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Folha November 02

Robert Kurz

DER KRIEG GEGEN DIE KRISE

Bei einem Angriff auf den Irak geht es nicht um das Regime von Saddam Hussein, sondern um die Widersprüche der Globalisierung

Der militärische Angriff der USA auf den Irak scheint beschlossene Sache zu sein. Die Regierung von Präsident Bush jun. hat sich in dieser Frage schon so weit aus dem Fenster gelehnt, daß sie gar keinen Rückzieher mehr machen kann, ohne das Gesicht zu verlieren. Tatsächlich hat der Aufmarsch längst begonnen. Die USA verlegen ständig neue Truppenkontingente in ihre nahöstlichen Basen. Schon ist ein zusätzlicher Flottenverband mit dem Flugzeugträger "Constellation" auf dem Weg in die Golfregion, wo sich bereits die "Abraham Lincoln" befindet. Das alles macht nur Sinn, wenn ohne Rücksicht auf alle politischen Bemühungen der Angriff konkret vorbereitet wird. Die US-Regierung hat offen erklärt, daß sie sich von der vielbeschworenen "Internationalen Gemeinschaft" nicht die Hände binden lassen will. Der Versuch, eine zu ihren Absichten passende UN-Resolution zu erpressen, dient nur noch der diplomatischen Flankierung. Offensichtlich ist der Wille zum Losschlagen stärker als alle Bedenken.

Fast könnte man sich in die Vergangenheit der modernen Geschichte zurückversetzt fühlen. Denn vom 16. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg wurde die Frage von Krieg und Frieden nicht durch ein Verfahren formaler völkerrechtlicher Legalität entschieden, sondern durch "einsame Beschlüsse" der Regierungen; legitimiert einzig und allein durch die faktische Macht. Nach den Erfahrungen der Katastrophe in der Epoche der Weltkriege sollten an die Stelle der "freien Wildbahn" im Verhältnis der Staatenwelt verbindliche Normen des Völkerrechts treten. Als Rahmen für diese Verbindlichkeit wurden die UNO und deren Sicherheitsrat allgemein anerkannt. Aber die UNO war nie eine faktische Macht, sondern bildete immer nur die formale Repräsentanz einer Summe von souveränen Nationalstaaten. Auf der Ebene der faktischen Macht war die Welt geteilt in eine "Pax Americana" und eine "Pax Sowietica". Nach dem Untergang der Sowjetunion ist nur noch die "Pax Americana" übrig geblieben. Und es ist bemerkenswert, daß diese letzte faktische Weltmacht, gestützt auf eine absolut überlegene und konkurrenzlose Militärmaschine, in einen immer stärkeren Gegensatz zum Völkerrecht und zur Instanz der UNO tritt.

Zwar haben die Vereinigten Staaten schon in der Vergangenheit keinen Zweifel daran gelassen, daß sie sich der UNO nur so weit verpflichtet fühlen, wie diese allgemeine Repräsentanz der Staatenwelt der spezifischen "Pax Americana" untergeordnet wird und ihr gefügig ist. Aber in diesem unklaren Verhältnis von UNO, Sicherheitsrat, Völkerrecht einerseits und "Pax Americana" andererseits kam es doch während eines halben Jahrhunderts zu keinem offenen Bruch. Noch der erste Weltordnungskrieg 1991 gegen den Irak wurde unter formaler Ägide der UNO und im Namen des Völkerrechts geführt, um die Annexion Kuweits zu stoppen. Aber schon der zweite Weltordnungskrieg gegen Restjugoslawien (Serbien) verletzte in eklatanter Weise genau die Prinzipien, die man wenige Jahre zuvor noch gegen den Irak geltend gemacht hatte. Dementsprechend setzte die NATO ihren Militärapparat, der zu mehr als 90 Prozent aus Streitkräften der USA bestand, ohne das Mandat der UNO ein. De facto und de jure handelte es sich um einen Angriffskrieg der NATO gegen einen staatlichen Souverän und ein UN-Mitglied. Im Afghanistan-Feldzug nach dem 11. September wurde die Frage der formalen Legalität schon gar nicht mehr gestellt; ebensowenig bei den neuerlichen Kriegsvorbereitungen gegen den Irak. Das Völkerrecht ist offensichtlich nichts mehr wert. UNO und Sicherheitsrat sind endgültig bedeutungslos geworden und können nur noch als Statisten der "Pax Americana" fungieren. Die faktische letzte Weltmacht bricht mit der von der UNO repräsentierten Legitimität und nimmt deshalb auch deren formale Legalität nicht mehr ernst.

