Startseite Krise und Kritik der Warengesellschaft


Robert Kurz

DER ZUSAMMENBRUCH DES REALISMUS

Anmerkungen zum Verfall der ehemaligen linken Opposition

Politik findet in den 90er Jahren unter den Bedingungen der Systemkrise statt, auch wenn das weder die politische Klasse noch das Wahlvolk wahrhaben wollen. Das heißt aber im Klartext, Politik findet im herkömmlichen Sinne eigentlich gar nicht mehr statt oder bloß noch als eine Mischung aus Medienfarce und Notstandsverwaltung; denn die Systemfunktion Politik ist völlig ungeeignet, irgendetwas zur Bewältigung einer wirklichen Systemkrise der Warenproduktion hervorzubringen. Die Antwort auf die Systemkrise kann nur die Aufhebung des Systems selber sein samt seiner politischen Sphäre; dafür aber gibt es kein Konzept, und wenn es formuliert werden sollte, dann logischerweise nicht innerhalb der Politik. Ein Politiker ist nur noch ein relativ hochbezahlter Medienidiot; die Notstandsverwaltung wird vom Apparat hinter den politischen Kulissen erledigt: nicht als »Entdemokratisierung« (wie es noch bei Agnoli anklingt), sondern als historisches Zusichkommen der Demokratie selber am Ende der warenproduzierenden Moderne. Das Gefasel der Galionsfiguren in der politischen Nullsprache ist in keiner Weise mehr ernst zu nehmen.

Je weniger sich dieser allzu offenkundige Tatbestand ableugnen läßt, der tagtäglich im Fernsehen zu besichtigen ist und nicht einmal mehr Unterhaltungswert besitzt, desto gereizter wird die Stimmung: eben weil das System nicht mehr von selbst funktioniert. Die »invisible band« des Marktes schlägt außer Kontrolle um sich, und in geradezu kindlichem Trotz verlangen Abermillionen von Charaktermasken der totalen Warenproduktion das, was ihnen das System immer weniger bieten kann: nämlich »Arbeitsplätze« in einer ebensowohl schwachsinnig als auch gemeingefährlich gewordenen Produktionsweise, die dennoch für die einzig mögliche und denkbare gehalten wird (und nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus mehr denn je). Alle Beteiligten spielen das Spiel umso verbissener weiter, je unmöglicher es geworden ist. Die politische Klasse tut quer durch das gesamte Farbenspektrum so, als brüte sie über geeigneten Arbeitsplatzbeschaffungs-Strategien, und das Wahlvolk tut so, als glaube es an die mühsam gemimten einschlägigen Kontroversen, deren Bodenlosigkeit einem Grundschüler auffallen könnte.

In dieser Atmosphäre allgemeiner Unzurechnungsfähigkeit spielt sich der sogenannte Wahlkampf im »Superwahljahr« (eine typische Medienfloskel) ab. Wer dumm und verbohrt genug ist, im Namen der »Arbeitsplätze« und der gefährdeten fordistischen Lebensweise (»Arbeit«, Geld, Auto, Freizeit, »Spaß«) die SPD für eine Alternative zur CDU und den unsinnig vor sich hinschnarrenden, schwachbrüstigen Kandidaten Scharping für die Ablösung des schwerfälligen Problemaussitzers Kohl zu halten, der wird umgekehrt auch dumm genug sein, im gierigen Glauben an die notorische »Aufschwung«-Vorhersage des Frühjahrsgutachtens der regierenden Koalition plötzlich wieder irgendwelche Bewältigungskompetenzen anzudichten. So mögen sich die Schwankungen in den demoskopischen Umfragen und die von der eher konservativen Presse beschworene »Aufholjagd« der Kohl-Regierung erklären. Entscheidend für eine Entscheidung, die substantiell keine mehr ist, wird die an zufälligen Ereignissen, Prominenten-Äußerungen und heuchlerischen Letztversprechungen sich aufgeilende Massenstimmung im Herbst sein, die zwischen heimlicher Krisenangst und offenem »Wirtschaftsoptimismus« schwankt. Der Durchschnittswähler, um den die sogenannten Parteien buhlen, entspricht unter dem Eindruck der Krisendrohung mehr denn je dem deutschen Spießbürger, wie ihn Goethe gezeichnet hat: »Ein hohler Darm, voll Furcht und Hoffnung, daß Gott erbarm«.

