Robert Kurz
Gibt es ein Leben nach
der Marktwirtschaft?
Überlegungen
zur Transformation des warenproduzierenden Systems (1. Teil)
Wenn der Staatssozialismus der Versuch einer nachkapitalistischen Gesellschaft
war, dann macht dessen Zusammenbruch jede grundsätzliche Kapitalismuskritik
zum aussichtslosen Unternehmen, das man besser bleiben lassen sollte. Diese
Konsequenz hat der grösste Teil der ehemaligen DDR-Intelligenz ebenso gezogen
wie die meisten linken, grünen usw. Gesellschaftskritiker im Westen. Viele
von ihnen behaupten, immer noch Kapitalismuskritik zu üben, freilich nur noch
in den Grenzen der kapitalistischen Produktionsweise selbst. Das ganze Problem
ist nicht historisch aufgearbeitet; man hat nur Kreide gefressen und verkauft
dies als "Realismus": ohne "richtige" Preise, Rentabilität usw. gehe es eben
nicht. Die bedingungslose Kapitulation vor den blinden systemgesetzlichen Kriterien
des Marktes transformiert die Gesellschaftskritik zwangsläufig zu einem harmlosen
Verschönerungsverein herunter: ein bisschen Frieden, ein bisschen Sozialverträglichkeit.
Wenn der Staatssozialismus aber im wesentlichen ein Projekt "nachholender Modernisierung"
im Osten und Süden des Planeten war, entstanden aus den Problemen kapitalistischer
Unterentwicklung, dann konnte er gar keine nachkapitalistische Gesellschaft
sein. Vielmehr reflektierte er unter diesen Bedingungen das Problem der historischen
Späteinsteiger in das moderne warenproduzierende System, die beim besten Willen
noch nicht über diesen Horizont hinausgehen konnten. Lenin wusste das übrigens,
soweit man das damals überhaupt wissen konnte. Erst später wurde das Problem
im Interesse der Selbstbehauptung ideologisiert.
Ist der Mensch ein geldverdienendes Wesen?
Was aber wäre dann die eigentliche Überwindung des Kapitalismus, die nicht
mehr vom Problem der historischen Späteinsteiger bestimmt sein würde,
sondern von der Überentwicklung der Welt-Marktwirtschaft selbst? Logischerweise
wäre es die Transformation des warenproduzierenden Systems zu einer höheren
Vergesellschaftungsweise ohne die Fetischformen von Ware und Geld. Das war die
Grundauffassung von Marx, für die er jetzt als Depp hingestellt wird -
ausgerechnet von den ehemaligen Repräsentanten der "ideologischen Apparate"
des Marxismus. Damit verewigen heute Linke wie Bürgerliche gleichermassen
ideologisch eine Produktions- und Lebensweise, die als Totalisierung der Warenform
in Wirklichkeit nur einen winzigen Zeitabschnitt der menschlichen Geschichte
ausmacht. Das moderne Geldverdiener-Bewusstsein wird zur ewigen menschlichen
Bewusstseinsform schlechthin stilisiert. Dass die Aufhebung von Ware und Geld
als Zumutung und geradezu als Aberwitz erscheint, und dass sich die Verächter
eines solchen Gedankens mit dem Massenbewusstsein in stummer Übereinstimmung
fühlen können, zeigt nur die Befangenheit in einem gemeinsamen historischen
Bezugssystem, das mit der eigenen Identität verwachsen scheint und in das wir
alle hineinsozialisiert worden sind (die Intellektuellen auch in theoretischer
Form). Eine Kritik, die an diesen Kern rührt, wäre tatsächlich nur unter
einer Bedingung nicht hoffnungslos: dann nämlich, wenn die totale Warengesellschaft
durch ihre eigene blinde Systemgesetzlichkeit in eine ausweglose Krise hineinschlittert.
Gerade die Linken wollen davon nichts sehen, nichts mehr hören, und nichts
dazu sagen (die berühmte Gebärde der drei Affen); blindes Vertrauen in
die angeblich ewige "Anpassungsfähigkeit" des Kapitalismus wird beschworen.
