Startseite Krise und Kritik der Warengesellschaft


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erschienen in: Neues Deutschland Dez. 2003

Robert Kurz

Der hässliche Finanzinvestor

Sozialforen und sozialkritische Bündnisorganisationen haben Zulauf, Studenten streiken gegen Mittelkürzung und Studiengebühren. Es gärt in der Gesellschaft, seit unter dem Label der Agenda 2010 die antisozialen Gegenreformen ans Eingemachte gehen und Menschen bis in die soziale Mitte hinein härter als erwartet treffen. Eine neue soziale Bewegungskonjunktur deutet sich an. Und wie zu erwarten bringt die soziale Dynamisierung in der Linken und in den Bewegungsorganisationen wie Attac den Streit um die Interpretation der Krise erneut ins Rollen. Dieser Streit um die gesellschaftlichen Ursachen des sozialen Niedergangs ist allerdings nicht neu; er hat eine lange Geschichte, deren Untersuchung Überraschendes ans Tageslicht bringt.

Im 19. Jahrhundert gab es eine spezifisch kleinbürgerliche Kapitalismuskritik, die sich Krise und Armut allein aus den Ansprüchen des zinstragenden Kapitals oder Finanzkapitals erklären wollte. Gäbe es die "Zinsknechtschaft" nicht, so dachte etwa Proudhon, dann gäbe es auch keine Krisen. Das war der Standpunkt von kleinen Klitschenbesitzern, die auch heute noch von der Würstchenbude bis zur Softwarebude gern den Eindruck haben, daß sie "nur für die Bank arbeiten", weil Zins und Tilgung der aufgenommenen Kredite drücken. Sie vergessen dabei, daß sie ohne Bankkredit ihre Investitionskosten gar nicht hätten bezahlen können oder längst bankrott wären. Und das Geldkapital ist in der kapitalistischen Produktionsweise eben ein spezifischer Marktgegenstand, der seinen Preis hat.

Ganz anders argumentierte der klassische Arbeiterbewegungsmarxismus, wie ihn etwa Rudolf Hilferding in seinem 1910 erschienenen Werk "Das Finanzkapital" vertrat. Für ihn war das Finanzkapital nicht die Quelle allen Übels, sondern eine fortschrittliche, vergesellschaftende Macht, die es nur noch der Kontrolle durch den "proletarischen Staat" zu unterwerfen gelte. Qua dieser Kontrolle sei dann praktisch der Sozialismus in Grundzügen schon verwirklicht. Sicherlich war das eine stark verkürzte Auffassung. Denn Hilferding stellte wie der gesamte Arbeiterbewegungsmarxismus das "produktive" Verwertungsprinzip, die gesellschaftliche Form der "Verwertungs des Werts" (Marx) nicht in Frage, sondern meinte mit einer bloß äußerlichen politischen Kontrolle durch "Arbeiterpartei" und "Arbeiterstaat" sei die entscheidende Transformation schon geschafft. Aber diese gegenüber Marx verkürzte, die Fetischform des Werts nicht reflektierende Auffassung war doch eine erkennbar andere als die kleinbürgerliche.

Betrachten wir nun die heute aufkeimende Diskussion, so stellt sich heraus, daß in der spontanen Ideologie der Bewegungen eher die ursprünglich kleinbürgerliche Version der Kapitalismuskritik vertreten wird. Man betrachtet die spekulative Finanzblasenwirtschaft seit den 90er Jahren als die eigentliche Ursache der gegenwärtigen Krise. Die "Gier" der häßlichen Finanzinvestoren wird angeprangert. Und das zinstragende Kapital als angebliche Quelle des Übels soll in seine Schranken verwiesen werden, um das Geld, von dem scheinbar "genug da ist", wieder in produktive Kapitalinvestitionen zu lenken. Dabei wird das Verhältnis von Ursache und Wirkung auf den Kopf gestellt. In Wirklichkeit ist die Krise durch die innere Schranke des produktiven Kapitals selbst bedingt. Die Produktivkraft der 3. industriellen Revolution übersteigt die Fassungskraft der kapitalistischen Produktionsweise, es wird zu viel Arbeitskraft "freigesetzt", die kapitalistischen Einkommen gehen zurück und es entstehen Überkapazitäten, sodaß sich produktive Investitionen nicht mehr lohnen. Allein deswegen ist die Verschuldungs- und Finanzblasenökonomie entstanden, als bloße Folge und Erscheinungsform der Krise, nicht als ihre Ursache.

