Robert Kurz
Immer wieder Zweiter Weltkrieg
Wie
die radikale Linke ihre Opposition gegen die Menschenrechtskrieger unglaubwürdig
macht.
Die
Weltkrise der dritten industriellen Revolution schreit nach einer neuen Kapitalismuskritik.
Aber der Alp der Vergangenheit lastet auf der Linken, der Tote ergreift den
Lebenden.
Das
Problem einer identitätsgefährdenden Transformation radikaler Kritik über den
Arbeiterbewegungs-Marxismus hinaus verführt dazu, Gegenwart und Zukunft durch
die Brille einer historisch verfallenen Epoche wahrzunehmen, in der die Welt
noch in der richtigen Unordnung war. Jeder neue Krisenschub des Weltsystems
seit den achtziger Jahren wird in der geistig eingefrorenen Konstellation des
Zweiten Weltkriegs reinterpretiert, das Hitlerbärtchen immer beliebiger verteilt.
Dabei
wäre es durchaus relevant, die deutschen historischen Kontinuitäten in Rechnung
zu stellen. Aber Kontinuität ist nicht ewige Wiederkehr, sondern wirkt jeweils
ganz unterschiedlich im Kontext kapitalistischer Entwicklung.
Die
einfache Projektion aktueller Konflikte auf die Vergangenheit droht auch diese
zu entwirklichen. Der Zweite Weltkrieg hatte den einzigartigen Charakter, daß
es, um ein Verbrechen gegen die Menschheit zu stoppen und überhaupt die Möglichkeit
sozialer Emanzipation zu retten, ausnahmsweise eindeutig richtig war, in einem
innerkapitalistischen Krieg Partei zu ergreifen.
Joachim
Bruhn (Jungle World, Nr. 28/99) aber reicht es nicht, daß ein bestimmtes kapitalistisches
Konkurrenzinteresse glücklicherweise einmal dazu geführt hat, die schlimmstmögliche
Version des Kapitalismus niederzuringen. Der Hinweis, daß Auschwitz leider nicht
das entscheidende Motiv der Alliierten war, also eine kapitalistische Koalition
gegen die vollendete kapitalistische Barbarei eine unsichere Sache ist und kein
Grundsatzprogramm werden kann, muß denunziatorisch abgebügelt werden, um für
diese Konstellation das Interesse "des" Kapitals zum "moralischen Interesse"
schlechthin zu adeln.
Diese
Überdehnung einer bestimmten historischen Wahrheit zu einem von der Geschichte
abgelösten moralischen Konstrukt deckt sich ungewollt mit der olivgrünen Methode,
die deutsche Beteiligung an den Feldzügen um die neue Weltordnung legitimatorisch
herzuleiten.
Ganz
nebenbei läßt Bruhn dabei durchblicken, daß für ihn der Nationalsozialismus
kein Bestandteil "des" Kapitalismus mehr war. Zweifellos ist es wichtig, die
Besonderheit der NS-"Volksgemeinschaft" im Vergleich zu den westlichen Gesellschaften
geltend zu machen. Das heißt aber noch lange nicht, daß die deutsche Paradoxie
der fordistischen Modernisierung in der Form eines spezifisch völkischen "Antikapitalismus"
etwas anderes als eine Version kapitalistischer Entwicklung gewesen wäre, die
das Verbrechen gegen die Menschheit als deren inhärente Möglichkeit gezeigt
hat.
Von
einer "negativen Aufhebung" der kapitalistischen Zirkulation und Konkurrenz
durch die Nazis kann keine Rede sein und das "Blutsprinzip" hat niemals, wie
Jürgen Elsässer behauptet, das Wertprinzip "ersetzt", sondern es vielmehr -
insbesondere in krisenhaften - Verlaufsformen repräsentiert. Die Nazis haben
Geld, zinstragendes Kapital und die kapitalistischen Verkehrsformen ebensowenig
abgeschafft, wie die völkische "Stammesorganisation" UCK heute laut Elsässer
ohne "fresh money" und Schwarzmärkte auskommt. Das Argument kann nur für diejenigen
halbwegs stimmig wirken, die einen altmarxistischen, klassensoziologisch verkürzten
Begriff von "Kapitalismus" haben und die kapitalistischen Formen implizit ontologisieren.