Ob sich aber die Realität an die Ignoranz der grossen Koalition von "Realisten"
hält? Wenn die grosse Krise stattfindet, dann im "arbeitsgesellschaftlichen"
Zentrum der Warenproduktion. Gebt uns "Arbeit"!, fordern die Menschen; und die
politische Klasse, die Gewerkschaften usw. streiten allein darüber, wie
denn "Arbeitsplätze" geschaffen werden könnten und wie der "Standort Deutschland"
zu halten sei. Gemeint ist aber nicht menschliche Produktions- und Lebenstätigkeit
schlechthin, sondern stillschweigend immer schon die Verwandlung von "abstrakter
Arbeit" (Marx) der Warenproduktion in Geld: in Lohn und Profit also. Noch vor
150 Jahren hat das kaum jemand für normal gehalten. Nicht nur wegen der
niedrigen Löhne und der furchtbaren Arbeitsbedingungen, sondern weil es überhaupt
als ungeheuerliche Zumutung erschien, morgens um 7 oder 8 pünktlich in einem
potthässlichen Gebäude zu erscheinen und dort bis zum Abend zu "arbeiten"
in einem Zusammenhang, der nicht durch selbstbestimmte gemeinsame Ziele definiert
ist, sondern durch einen abstrakten Staatsplan und/oder durch die anonymen Sachgesetzlichkeiten
des Marktes. Selbst den Hörigen und Sklaven wurde nicht die volle Lebenszeit
für fremdbestimmte Tätigkeit abverlangt, sondern nur ein Teil. Die "Arbeit"
im heutigen Sinne (fremdbestimmt für Geld) wurde als eine Art schändliche
Prostitution empfunden.
Nun gut, wir haben uns daran gewöhnt, Prostituierte der Warenproduktion zu
sein und unsere Körper tagtäglich der abstrakten Arbeit auszuliefern. Die
historische Belohnung dafür war eine Erweiterung der Bedürfnisse: Autos, Tourismus,
Waschmaschinen, Fernseher und Telefonanrufbeantworter. In der neuen Massenarbeitslosigkeit
aber wird uns sogar noch die Selbstprostitution zunehmend verweigert, und damit
natürlich auch die Konsum-Gratifikation (neue Armut). Die Linken wie die Bürgerlichen
hoffen darauf, dass es sich auch diesmal wieder um eine bloss vorübergehende
Stockung im Verwertungsprozess des Geldes handeln wird, und dass schon bald
ein neues "Akkumulationsmodell" winkt und lacht. Dies soll im wesentlichen durch
eine Erhöhung der Produktivität geschehen. Und wodurch wird die Produktivität
erhöht? Durch Rationalisierung. Aber werden nicht die Arbeitsplätze gerade
"wegrationalisiert"? Irgendetwas scheint da nicht zu stimmen.
Der Zusammenbruch der
"Arbeit"
Seit den ersten grossen Schüben der Rationalisierung in den Autofabriken von
Henry Ford zu Beginn dieses Jahrhunderts war es zunächst vor allem die menschliche
Arbeitstätigkeit selbst, die in ihrem Vollzug rationalisiert wurde (Taylorismus,
Fliessband usw.). Erst dadurch verbilligten sich die marktwirtschaftlich hergestellten
Güter so stark, dass sie in den Massenkonsum eingehen konnten. Die so entstehende
"fordistische" Massenproduktion brauchte nicht weniger, sondern immer mehr Lohnarbeiter.
Denn die Zeitersparnis bei einzelnen Arbeitsschritten wurde bei weitem durch
die Ausdehnung der Märkte übertroffen. Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts
setzte sich auf diese Weise die "betriebswirtschaftliche Rationalität" der
Marktwirtschaft, die vorher nur ein gesellschaftliches Segment gewesen war,
als totale Reproduktionsform durch. Waren bis dahin Lohnarbeit und Marktwirtschaft
noch durchsetzt mit anderen (hauswirtschaftlichen, kommunalen etc.) Reproduktionstätigkeiten,
die nicht oder nicht hauptsächlich über Geld liefen, so wurde die Logik des
Zusammenhangs von "Arbeit"-Geld-Konsum jetzt erst zur lückenlosen Normalität
der Massen. Aber seit Beginn der 80er Jahre hat die Weltmarkt-Konkurrenz eine
neue Art der Rationalisierung geboren, deren technisch-wissenschaftlicher Träger
die Mikroelektronik ist. Jetzt wird nicht mehr die menschliche Arbeitskraft
innerhalb ihrer Tätigkeit rationalisiert, sondern immer mehr "Arbeitsplätze"
werden sowohl durch Robotik und Steuerungssysteme als auch durch informationelle
Straffung (Lean Production) völlig ersetzt. In genauer Umkehrung des früheren
Prozesses beginnt die Rationalisierung die (ohnehin ökologisch prekäre) Ausdehnung
der Märkte unaufhaltsam zu überholen. Deswegen haben wir es weniger mit einer
zyklischen (immer wieder vorübergehenden), sondern mit einer strukturellen
(dauerhaften) Massenarbeitslosigkeit zu tun. Von Zyklus zu Zyklus erhöht sich
die "Sockelarbeitslosigkeit", ohne dass irgendeine Problembewältigung in Aussicht
wäre.