Trotzdem wäre es ganz falsch, in diesem Vorgehen bloß den usurpatorischen Akt oder das Diktat eines Staates und einer Nation gegenüber dem Rest der Welt zu sehen. Wenn die US-Regierung immer wieder den Begriff des "nationalen Interesses" bemüht, um ihren Aktionen als Weltmacht wenigstens nach innen (den eigenen Bürgern gegenüber) einen Schein der Legitimation zu geben, so handelt es sich dabei um eine Selbsttäuschung. Im Zeitalter der Globalisierung gibt es keine eindeutig definierbaren nationalen Interessen mehr, weder in ökonomischer noch in politischer Hinsicht. Tatsächlich sind die USA in die Rolle der globalen "Schutzmacht" eines planetarischen Kapitalismus hineingewachsen.

Gerade auf diese Weise werden jedoch die Widersprüche der Globalisierung deutlich. Das betriebswirtschaftliche Kapital nimmt eine transnationale Form an, aber die politisch-militärische Macht kann ihrem Wesen nach nur in nationaler Form existieren. Der seit der Aufklärung immer wieder propagierte Weltbürger ist nichts als eine Chimäre, weil der Bürger des modernen warenproduzierenden Systems nur in einer Doppelgestalt als Dr. Jekyll und Mr. Hyde möglich ist; nämlich als Bourgeois einerseits und als Citoyen andererseits. Der Universalismus des Kapitals ist aber bloß ökonomisch, nicht politisch. Deshalb gibt es einen Weltmarkt, aber keinen Weltstaat. Der Weltbürger kann nur als Welt-Bourgeois erscheinen, nicht als Welt-Citoyen. Die nunmehr planetarische "Pax Americana" ist daher auch nur als paradoxes Verhältnis möglich: Auf der Ebene der politischen und militärischen Macht muß der Universalismus des Kapitals die Form seines eigenen Gegenteils annehmen, nämlich die Gestalt des nationalen Staats und des nationalen Militärapparats der letzten Weltmacht. Was als "nationales Interesse" der USA bezeichnet wird, ist in Wahrheit der unlösbare Widerspruch von Globalismus und Nationalismus. Die USA müssen Funktionen eines Weltstaats übernehmen, ohne Weltstaat sein zu können.

Dieser Widerspruch spitzt sich in demselben Maße zu, wie sich der Charakter der Globalisierung als fundamentale Krise des modernen warenproduzierenden Systems enthüllt. Je mehr Menschen durch die dritte industrielle Revolution als "Überflüssige" stigmatisiert werden, je mehr Nationalökonomien und Nationalstaaten zusammenbrechen, und je mehr dadurch die Verwertung von Kapital an absolute historische Grenzen stößt, desto stärker werden die USA als nationale Weltmacht dazu gedrängt, auf einen globalen Notstand zu reagieren und eine Art Ausnahmezustand über den gesamten Planeten zu verhängen. Da jedoch die politische Regulation der transnationalen Ökonomie unmöglich ist, wird das Verhalten der letzten Weltmacht immer irrationaler und gewaltsamer.