Je schärfer die Systemkrise hervortritt und je wütender sie »oben« und »unten« gleichermaßen verleugnet wird, desto manifester werden auch zwei miteinander verwobene Entwicklungen innerhalb der politischen Sphäre, die ihren Verfall kennzeichnen. Die erste dieser beiden Erscheinungen kann noch notdürftig in den alten politischen Kategorien beschrieben werden, nämlich als durchgehende »Rechtstendenz«. Da die früheren linken Projekte, Ideen und politischen Strömungen allesamt direkt oder indirekt an den Formen des Staatssozialismus orientiert waren, und sei es in irgendeiner westlichen linkskeynesianischen oder sonstwie staatsökonomischen Variante, und da diese Orientierung in ihrem gesamten Spektrum keineswegs zu Unrecht jeden Kredit und in der Schaumsprache einer leerlaufenden Pseudoöffentlichkeit jede »Glaubwürdigkeit« verloren hat, gähnt auf der Seite der linken Systemopposition ein schwarzes Loch. Wie Pawlowsche Hunde reagieren sämtliche Vertreter der politischen Klasse auf die verleugnete Systemkrise mit einer ideologischen, politischen und programmatischen »Bewegung nach rechts, von den Grünen bis zur CSU«, wie der durchaus staatstreue Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, zutreffend festgestellt hat. Im leckgeschlagenen Tanker der bürgerlichen Gesellschaft rennt und drängt trotz des absurden offiziellen Optimismus alles in Panik nach der rechten Seite; die Grünen sitzen der SPD auf dem Schoß, die SPD der CDU, und diese den Rechtsradikalen. Aber gerade durch diese panische Bewegung wird das Kentern umso wahrscheinlicher.

Daß sich in dieser allgemeinen Rechtstendenz die Geschichte in irgendeiner bloßen Modifikation wiederhole, ist allerdings ein Trugschluß, wie er vor allem den geschlagenen Resten der alten und neuen Linken unterläuft, die ihre unbrauchbar gewordene ideologische Brille nicht ablegen wollen. Es findet nämlich nicht einfach ein Positionswechsel innerhalb eines gleichbleibenden Bezugssystems statt, sondern das Bezugssystem selber zerfällt. Hinter der immer fadenscheiniger werdenden politischen Kulisse lauern einerseits der demokratische Notstandsapparat, der soziale Armut, kulturelle Verwahrlosung und ökologische Zerstörung bürokratisch verwaltet, und andererseits die Bandenherrschaft eines endemischen Alltagsterrors; beides weltweite (allmählich ineinander übergehende) Erscheinungen eines neuen Krisentypus, in dem sich die warenförmige Zivilisation als solche aufzulösen beginnt. Diese Erscheinungen reichen bis in die Politik hinein, aber sie sind selber keine Politik mehr und demzufolge auch nicht mehr in politischen Kategorien zu beschreiben. Es handelt sich um Erscheinungsformen, die vom Ende der Politik künden; und insofern ist eine »Rechtstendenz«, die sich auf gar keinen Gegenpol mehr bezieht, nur noch Bestandteil eines Simulationstheaters, das inzwischen alle gesellschaftlichen Sphären ergriffen hat.