Dieser Krisenprozess ist nicht bloss ein sozialer, sondern auch einer der Kapitalakkumulation
selbst. Denn Geld "ist" nichts als die "Darstellungsform" toter Arbeit, und
Kapital "ist" nichts als die Verwertungsbewegung des kapitalisierten Geldes.
Mit dem Wegrationalisieren der "Arbeit" frisst das Kapital also seine eigene
Substanz, vergleichbar jener neuen in England aufgetauchten Krankheit gewebefressender
Killerbakterien. An der Marktoberfläche erfährt dies das Management daran,
dass Roboter und vernetzte Strukturen nichts kaufen. Der absurde Systemwiderspruch,
dass mit immer weniger "Arbeit" immer mehr Güter hergestellt werden, gleichzeitig
aber die Aneignung dieser Güter an Kaufkraft (Geld) und somit allein an die
"rentable" Verausgabungsfähigkeit von "Arbeit" gebunden ist, tritt in sein
historisches Reifestadium ein. Der kritische Punkt wird dabei nicht erst dann
erreicht, wenn der letzte kapitalproduktive Arbeiter das Licht ausmacht, sondern
natürlich bereits lange vorher in dem Masse, wie der gewaltige Kapitalstock
durch die selbstproduzierte Verminderung der Arbeits-"Substanz" dauerhaft nicht
mehr ausreichend weiterverwertet werden kann. Der Verwandlung der zyklischen
in eine strukturelle Massenarbeitslosigkeit entspricht die Verwandlung der zyklischen
in eine strukturelle "Überakkumulation" des Kapitals. Damit wird die absolute
historische Systemschranke markiert.
Vom Krisenexport zur
Armutsverwaltung
Diese deutliche Systemschranke konnte zunächst von den kapitalstärkeren Ländern
über den Weltmarkt durch "Krisenexport" abgefedert werden. Die Krise wurde
seit Beginn der 80er Jahre teilweise durch die globale Konkurrenz (Import/Export-Preise)
auf die kapitalschwächeren historischen Nachzügler des warenproduzierenden
Systems abgewälzt. Der Staatssozialismus und grosse Teile der Dritten Welt
erlebten einen Wirtschaftszusammenbruch, weil sie dem kapitalintensiven Produktivitätswettlauf
nicht mehr folgen konnten, sich aber ihrer eigenen Form nach an den Kriterien
des warenproduzierenden Systems messen lassen mussten. Aber mit der zwangsweisen
Abkoppelung und Verarmung grosser Teile der warenförmigen Weltwirtschaft setzt
sich der Krisenprozess nun bei den verbliebenen Konkurrenzteilnehmern fort in
einer sich verengenden Spirale.
Dabei mag es noch diese oder jene Gewinner-Verlierer-Konstellation geben, an
der globalen Strukturkrise ändert dies nichts mehr. Die Kapitalakkumulation
müsste zuletzt sozusagen substantiell auf Bierdeckelgrösse stattfinden. Das
Resultat ist eindeutig: überall, auch in den westlichen Zentren selbst, werden
quasi system-automatisch wachsende Teile der Bevölkerung aus jeder menschenwürdigen
Reproduktion ausgegrenzt; ihr Leben wird den Fetischkriterien der Warenproduktion
geopfert. Noch nicht einmal aus subjektiver Böswilligkeit, sondern weil es
sich um einen gemeinsamen Systemirrsinn handelt. Die Reaktionen auf dieses offene
Verrücktwerden der Marktwirtschaft sind durchwegs panisch. Um des Geldeinkommens
willen wird sogar sinnlose und gemeingefährliche "Arbeit" forciert; die ökologischen
Auflagen werden heruntergefahren, die Zerstörung der Welt beschleunigt sich.
