternehmen mit einer Handvoll Beschäftigten aus dem Boden, die sich
am "Neuen Markt" zu sagenhaftem Reichtum hochkapitalisieren. So ging
das virtuelle Auktionshaus Ricardo.de 1999 mit 20 Beschäftigten, 5,7 Millionen
Mark Umsatz und 2,5 Millionen Mark Verlust an die Börse, um über Nacht
plötzlich 500 Millionen Mark "wert" zu sein (gemessen am Emissionsjahr
wäre das der Gegenwert von fast 100 Jahren des realen Umsatzes). Nachdem
die Kurse etwas zurückgegangen waren, gründete das Miniaturunternehmen
eine "Tochter" namens RicardoBIZ, die zum Beispiel die Vermietung
von Arbeitsräumen der Uni Frankfurt an Meistbietende vermittelt.
Dabei ist neuerdings auch wieder jener Lars Windhorst, der Mitte der 90er Jahre
zum Lieblingsjugendlichen von Mafia-Altkanzler Kohl aufgestiegen war, weil er
schon im zarten Alter von 17 Jahren genügend soziale Stupidität aufbrachte,
um als Unternehmensgründer von sich reden zu machen. Nachdem der smarte
Geldjüngling das spekulative Projekt eines Büroturms für das
vietnamesisch-deutsche Geschäftsleben in den Sand gesetzt hatte, verschwand
er in der Versenkung - um pünktlich zur Jahrhundertwende als inzwischen
23-jähriger alter Hase wieder aufzutauchen, selbstverständlich mit
einer Firma für verheißungsvolle Internet-Ideen, die ebenso selbstverständlich
den "Börsengang" ansteuert. Vorgemacht haben es in der BRD Jungunternehmer
mit ökonomischen Luftnummern wie der 39jährige Paulus Neef mit der
Multimedia-Agentur Pixelpark (42,4 Millionen Mark Umsatz, 4,2 Millionen Mark
Verlust, 6,1 Milliarden Mark Börsenwert), der 29jährige Stephan Schambach
mit dem E-Commerce-Unternehmen Intershop (Umsatz 90 Millionen Mark, Verlust
37 Millionen Mark, Börsenwert 16 Milliarden Mark) oder der 31jährige
Karl Matthäus Schmidt mit dem Discountbroker Consors (Umsatz 117,8 Millionen
Mark, Gewinn 24,5 Millionen Mark, Börsenwert 8,2 Milliarden Mark). Zusammen
übertreffen die drei Kleinfirmen mit rund 30 Milliarden Mark den selber
schon überhöhten Börsenwert von Volkswagen, einem realen Großunternehmen
mit 147 Milliarden Mark Umsatz (Angaben nach: Der Spiegel 9/2000).
Unter solchen Bedingungen mußte sich die zweite Finanzblase des "Neuen
Marktes" noch schneller und noch größer aufblähen als die
erste der traditionellen Aktienmärkte. Übertraf schon das spekulative
Niveau der "Blue Chips" alle historischen Rekorde, so setzte die Internet-Spekulation
noch eins drauf: Schon wenige Jahre nach seiner Gründung überflügelte
der Nasdaq-Index den Dow Jones ebenso wie der Nemax den Dax. So ist inzwischen
von einer Scherenbewegung der Aktienkurse die Rede: Während die Werte der
"Blue Chips" und andere traditionelle Aktienwerte nach zehn bis fünfzehn
Jahren exorbitanter Steigerung stagnieren oder zurückgehen, setzt sich
das Kursfeuerwerk nun mit einer qualitativ neuen Intensität an den frisch
etablierten "Neuen Märkten" fort.