Die offizielle Begründung für die neuerliche Strafexpedition gegen den Irak ist auf die durchsichtigste Weise unwahr. Eine Komplizenschaft des eher säkularen Saddam-Regimes mit dem islamistischen Terror-Netzwerk Al Kaida ist nicht nur unbewiesen, sondern auch unwahrscheinlich. Daß der Irak angeblich noch immer große Mengen von chemischen und biologischen Massenvernichtungsmitteln besitzen soll, wird von den früheren UNO-Inspektoren vehement bestritten. Vollends absurd ist die Behauptung von Präsident Bush, dieses inzwischen völlig ausgelaugte Regime stelle eine "Gefahr für die Welt" dar. Selbst als die irakische Armee noch vom Westen ausgerüstet und unterstützt wurde, war sie nicht einmal imstande, die schlecht bewaffneten Truppen der iranischen Mullahs zu besiegen; umso weniger ist sie heute nach Jahren des Embargos, der Bombardements und der Zerstörung großer Teile ihres Arsenals zu einem strategischen Angriff auf andere arabische Länder oder gar auf Israel fähig. Saddam repräsentiert eine ganz gewöhnliche unappetitliche Diktatur der Dritten Welt, wie sie heute zu Dutzenden am Weltmarkt zerschellen und in den Prozeß der Auflösung staatlicher Strukturen übergehen. Viele ähnliche Regimes werden von den USA protegiert (ursprünglich galt das ja auch für den Irak selbst).

Der angekündigte und als "unvermeidlich" bezeichnete Angriff auf den Irak hat ganz andere Gründe als die von den USA propagandistisch vorgeschobenen. In Wirklichkeit handelt es sich um eine fast schon verzweifelte "Flucht nach vorn", mit der die letzte Weltmacht den drohenden Verlust der globalen Kontrolle aufhalten will. Der von Präsident Busch vollmundig angekündigte "Krieg gegen den Terrorismus" war ein Flop. Das poststaatliche Gebilde Al Kaida ist offenbar nicht entscheidend getroffen worden. Die US-Regierung konnte der imperialen Öffentlichkeit nicht einmal einen Triumphzug bieten, um Osama bin Laden als den in Ketten gelegten Barbarenhäuptling zu präsentieren. Und die Vertreibung der Taliban wurde damit erkauft, daß die USA ein blamables Bündnis mit den Banditen und Warlords der sogenannten "Nordallianz" eingehen mußten. Von einer wirklichen Kontrolle über Afghanistan kann keine Rede sein.

Die USA werden einen Krieg nicht gewinnen, den sie nicht einmal führen können; so wenig wie ein Panzernashorn seine eigenen Darmviren angreifen kann. Denn der Terrorismus wächst in der Weltkrise des Kapitalismus nicht nur stets von neuem nach wie die Köpfe der Hydra; er bewegt sich auch in einer ganz anderen Dimension als die letzte Weltmacht. Al Kaida operiert nicht auf der Ebene der territorialen Souveränität, sondern wie ein transnationaler Konzern in den Falten und Nischen der Globalisierung. Für einen Kampf in dieser Dimension ist die High-Tech-Militärmaschine der USA völlig ungeeignet und nutzlos. Die ewigen Luftangriffe mit Stealth-Bombern, Cruise Missiles usw. treffen großflächig die Bevölkerung, die Städte und Infrastrukturen; aber sie sind viel zu grob, um die transkontinentalen Netzwerke vom Typus Al Kaida erreichen zu können.

Die USA brauchen einen spektakulären Großerfolg im Krieg um die Weltordnung. Sie müssen demonstrieren, daß sie immer noch "Herr im Haus" sind. Die Macht der USA ist aber ihrem Wesen nach auf die Welt der Nationalstaaten bezogen. Eine Demonstration der Stärke und des globalen Herrschaftswillens ist daher nur möglich in der anachronistisch gewordenen Form des territorialen Krieges im Sinne von Clausewitz. Um die Frustration im "Krieg gegen den Terrorismus" kompensieren und ein "Exempel statuieren" zu können, brauchen die USA einen Feind auf ihrer eigenen Ebene als billiges Opfer. Der Irak bietet sich dafür an, weil er schon längst als "Schurkenstaat" ideologisch aufgebaut worden ist. Und als traditionelle territoriale und souveräne Macht, gestützt auf eine klassische Armee, hat das ohnehin im Niedergang begriffene Saddam-Regime natürlich nicht die geringste Chance.