Die Linken und Grünen, die sich den Kriterien der Marktwirtschaft ausgeliefert
haben, müssen nun beten, dass die Akkumulation des Kapitals wieder anspringen
möge. Kein beneidenswerter Part.
Wenn man ökonomisch nicht mehr weiterweiss, dann ertönt unvermeidlich der
quengelige Ruf nach dem Staat und nach "politischer Gestaltung" der Wirtschaftskatastrophe.
Aber da es sich eben um eine Systemkrise handelt, ergreift sie nach dem Waren-
und Arbeitsmarkt auch den Staat als zweite zentrale Instanz der totalen Warenproduktion.
Der Staat besitzt nämlich gar kein eigenes Eingriffsmedium, denn er muss sich
selbst, seine "Macht" und seine sozialen bzw. ökologischen Massnahmen im Medium
des Marktes darstellen: in Geld. Wenn er nicht mehr genug Geld aus "gelingenden"
Marktprozessen abschöpfen kann, ist auch er am Ende. Überschuldung und substanzlose
Geldschöpfung durch die Notenpresse führen nur in die Hyperinflation (heute
bereits der "Normalzustand" in den meisten Ländern). Damit aber kommt eine
marktwirtschaftlich eingeschworene Linke erst recht in Teufels Küche. Denn
etwas anderes als irgendeine staatliche Steuerung oder Umverteilung von Geld
hat sie ja nie gelernt. Das Ende vom Lied muss dann zwangsläufig das verschämte
Mitmachen bei der antisozialen Armutsverwaltung im Namen des Finanzierbarkeitsterrors
sein, in dessen Bann die "realistischen" Spitzen der Grünen bereits einzutauchen
beginnen. Wenn der Kolbenfresser der Geldmaschine unüberhörbar wird, dann
kommt eine lang verschüttete Fragestellung ans Tageslicht, die jedem marktwirtschaftlichen
"Realismus" Hohn spricht: die Menschen müssen die Kontrolle über ihr eigenes
Leben gewinnen, die sie an Markt und Staat verloren haben. Denn in den letzten
200 Jahren ist die persönliche Abhängigkeit vom Feudalherrn zunächst nur
abgelöst worden durch die Abhängigkeit von der Staatsbürokratie in den verschiedenen
Modernisierungsdiktaturen. Die (neo)liberale Ideologie versprach demgegenüber
menschliche Autonomie durch den Markt. Aber jetzt zeigt sich, dass die subjektlose
Diktatur des Geldes erst recht jede Autonomie und Selbstbestimmung ausschliesst
und die Eigeninitiative erst recht abtötet, weil sie diese dem absurden Gesetz
der Rentabilität unterwirft. Die Mehrzahl der heutigen Menschheit ist leider
unrentabel geworden. Marktzwänge und Staatsbürokratie sind nur die beiden
Seiten derselben System-Medaille. Der Weg aus dieser Misere kann zunächst nur
allgemein formuliert werden: gefordert ist die Entfaltung autonomer, gemeinschaftlicher
Tätigkeiten und Reproduktionsformen jenseits von Markt und Staat. Dazu bedarf
es praktischer Versuche und einer interdisziplinären neuen Theoriebildung mit
dem Ziel, die historische Krise des warenproduzierenden Weltsystems in eine
positive Aufhebung zu verwandeln. Wer allerdings nicht sucht, der kann auch
nicht finden. Als billiges Supermarkt-Angebot wird die Systemtransformation
nicht zu haben sein.
"Neues Deutschland" - 18./19.06.1994
Robert Kurz
Gibt es ein Leben nach der Marktwirtschaft?