Aber das momentan vorherrschende Bewußtsein in den Bewegungen will bloß das Finanzkapital kritisieren, nicht die kapitalistische Produktionsweise. Dieses Argumentationsmuster wird bis in die Gewerkschaften und in den restlichen akademischen Marxismus hinein verwendet, als hätte man die ganze Marxsche Akkumulations- und Krisentheorie vergessen. Das ist eigentlich ein Rückfall sogar hinter Hilferding. Welche Gründe gibt es dafür?

Erstens ist mit dem Untergang des Staatssozialismus die ursprüngliche arbeiterbewegungsmarxistische Option, die "fortschrittliche Macht" des Finanzkapitals in die Regie des "proletarischen Staates" zu übernehmen, obsolet geworden. Das traut sich niemand mehr zu vertreten. Zweitens ist die soziale Basis der Bewegungen als Folge der kapitalistischen Vergesellschaftungs- und Individualisierungsprozesse kaum mehr eine "mehrwertschaffende Arbeiterklasse", sondern ein diffuses allgemeines Verwertungssubjekt, dessen einzelne Sozialkategorien von der Sozialhilfeempfängerin über den Leiharbeiter, die Langzeitstudentin und den ABM-Worker bis zur berüchtigten Ich-AG zunehmend ineinander verschwimmen und prekär werden. Spontan ist der daraus hervorgehende Sozialcharakter von einer gewissen sekundären Kleinbürgerlichkeit geprägt (jeder sein eigenes Humankapital, jede ihre eigene Selbstverwerterin), wobei das "selbständige" Produktionsmittel bis auf die menschliche Haut geschrumpft ist. Und drittens ist in der neuen Qualität der Krise selbst der übrig gebliebene scheinbar kapitalproduktive Kern der Industriearbeit abhängig geworden vom finanzkapitalistischen Vorgriff auf zukünftige Wertschöpfung (Kreditüberbau, Mega-Verschuldung auf allen Ebenen, Blasenökonomie).

Aus diesen Zusammenhängen heraus wird die allgemeine Abhängigkeit vom entkoppelten Finanzkapital als der eigentliche Skandal erlebt und die wirkliche Krisenursache ignoriert. Auch der ohnehin schon keynesianisch verwässerte akademische Marxismus wird für diese verkürzte Interpretation anfällig; konzentriert sich doch gerade die keynesianische Theorie auf eine innerkapitalistische vermeintliche Krisenlösung in Bezug auf Zinsen und Finanzkapitalismus. Es kann nicht verschwiegen werden, daß die so verkürzte Kapitalismuskritik anschlußfähig wird für rechtspopulistische Krisenideologien. So ist es einfach eine Tatsache, daß die auf das Finanzkapital reduzierte Kritik sich historisch immer wieder mit antisemitischen Stereotypen angereichert hat. Und die bürgerlichen Medien entdecken hier bereits eine Möglichkeit, die soziale Bewegung überhaupt als "potentiell antisemitisch" zu denunzieren. Dieser Denunziation kann man nur entgegentreten, wenn die regressive Verkürzung der Analyse auf das Finanzkapital überwunden wird, um in neuer Weise die vom Verwertungsprinzip nicht mehr darstellbare Vergesellschaftung und deren zivilisatorische Potenz (öffentliche Dienste etc.) einzuklagen: über Hilferding hinaus, nicht hinter ihn zurück.