Es
läßt den real existierenden Krisenkapitalismus am Ende des 20. Jahrhunderts
in einem verdächtig milden Licht erscheinen, wenn ahistorisch seine angebliche
"negative Aufhebung" als omnipräsente Gegenwelt beschworen wird. Die (zeitbedingt
verkürzte) Analyse von Horkheimer/Adorno aus den vierziger Jahren droht in der
Projektion auf die heutigen Verhältnisse zum Vehikel dafür zu werden, die qualitativ
neue kapitalistische Krise ideologisch in die zerbrechende demokratische Form
zu bannen und in einer Zeitschleife stets aufs neue mit den "alten westlichen
Demokratien" gegen die Barbarei marschieren zu wollen.
Während
die Neue Mitte ein offensichtlich ähnliches Konstrukt oberflächlich mit der
Nato-Strafexpedition gegen Jugoslawien in Übereinstimmung bringen und sich darin
sonnen kann, endlich einmal auf der "richtigen Seite" zu stehen, tut sich die
berechtigte linksradikale Kriegsgegnerschaft natürlich schwer damit. Um die
Übereinstimmung nach Prokrustes-Methode gewaltsam herzustellen, muß allen Ernstes
behauptet werden, daß die USA ebenso wie England und Frankreich in diesem Krieg
quasi unwissentlich auf der "falschen Seite" stünden, über den Löffel balbiert
vom deutschen Imperialismus, der sich anschicke, seine "weltweite Zuständigkeit"
(Bruhn) anzumelden. Die gesamte Intervention der Nato wird zur Funktion einer
"deutschen Eroberungspolitik" (Elsässer) umdefiniert. Eine derart peinliche,
weil offensichtliche intellektuelle Schummelei blamiert das richtige Motiv,
die militärische Beteiligung der BRD in der Kontinuität deutscher Geschichte
radikal zu kritisieren.
Zu
dieser Kontinuität gehört es zweifellos, daß die BRD bei der Anerkennung der
völkischen Sezessionen in Jugoslawien eine Vorreiterrolle spielte. Ebenso richtig
ist es, daß in jeder kapitalistischen Konstellation stets Konkurrenzinteressen
wirksam sind und Staaten eifersüchtig den eigenen "Einfluß" auszudehnen versuchen.
Das bedeutet aber keineswegs, daß dies immer noch in der Form der ersten Jahrhunderthälfte
geschehen kann. Es ist anachronistisch, in der heutigen Weltarena politisch-ökonomisch
kohärente national-imperiale Eroberungssubjekte alten Stils herumspringen zu
lassen, für deren "geostrategisches" Agieren der Krisenprozeß der dritten industriellen
Revolution nur eine Art unwesentliches Hintergrundrauschen abgäbe und in deren
"souveränem" Aufeinanderprallen die Verlaufsform aufginge.
Daß
die Eroberung nationaler Imperien sinnlos geworden ist und es um die gesamtimperiale
Sicherung global verstreuter Inseln der Realakkumulation geht, verhindert ja
nicht, daß sich auch in diesem neuen Bezugssystem Konkurrenzinteressen geltend
machen. Und daß die Staaten nicht mehr als "ideelle Gesamtkapitalisten" einer
in sich geschlossenen Nationalökonomie auftreten können, ändert auch nichts
daran, daß sie auch unter diesen Bedingungen um Einfluß kämpfen. Radikale Linke
tun sich keinen Gefallen damit, als explizite oder implizite Krisen- und Globalisierungsleugner
durchaus notwendige analytische Momente zu entwerten.
Das
gilt auch für jene von Jutta Ditfurth und Rainer Trampert (Jungle World, Nr.
29/99) ins Feld geführten "kaspischen Rohstofflager" usw. Als reales Interessenmoment
ist das so richtig und banal wie die Tatsache, daß die US-Rüstungsindustrie
am Verbrauch von Cruise Missiles interessiert ist oder daß sich die diversen
Bauindustrien um "Wiederaufbau"-Aufträge rangeln, sofern denn ein paar spärliche
Gelder fließen. Jede kapitalistische Entwicklung ist mit empirischen ökonomischen
Interessen verbunden, und an jedes noch so katastrophale Resultat hängen sich
wiederum solche Interessen an. Es gehört zu einem kritischen Gesamtbild, auch
dieses Moment zu benennen. Aber die bloße Beschreibung des Universums von empirischen
Konkurrenz-Interessen erklärt keine historische Konstellation und droht in einen
flachen Vulgärmaterialismus abzugleiten. Das kaspische Öl für sich kann kein
Kriegsgrund sein, denn die Rohstoffe werden dem globalisierten Kapital längst
freiwillig zu Dumpingpreisen nachgeschmissen.