Überlegungen zur Transformation des warenproduzierenden Systems (2. Teil)
Auch wenn der Krisendruck schon das Gebälk der Warengesellschaft splittern
lässt: wer ein Leben jenseits von Geldlohn und Markterfolg ansteuern will,
scheint hilflos vor einer schwarzen Wand zu stehen. Hämisch und im Basston
der Übereinstimmung mit den herrschenden Systemkriterien wird diese Tabuverletzung
vom schwadronierenden Stammesbewusstsein der Fetischfreunde quittiert, das sich
lieber auf wohlfeile Seifenblasenproduktion zurückzieht ("neue Industriepolitik",
"demokratische Regulation", "Konjunkturprogramme auflegen", oder gar "deutsche
Interessen wahrnehmen"). Wenn es ernst wird, ist nur noch die militante Vertretung
irgendeiner Klientel und Lobby auf dem Schlachtfeld der blindwütigen Zahn-
und Klauen-Konkurrenz zu erwarten: Betriebs- und Branchen-Egoismus, Regionalpatriotismus
und soziale Verwilderung erscheinen wie Pestflecken auf der Haut der Gesellschaft.
Und das Motto lautet dann unverblümt: Lieber Gott, lass es für uns noch reichen,
lass zuerst die andern untergehen.
Die Entkoppelung von Zeit und Geld
Natürlich wäre es vermessen, in einer solchen Situation des am Nullpunkt angelangten
theoretischen und politischen Diskurses so zu tun, als hätte man den Stein
der Weisen gefunden. Zu lösen ist das Problem einer schrittweisen Entkoppelung
von jenem Zusammenhang, der durch die Trinität von "Arbeit"-Geld-Warenkonsum
bestimmt ist. Die "Befreiung der Zeit" ist schon seit längerem ein Stichwort,
ohne dass sich dessen Protagonisten (z.B. Oskar Negt) allerdings jemals von
der warenförmigen "Arbeit" und vom Geld lösen konnten. Die gesellschaftliche
Praxis hat inzwischen aber die Debatte über Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich
bzw. Teilzeitarbeit hervorgebracht. Damit wird das System nicht gerettet, weil
die Rationalisierung trotzdem nicht aufhört und weil die Verminderung der Geldeinkommen
den Krisenzyklus weitertreibt. Aber es handelt sich auch nicht bloss um eine
kapitalistische Unverschämtheit wie den Vollzeit-Billiglohn (oder gar die Zwangsarbeit
für Sozialhilfe-Empfänger). Denn dem verminderten Lohn entspricht ja eine
Gegenleistung: nämlich zusätzliche "disponible Zeit", die nicht der Lohnarbeit
in den Rachen geworfen werden muss. Freilich kann die gewonnene Zeit dann mangels
Geld auch nicht mehr nach fordistischem Muster mit Konsumwahn und infantilem
Techno-Spielzeug ausgefüllt werden. Aber sie böte Zeit-Raum für eben jene
autonomen Tätigkeiten jenseits von Markt und Staat.
Es kann also nicht um einen scheinradikalen Totalausstieg in isolierten Kommunen
gehen, wie ihn etwa Rudolf Bahro propagiert. Eine solche Option bleibt gesellschaftspolitisch
völlig unvermittelt und droht sektenhafte Züge anzunehmen. Der Entkoppelungsschritt
über das Eintauschen von disponibler Zeit gegen Verminderung des Geldeinkommens
schneidet dagegen die sicherlich krisenhafte gesellschaftliche Vermittlung nicht
einfach ab. Denn das Terrain der Lohnarbeit wird nicht bloss fluchtartig verlassen,
sondern bleibt in einer Art Doppelstrategie Verhandlungsmasse (z.B. teilweiser
Lohnausgleich für untere Lohngruppen, Gleichstellung der Frauen, anteilige
Sozialleistungen bei Teilzeitarbeit statt ungesicherte Jobs usw.).
Welche Reproduktions-Tätigkeiten könnten nun zunächst als autonome, nicht
mehr geldvermittelte organisiert werden? Zwei Grundgedanken mögen als Ausgangspunkt
dienen. Erstens: wenn der Markt erst allmählich in einem historischen Prozess
alle gesellschaftlichen Vermittlungen an sich gerissen hat, dann können ihm
einige dieser Zwischenglieder auch wieder entrissen werden, ohne dass die Menschen
aus der Gesellschaftlichkeit einfach herausfallen. Zweitens: die Veränderung
muss im Bereich des Einzelnen ansetzen und im Alltag praktisch erfahrbar sein.