Die Tendenz zur Simulation, die Hingabe an den Schein und das »Spielen« von Seriosität im Namen des Geldes und des »Erfolgs« (der ebenfalls simuliert wird), das ist die zweite fundamentale Entwicklung, und zwar die eigentliche und übergreifende, in der die »Rechtstendenz« als sekundäres Moment mitschwimmt. Wie in der 68er Bewegung alle immanenten historischen Gestalten, Ideologien und Erscheinungsformen der linken, sozialistischen, kommunistischen, anarchistischen etc. Opposition noch einmal ergebnislos durchgespielt und bühnenreif aufgeführt wurden, so spielt nun umgekehrt im Angesicht der Systemkrise, die keine sein »darf«, die politische Klasse samt ihren randständigen Elementen noch einmal alle in der Durchsetzungsgeschichte des Systems aufgetauchten »offiziellen«, systemkonformen und »rechten« Ideologien, Trägergestalten, Erscheinungsformen und Wirtschaftspolitiken etc. noch einmal auf der gesellschaftspolitischen Bühne durch. Ebenso ohne Ergebnis natürlich. Man trägt Liberalismus und Neoliberalismus, aber auch Patriotismus und Nationalismus; die gute alte Blutsfamilie wird ebenso beschworen wie die Vorvätertugend; und es sollte nicht wundern, wenn sogar die Monarchisten wieder auftauchen (in Brasilien ist das bereits ebenso der Fall wie in Rußland, Rumänien oder Ungarn).

Da dieser Maskenball der politisch-ökonomischen Geschichte »substanzlos« im wahrsten Sinne des Wortes ist, wird er noch nicht einmal mehr die bloße Verlaufsform der Systemkrise politisch steuern können, sondern selbst darauf werden andere, »postpolitische« Kräfte und Erscheinungen Einfluß nehmen. Die Substanzlosigkeit der Politik entspricht dabei derjenigen des Geldes, das sie nicht mehr hat: das »fiktive Kapital« (Marx) des global verzinsten Geldes und des Staatskredits ist längst über jede »reale« kapitalproduktive Basis hinausgewuchert. Die abstrakte Arbeits-Substanz, die im Weltmaßstab als »gültige« durch Rationalisierung und Stillegungen erstmals in der kapitalistischen Geschichte nicht mehr bloß zyklisch, sondern strukturell geschrumpft wird, kann das auf ewige Akkumulation angewiesene System nicht mehr tragen. Insofern ist der postpolitische Maskenball bereits der Totentanz der auf den Fetischkategorien von Ware und Geld beruhenden Moderne.

Krisenignoranz und bürgerliche Identität der Linken in demselben Maße, wie die politische Funktionssphäre des modernen Fetisch-Systems als solche fiktional, »unglaubwürdig« und von bereits postpolitischen Kräften geschüttelt wird, blamiert sich auch der linke Politizismus in allen seinen Varianten bis auf die Knochen. Das linke Weltbild bricht nicht bloß deswegen zusammen, weil der »Big Brother« Staatssozialismus den Weg alles Irdischen gegangen ist, sondern auch deswegen, weil die »Politik« immer Höhepunkt und Endpunkt des linken Denkens war; ja der Begriff »links« ist überhaupt in sich ein genuin politischer Begriff, der jenseits des Fetischsystems keinen Sinn mehr macht. Die Grenze des Systems ist deshalb unweigerlich auch eine Grenze des »Links-Seins«, das per definitionem an die politische Funktionssphäre der Ware-Geld-Beziehung gefesselt ist.