Der
reale Konkurrenz- und Interessen-Hintergrund der Interventionskriege um die
neue Welt-Unordnung kann auf jeden Fall keine Verselbständigung einer spezifischen
"pax germanica" generieren, die in der Lage wäre, mit der "pax americana" zu
konkurrieren, wie Bruhn unterstellt.
Nazi-Deutschland
war in dieser Hinsicht ein echter Konkurrent, weil sein Rüstungs-Etat zwischen
1933 und 1938 so hoch war wie die Etats der USA, Englands und Frankreichs zusammengenommen.
Die BRD könnte heute die USA nicht einmal annähernd erreichen, wenn sie die
seit 1991 jährlich angefallenen 200 Milliarden Mark Vereinigungskosten für Rüstung
verwendet hätte. Auch die Fusion der EU-Rüstungsindustrie ist gescheitert. Die
absolute militärische Überlegenheit der USA, die 90 Prozent des Potentials der
Nato-Intervention stellten, kann durch einen Zusammenbruch der Finanzmärkte
beendet werden; aber das wäre kein Vorteil für eine phantasmatische "pax germanica".
Deshalb
ist die deutsche Kontinuität bei der völkischen Segregation des Balkan auch
kein Alleingang gegen die USA, sondern ein Vorgehen zusammen mit diesen, wie
schon Huntingtons Räsonnement über den "Kampf der Kulturen" signalisiert. Der
Sicherheits- und Ausgrenzungs-Imperialismus des Westens erfordert es, in den
völkischen Bürgerkriegen beim Zerfall der traditionellen Staatenwelt Partei
zu ergreifen, um die Beherrschbarkeit der Weltkrise durch die Kontrolle über
ethnische Protektorate zeitweilig simulieren zu können. Das gilt nicht nur für
die Peripherie, sondern auch für die Zentren selbst; aber anders, als Bruhn
glaubt, der hier nur einen deutschen Drang wittert, die demokratische "Tarnung
abzuwerfen", um jene spezifisch deutsche "Volksgemeinschaft" zu rekonstituieren.
Wie
aber die Nazi-Diktatur nur eine deutsche Verpuppungsform der westlichen Demokratie
selbst war, so nimmt diese Demokratie nun in einer neuen Konstellation Nazi-Züge
an. Aber weder in der BRD noch anderswo als geschlossene "Volksgemeinschaft",
sondern als perverser Deal einer abstrakt-universalistischen Minderheitskultur
der Globalisierung mit völkisch-rassistischen Banden zwecks Befriedung der Zusammenbruchszonen.
Bemitleidenswert
wird es, wenn die Orientierung an der Vergangenheit auch die emanzipatorische
Zielsetzung ergreift. Rainer Trampert hätte es überhaupt nicht nötig, seine
treffende Beschreibung bestimmter empirischer Verhaltensweisen mit dem Verweis
auf eine "Austreibung des Sozialismus aus Regionen und Köpfen" zu kontaminieren.
Der verblichene Staatskapitalismus "nachholender Modernisierung" wird dadurch
nicht sozialistischer, daß ihm eine Rolle beim Kampf gegen Nazi-Deutschland
zugestanden werden muß. Und daß Milosevic-Jugoslawien mit seiner Fülle von tolerierten
Oppositionsparteien kein totalitärer Staat sein kann, ändert nichts an seinem
völkischen Nationalismus.
Daß
der Westen mit der Verletzung von Völkerrecht und nationaler Souveränität seine
eigenen Prinzipien verletzt, kann agitatorisch gekennzeichnet werden; aber daraus
folgt nicht, wie Thomas Ebermann immerhin festgestellt hat, daß sich die radikale
Linke ausgerechnet die preisgegebene bürgerliche Position zu eigen machen müßte.
Die
antideutsche Linke würde sich nichts vergeben, wenn sie ihre Motive auf die
reale Konstellation des Kapitalismus beziehen würde, statt in einer versteinerten
Vergangenheit umherzuirren. Alle ihre analytischen Fähigkeiten können erst abgerufen
werden, wenn sie das Bezugssystem aktualisiert, ohne die Geschichte zu vergessen.
Es
wäre z.B. gesellschaftlich "kampagnenfähig", das krasse Mißverhältnis zwischen
dem Einknicken von Rosa-Olivgrün beim Staatsbürgerschaftsrecht und dem demokratischen
Hurra-Einsatz gegen Jugoslawien konsequent als Zusammenhang zu thematisieren.
Und es gäbe immer noch die Möglichkeit, die theoretischen Differenzen zu diskutieren,
ohne sich gegenseitig die Augen auszukratzen, und trotzdem ein übergreifendes
Moment gegen die herrschende Unlogik zu mobilisieren.