Nur ein beliebiges Beispiel: schon eine selbstorganisierte Einkaufsgemeinschaft,
die Ebenen des Zwischenhandels ausschaltet (und besser als der Einzelne auf
ökologische und sinnliche Qualität achten kann), ist ein kleiner Entkoppelungschritt
von der flächendeckenden Logik des Geldes. Andre Gorz hat Ähnliches für
Gebiete wie Kinderbetreuung, Altenpflege, aber auch Nahrungsmittelproduktion,
Reparatur, kulturelle Aktivitäten usw. vorgeschlagen. Nicht-warenförmige Selbstverwaltung
und Selbstversorgung in Teilbereichen wäre dabei der Grundsatz. Wichtig ist,
dass diese Bereiche nicht wiederum einseitig den Frauen zugewiesen, sondern
auf beide Geschlechter verteilt werden.
Die Crux bei Gorz ist freilich, dass er diese autonomen, nicht mehr warenförmigen
Tätigkeiten indirekt doch wieder vom Geld abhängig macht, indem er durch ein
(staatliches) Subventionsmodell die Arbeitszeitverkürzung mit vollem Lohnausgleich
propagiert. Die stumme Voraussetzung ist dabei wieder die gelingende Kapitalakkumulation
und die Position des eigenen Landes als Weltmarktgewinner, d.h. es wäre letztlich
eine Subventionierung auf Kosten der Verlierer anderswo. In der Krise wird dieses
Modell hoffnungslos. Ausserdem muss Gorz dann die kapitalistische "Arbeit" in
den versachlichten Grossstrukturen völlig unangetastet lassen (ihr Fortgang
soll ja das Ganze indirekt vollfinanzieren). Die nicht-warenförmigen autonomen
Tätigkeiten bekommen so bei ihm eine Art unernsthaften Hobby-Charakter. Es
kommt aber gerade darauf an, dass diese Tätigkeiten wirklich substantiell Entkoppelungschritte
vom Geld sind und dass sie nicht als zweitrangig, als minderwertig und als blosse
Notmassnahmen oder als Zeitvertreib erscheinen, sondern eine eigene Entwicklungsperspektive
bieten.
Vor allem aber kann die Transformation nicht bei diesen Ansätzen stehenbleiben.
Es geht ja nur darum, überhaupt erst einmal ein Bein auf den Boden zu bekommen,
um die Paralyse der praktischen Kritik am totalen Marktsystem zu überwinden.
Denn Menschen, die nicht mehr total vom Geld und vom Staat abhängig sind, sondern
ein zweites Standbein in selbstverwalteten Gemeinschaftstätigkeiten haben,
können sich dann auch selbstbewusster mit der kapitalistischen Makrostruktur
in sozialer und ökologischer Hinsicht weitergehend auseinandersetzen. Die zerstörerische
Weltmarktproduktion kann auch im grossen nicht unangetastet bleiben. Zu den
autonomen Tätigkeiten gehören dann auch gesellschaftskritische Aktivitäten
und praktischer Widerstand. Die Auseinandersetzung um die sozialen und ökologischen
Systemkosten gehört hierher; ebenso die bis jetzt erst in Einzelfällen geleistete
kritische Untersuchung der von der Warenlogik erzwungenen und oft absurden stofflich-inhaltlichen
Reproduktionswege ("ein Joghurtbecher irrt durch Europa"). Also etwa nach dem
Motto: "Bürger beobachten ihre eigene Reproduktion". Die Ansätze nicht mehr
geldvermittelter Reproduktionstätigkeiten könnten so mit Aktivitäten ökologischer
Kritik und anderen Initiativen (Dritte Welt, Antirassismus etc.) zu einem Gesamtgeflecht
neuer Kapitalismuskritik verwoben werden.
Die Wüste lebt
Die Kritik der totalen Warenform blitzte in der Durchsetzungsgeschichte des
Systems immer wieder auf, ohne mehr als Spurenelemente zu hinterlassen. Das
entfesselte Geld konnte darüber hinwegrollen, solange es seine eigene Logik
noch nicht erschöpft hatte: sei es durch die Peitsche von Modernisierungsdiktaturen,
sei es mit dem Zuckerbrot destruktiver Konsum-Gratifikationen. Jede Kritik von
Warenform und Geldvermittlung schien nur zur primitiven Dorfwirtschaft und zur
alten Blutsfamilie als bedürfnisarmer, repressiver Produktionseinheit zurückzuführen.