Hatten die traditionellen Unternehmen, die wenigstens überhaupt noch etwas
herstellen, ein selber schon historisch beispiellos überzogenes Kurs-Gewinn-Verhältnis
(KGV) von rund 30:1 erreicht, so liegt das KGV beim Nasdaq Composite (und ähnlich
auch in der Spitze der deutschen Nemax-Werte) bei mehr als 200:1. Kein Wunder,
daß diese klassische Messlatte für den Marktwert von Aktien bei den
E-Euphorikern nichts mehr gilt: "KGV interessiert nicht" (Financial
Times Deutschland v. 15.3.2000), heißt es inzwischen in diesen
Kreisen. Da wird es selbst der US-Notenbank Fed unheimlich, die in ihrem halbjährlichen
Rechenschaftsbericht Ende 1999 warnte, die Nasdaq-Kurse reflektierten "im
Vergleich mit historischen Normen ungeheuerlich hohe Gewinnerwartungen"
(zit. nach: Neue Zürcher Zeitung v. 29.2.2000). Es ist in der Tat
unvorstellbar: Die Börsenkapitalisierung der Nasdaq beträgt im ersten
Quartal 2000 mit der Summe von fünf Billionen Dollar bereits 60 Prozent
des gesamten Sozialprodukts der USA, der Anteil der betriebswirtschaftlichen
Wertschöpfung aus dem Netz dagegen liegt bei gerade mal drei Prozent; ganz
zu schweigen vom realen Anteil an Produktion, Umsatz und Beschäftigung.
Jedes Kind kann sich ausrechnen, daß dieser virtuelle Scheinkapitalismus
noch viel unhaltbarer ist als die spekulative Vorwegnahme eines traditionellen
Wirtschaftswunders bei den "Blue Chips", das ebenfalls nie mehr nachfolgen
wird. Das Internet revolutioniert in der Tat die Kommunikationsmöglichkeiten,
aber in Wahrheit über den Kapitalismus hinaus. Eine tragfähige kapitalistische
"Webwirtschaft" wird es mangels Produktion und Beschäftigung
nicht geben. Außerdem ist der E-Commerce äußerst anfällig,
denn es erweist sich als ziemlich aufwendig, die weitgehend (von den Telefongebühren
abgesehen) kostenlose Nutzung des globalen Netzwerks in einem wirklich großen
Maßstab als kapitalistisches Angebot zu organisieren und dabei die kommerzielle
Abwicklung störungsfrei sicherzustellen. Dieselbe Kostenlosigkeit, die
betriebswirtschaftlich als Kostenkiller erscheint und dadurch zum Beschäftigungskiller
wird, führt den Kapitalismus endgültig ad absurdum. Und nicht nur
in negativer Hinsicht, nämlich als Abschied von einer Welt der abstrakten
Arbeit, sondern auch als positiver Vorschein: Das Internet verweist auf eine
Welt jenseits des Kaufens und Verkaufens, auf ein wechselseitiges Gratis-Verhältnis
bewußt vergesellschafteter Individuen, während ein Gratis-Kapitalismus
ein Widerspruch in sich wäre. Mehr oder weniger deutlich spüren diesen
Impuls auch die Websurfer und Hacker, die sich gegen die Kommerzialisierung
des Internet wehren und durchaus das Know-how für eine effiziente elektronische
Sabotage besitzen. Das zeigte sich Anfang 2000, als anonyme Angreifer in den
USA und der BRD die Portale namhafter Web-Kapitalisten stundenlang blockierten
und damit eine aufgeregte Debatte unter Bankern, Politikern und Geheimdiensten
über den Schutz des heiligen Privateigentums an virtuellen Produktionsmitteln
im Cyberspace auslösten.
Die eigentliche revolutionäre Bedeutung des Internet könnte in seinem
Gehalt als postkapitalistisches Universalmedium liegen, das innerhalb der kapitalistisch
verfaßten Gesellschaft vor allem der oppositionellen Kommunikation dient.
An kapitalistisch denkende und handelnde Menschen ist ein solches Universalmedium
sowieso verschwendet, denn was hätten diese einander mitzuteilen, das der
Rede wert wäre? Außer kindischem Geplapper und wechselseitigem Verkäufergrinsen
nichts gewesen. Als Medium einer sozialen Gegen- und Massenbewegung dagegen
hat das Internet Zukunft. Es könnte die Konkurrenz durch globale Direktkommunikation
aufheben und würde perspektivisch zum Kinderspiel machen, was der Räte-Idee
immer als angebliche praktische Unmöglichkeit vorgehalten wurde: die unmittelbare
Interaktion einer globalen Selbstverwaltungsgesellschaft ohne Geld und ohne
Staat. Der verborgene Sinn des "World Wide Web" ist ein global vernetztes
elektronisches Rätesystem. Die falschen Blütenträume vom Internetkapitalismus
dagegen können nur noch eines: nämlich platzen.