Damit enthüllt sich auch der tiefere Grund für einen eigentümlichen Aspekt des Zusammenbruchs der Linken in den letzten Jahren. Solange nämlich die Systemkrise noch nicht manifest geworden war, beschäftigte sich die Linke ganz ausdrücklich mit Krisentheorie und mit der Kritik der Politischen Ökonomie; noch die staubtrockensten Wälzer dazu wurden verschlungen und »geschult«. Radikale Gesellschaftskritik schien selbstverständlich zu sein und also auch das Selbstverständnis auszumachen, und die Radikalität dieser Kritik war ebenso selbstverständlich eine solche des »politökonomischen« Kerns der kapitalistischen Produktionsweise, wie sie sich krisentheoretisch zu legitimieren suchte. Die Absurdität der seitherigen Entwicklung besteht auf den ersten Blick offensichtlich darin, daß in demselben Maße, wie die Krise wirklich gekommen ist, das linke Interesse an der Krisentheorie mehr und mehr erlahmte und sich schließlich in einer Zeit, in der wir es mit einer großen Weltkrise zu tun haben, völlig verflüchtigte. Je deutlicher es wurde, daß diese Krise keine bloß zyklische mehr ist, sondern an die Substanz der warenförmigen Vergesellschaftung rührt, desto geringer wurde auch das Interesse an einer Kritik der Politischen Ökonomie. Und je kritikwürdiger selbst für den oberflächlichen Augenschein die westlichen Gesellschaften nicht mehr bloß in ihren Außenbeziehungen wurden, sondern auch in ihrem eigenen sozialen Inneren, desto stärker entradikalisierte sich die Linke und begann, den westlichen Gesellschaftsmodus in den höchsten Tönen zu preisen und zu loben.

Zusammen mit dem ersten großen Krisenschub zu Beginn der 80er Jahre verschwanden bei vielen die blauen Bände im Keller, und im Gleichschritt mit der Ausbreitung von Massenarbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit und neuer Armut ging nicht nur das Interesse der Linken an Ökonomie zurück, sondern das Wissen darüber wurde geradezu »vergessen« und dann natürlich auch nicht mehr weitergegeben. Während heute allmählich die Dimensionen der Weltwirtschaftskrise erreicht werden und die Zeit nicht mehr fern ist, da man in Frankfurt oder Berlin ganz genauso wie in New York oder Kalkutta beim Einkaufen über Elendsgestalten, Tote und Halbverhungerte hinwegsteigen muß, ist die Linke beim fast vollständigen politökonomischen Analphabetismus angelangt. Geld hat man zu haben, über Geld wird nicht mehr geredet; oder höchstens über die besten Anlagemöglichkeiten.

Es ist wirklich zum Lachen: mitten in der schwersten ökonomischen Krise seit Jahrzehnten verhalten sich die meisten Ex- und Noch-Linken zu den elementaren kapitalistischen Kategorien, ja selbst zum Begriff der kapitalistischen Produktionsweise so, als ob sie »darüber hinweg« wären, als ob die Beschäftigung damit eine Art Jugendsünde gewesen sei, und als ob diejenigen, die immer noch davon reden, zu den hoffnungslosen Fällen gehören würden und irgendwie bemitleidenswert »altmodisch« wären. Über die Brisanz der Krise wissen bürgerliche Sozialpolitiker, Manager, Banker und Sparkassendirektoren besser Bescheid als sämtliche Restlinken zusammengenommen.

Der größte Witz aber ist es, daß dies keineswegs bloß für die Reformisten, »Realos« und jeglichem »Links-Sein« Davongelaufenen gilt, sondern mindestens genauso für die übriggebliebenen Linksradikalen selbst. Gerade die alteingesessenen, abgetakelten Polit-Gurus des Linksradikalismus behaupten im berühmten Brustton der Überzeugung, daß die Krise eigentlich gar keine sei, daß »das Kapital« fester denn je im Sattel sitze und sich gerade Gedanken über eine neue Expansion mache; sowieso sei »das Kapital« so überaus flexibel und anpassungsfähig, daß es jede Krise meistern könne (falls es überhaupt eine gibt), und das sei ja wohl historisch hinlänglich bewiesen. Hier ist festzuhalten, daß diese bis zur Gebetsmühlenhaftigkeit verkommene Argumentation, die längst jeden Anschluß an akkumulationstheoretische Fragestellungen verloren hat (ganz zu schweigen von deren Vermittlung mit der aktuellen Weltmarktbewegung), meistens auch die Auseinandersetzung mit den historischen Zusammenbruchstheorien nur noch vom Hörensagen kennt.