Mit solchen Hinweisen wird ja die Zumutung der Geldkritik auch heute noch abgewehrt.
In der jetzt erreichten Krisenreife des Systems sind das aber nur noch unreflektierte
Totschlagsargumente. Denn inzwischen hat der kapitalistische Entwicklungsprozess
selber die Potenzen hervorgebracht, die es ermöglichen, die verschütteten
alten Fragen neu zu stellen.
Die handelnden Menschen selber sind vom Kapitalismus längst derart hochgradig
individualisiert, dass es ein Zurück zur Dorfgemeinschaft und zur blutsverwandtschaftlichen
Reproduktion gar nicht mehr geben kann. Aber das Leiden an der abstrakten Individualität
des vermarktwirtschaftlichten Menschen, die ja ihrerseits auch nicht das Gelbe
vom Ei ist, bringt neue Formen von Gemeinschaftlichkeit hervor, in denen sich
die individualisierten Menschen zusammenschliessen: Selbsthilfegruppen, Wohn-
und Hausgemeinschaften, Bürgerinitiativen, Stadtteilgruppen, kulturelle Gesellschaften
und Milieus etc. Sicherlich alles noch unausgegoren, aber keineswegs perspektivlos.
Wenn in diesen bereits entstandenen Formen die individuellen Rückzugsmöglichkeiten
geachtet werden und kein Psychoterror entsteht, können sie eine Alternative
sowohl zur staatsbürokratischen Bevormundung als auch zur Wolfseinsamkeit des
Geldes werden. Es gilt, diese Formen zu mobilisieren und gesellschaftskritisch
neu aufzuladen, nicht zuletzt auch dadurch, dass sie aus ihrem blossen Lobby-
oder Freizeit-Dasein heraustreten und wirkliche Reproduktionsbereiche ausserhalb
der Geldlogik organisieren.
Gleichzeitig hat sich gerade durch die neuen Produktivkräfte auch die Möglichkeit
verbessert, dabei nicht auf primitive Mittel zurückfallen zu müssen.
Früher konnte man sich Vergesellschaftung allein als Grossaggregat in bürokratischer
Grossraumverwaltung und mit Riesenmaschinen vorstellen. Dagegen hat die Mikroelektronik
heute eine allgemeine technologische und informationelle Miniaturisierung hervorgebracht,
die zwar nicht in der Herstellung, wohl aber in der vielfältigen produktiven
Anwendung den Zugriff auch im kleinen Massstab gestattet. Gleichzeitig hat uns
die Ökologie Modelle vielfach vernetzter kleinräumiger Reproduktion
als Alternative zum grobklotzigen Vergesellschaftungsmodus des Markt-Staat-Syndroms
geliefert. Die Kritik von Warenform und Geld muss heute also nicht mehr rückwärtsgewandt
sein; sie kann im Gegenteil erstmals von modernen Menschen mit modernen Mitteln
als Schritt gesellschaftlicher Evolution geleistet werden. Am Ende (durch viele
Auseinandersetzungen hindurch) könnte ein neuer, nicht mehr warenförmiger
Modus gesamtgesellschaftlicher Regulation stehen, der ökologisch/kybernetisch
und "chaostheoretisch" reflektiert ist: nicht mehr eine mechanische, hierarchisch-bürokratische
Staatsplanung (wie sie für das Problem "nachholender Modernisierung" zwangsläufig
war), sondern eine informationell gestützte dezentrale Vernetzung, bei
der in jeder Teileinheit das Ganze präsent sein kann und die Steuerung
somit als "horizontale Verknüpfung" statt vertikal-bürokratisch verläuft.
Die Grundelemente von technologischer Miniaturisierung, informationeller Vernetzung
und "organisierter Individualität" als Basis gesellschaftlicher Transformation
verbieten allerdings eine verkürzte Kritik der Warengesellschaft, die sich
etwa im Ansatz des "Bielefelder Feminismus" von Claudia v. Werlhof, Maria Mies
u.a. durch eine völlig undifferenzierte Ablehnung der Mikroelektronik und
überhaupt aller informationstechnologischen Möglichkeiten auszeichnet.