Es gibt allerdings noch einen zweiten, weitaus wichtigeren Grund, warum gerade der Irak ins Visier genommen wurde. Die Weltwirtschaft ist in eine neue Phase der Krise eingetreten. Das Desaster der New Economy und der Absturz der westlichen Finanzmärkte seit dem Frühjahr 2000 schlägt zeitversetzt auf die globale Realökonomie zurück. Das Zentrum dieser Krise befindet sich in den USA, deren Finanzblasen-Ökonomie in den 90er Jahren mit phantastischen Import-Überschüssen die gesamte Weltkonjunktur als Lokomotive gezogen hatte. Das unausweichliche Ende dieser Ära des "fiktiven Kapitals" droht nicht nur die völlig überschuldete US-Ökonomie in den Abgrund zu reißen und die schwelende Weltwirtschaftskrise zum globalen Flächenbrand auszuweiten, sondern in der weiteren Perspektive auch die Finanzierungsfähigkeit der US-Militärmaschine in Frage zu stellen und das Ende der globalen Hegemonie herbeizuführen.

Ein ökonomisches "Wunder" muß her, um jeden Preis. Der Finanzblasen-Kapitalismus soll in die stetige Aufwärtsbewegung der 90er Jahre zurückgezwungen werden. Dafür bedarf es jedoch einer tragenden Prognose, die den Börsenboom als bloße Vorwegnahme einer nachfolgenden realökonomischen Ära des Wachstums rechtfertigt. In dieser Hinsicht sind die Optionen neuer technologischer Träger zum Auslaufmodell geworden. Die Hoffnungen auf einen säkularen Schub von Investitionen und Konsum durch die Kommerzialisierung des Internet oder durch die Telekom-Industrie mittels UMTS haben sich als Flops erwiesen. Nachdem die inneren Potentiale eines realen Wachstums versagt haben, soll jetzt durch den Angriff auf den Irak eine äußerlich militärisch induzierte "Ära des billigen Öls" als neue Projektion herhalten, um den Börsenboom zurückzuholen und auch die erste Dekade des 21. Jahrhunderts zu einer Ära des "jobless growth" zu machen.

In den USA wird ganz offen darüber diskutiert, das Kartell der OPEC gewaltsam zu "zerschlagen". Die US-Ökonomie soll durch einen Ölpreis auf dem Niveau vor den Zeiten der OPEC "gerettet" werden. Dafür reicht jedoch die Kontrolle und Erschließung des kaspischen Raums bei weitem nicht aus, weil sich dort nur Lagerstätten in der Größenordnung des Nordsee-Öls befinden, wie sich inzwischen herausgestellt hat. Im Irak dagegen liegen nicht nur 15 Prozent der Weltreserven, sondern sie lassen sich auch konkurrenzlos billig aus dem Boden fördern. Durch eine militärische Besetzung der irakischen Ölfelder und deren Modernisierung mit Hilfe einer von den USA eingesetzten Marionetten-Regierung, so das Kalkül, könnte ein neuer globaler Wachstumsschub unter Führung der US-Ökonomie auf den Weg gebracht werden.

Aber dieses Kalkül ist irrational und kann den Absturz nur beschleunigen. Nach einem relativ leichten militärischen Sieg wird sich der Irak noch weniger befrieden lassen als Afghanistan. Im Norden drohen Konflikte mit der Türkei, im Süden mit dem Iran. Die Zerschlagung der OPEC wäre der vollständige Ruin des gesamten Nahen Ostens und wahrscheinlich auch Rußlands. An die Stelle der jetzigen Regimes würden nicht wohlerzogene Demokratien treten, sondern fortgeschrittene anomische Zustände und eine gesamtarabische Haß-Guerilla gegen die Förderanlagen und Transportwege des vermeintlich "billigen Öls", dessen Preis dann in Wahrheit geradezu explodieren müßte. Die USA schaffen durch ihre gewalttätige "Flucht nach vorn" einen qualitativ neuen Ausnahmezustand: Sie bewegen sich auf eine direkte Militärdiktatur und ein blutiges Besatzungsregime in der gesamten Ölregion zu. Das kann auch die größte Militärmacht der Geschichte nicht lange durchhalten.