Trotz wichtiger Einsichten schlägt sich diese "naturalistische" Kritik
(ähnlich wie bei Bahro) selber die Mittel aus der Hand. Die technologischen
Hinterlassenschaften des Kapitalismus können zwar keineswegs alle und keinesfalls
in ihrer vorgefundenen Form übernommen werden; das ist inzwischen ein ökologischer
Gemeinplatz. Aber es kommt darauf an, sie nach Kriterien "sinnlicher Vernunft"
kritisch zu sortieren statt sie abstrakt abzulehnen.
Das kann z.B. heissen, moderne Produktionsmittel und Informationstechnologien
(gerade die "Krisentechnologien") selber gesellschaftskritisch einzusetzen,
gleichzeitig aber eine "Kulturrevolution" zu entfachen, von der die destruktiven
Konsum- und Lebensmuster dieses Systems madig gemacht werden. Nicht im Sinne
einer konservativen "Verzichtsideologie" (die sowieso selber in der auf Massenkonsum
angewiesenen totalen Marktgesellschaft eine Milchmädchenrechnung bleibt), sondern
als alternativer Anspruch eines "guten Lebens", der sich auf befriedigende menschliche
Beziehungen und auf sinnlichen Genuss richtet. Der Terror der abstrakten Zeit
im totalen Geldsystem ist damit ebenso unvereinbar wie der erbärmliche Kompensationskonsum.
Gefordert wäre ein praktischer Kulturkampf z.B. gegen das Auto als wesentlich
kapitalistische Maschine (aktuell etwa gegen die Ostseeautobahn), gegen den
kommerziellen Massentourismus - und für alternative Formen der Erholung und
der Kommunikation.
Der Konflikt hat aber natürlich auch eine direkt materielle Seite. Denn autonome,
nicht-warenförmige Tätigkeiten können ja nicht im luftleeren Raum stattfinden.
Dazu bedarf es Ressourcen: Land, Gebäude, Büros, Werkstätten, Gärten, Produktions-
und Kommunikationsmittel usw. Diese müssen Staat und Markt abverlangt werden.
Solche Forderungen werden umso plausibler, je weniger das warenproduzierende
System die Ressourcen sinnvoll verwalten kann, und je mehr intakte und lebenswichtige
Mittel weltweit brachliegen, bloss weil sie dem Rentabilitätsfetisch nicht
genügen. Für einen solchen "Einstieg in den Ausstieg" aus der Geldlogik könnte
neben sachlichen Ressourcen paradoxerweise sogar auch wieder Geld vom Staat
gefordert werden; und zwar für Investitionen, die dem Start in autonome Tätigkeiten
dienen (das wäre etwas grundsätzlich anderes als ein Subventionsmodell). Die
westdeutsche Bewegung für autonome Kommunikationszentren in den 70er Jahren
und die Hausbesetzerbewegung in den 80er Jahren waren Vorläufer solcher Konflikte.
Eine elementare Frage wird dabei zunehmend diejenige von Grund und Boden sein.
Das Ziel kann nur heissen, die Erde von jeder Kauf- und Verkaufbarkeit auszuschliessen,
d.h. sie als Grundlage allen Lebens vom Geld zu entkoppeln. Institutionell zu
entwickeln wäre hier allerdings eine kommunale und selbstverwaltete Nutzungsentscheidung
im Gegensatz zu einer bürokratisch-zentralistischen, wie sie für den Staatssozialismus
charakteristisch war.
All dies kann zeigen, dass die Wüste der totalen Warengesellschaft doch nicht
ganz tot ist. Alternative Lebensformen, Arbeitsloseninitiativen und "dissidente
Subsistenz" sind in ganz Europa wieder stark im Kommen. Dort werden Erfahrungen
gesammelt, in die kritische Theoriebildung eingreifen kann. Es wird darauf ankommen,
diese Ansätze mit der Krisenanalyse, der Debatte um Arbeitszeitverkürzung
und einer Grundsatzkritik der Warenproduktion zu vermitteln, um zu einem neuen,
integrierten Gesamtkonzept radikaler Gesellschaftskritik zu gelangen.