Vor allem aber: diese phrasenhaft verkommene Argumentation, die sich um die Realität und um die ökonomische bzw. ökonomiekritische Theorie nicht mehr schert, ist eine bis in die Wortwahl und bis in die gestanzten Statements hinein gemeinsame bei den letzten Linksradikalen oder »Fundis« wie bei den »Realos«, bei den offiziellen »Bürgerlichen« wie bei den Rechten. Hier wird eine fast schon unappetitliche Identität sichtbar, die auf das gemeinsame Bezugssystem verweist. Und so bietet sich das groteske Schauspiel, daß ohne jegliche systematische Analyse des wirklichen Krisenprozesses ausgerechnet das letzte scheinbar trotzige Häuflein der Linksradikalen die ewige Überlebensfähigkeit des Kapitalismus propagiert, von einer Systemkrise nichts wissen will und sich jeder Debatte darüber verweigert, ja nicht einmal nennenswerte eigene Untersuchungen auf dem verdrängten Gebiet der Politökonomie anstellt. Der Kapitalismus ist der gute böse alte Feind, den man braucht, der immer derselbe ist (»alles schon mal dagewesen«, die müde Geste des historischen Ignoranten), der immer war und sein wird.

Die wenigen ganz jungen Linksradikalen der 90er Jahre haben offensichtlich von der Kritik der Politischen Ökonomie ungefähr soviel Ahnung wie Katzen von Katzenbüchern. Die linken »Achtzigerjahrejugendlichen« (Bodo Morshäuser) wiederum, die inzwischen langsam erwachsen sein müßten, haben sich von der radikalen Kritik des kapitalistischen Vergesellschaftungskerns längst entfernt und sind völlig unvermittelt auf den Dampfer der scheinradikalen postmodernen Simulations- und Kommunikationstheorien umgestiegen; in Wahrheit sind viele von ihnen längst zu Komparsen des postpolitischen gesellschaftlichen Simulationstheaters geworden, das aus dem Born des »fiktiven Kapitals« ein lustiges Leben mimt, während die alten linksradikalen Begriffe in verdünnter Form noch mitgeschleppt werden. Wahrscheinlich sind diese Begriffe dabei längst zu beliebig besetzbaren »Zeichen« des »Diskurses« geworden, ungefähr so, wie sich Modepopper inzwischen Hammer- und Sichel- oder Lenin-Abzeichen als »frei verfügbare« (inhaltslos gewordene) Signaturen der Beliebigkeit anstecken (oder gleich das Hakenkreuz als modisches Accessoire). Das linksradikale Sein als Design - was soll da noch die Frage von Ware und Geld, von Kapitalakkumulation und Krise? Die Kritik braucht sich nur noch diskurs- und kommunikationstheoretisch bzw. »dekonstruktivistisch« zu legitimieren, weil sie ohnehin bloß eine simulierte ist.

Dazu passen dann die ganz alten, auch geistig grau gewordenen Restbestände des Linksradikalismus, sozusagen das Seniorenheim der ehemaligen linksradikalen Bewegung. Diese vorgeblich »jungen Alten« linker Radikalität haben sich mitten in der auch von ihnen nicht begriffenen Krise erst recht von der Kritik der Politischen Ökonomie verabschiedet, um sich auf einen von jeglicher reflektierten Kapitalismuskritik entkoppelten »Antifaschismus« und »Antinationalismus« (»Nie wieder Deutschland« - eine offenkundig blödsinnige Parole) zurückzuziehen. Das schlechte Gewissen über die eigene frühere Affinität zur »Politischen Ökonomie« des Staatssozialismus mag dabei ebenso eine Rolle spielen wie die theoretische Begriffslosigkeit den neuen weltgesellschaftlichen Erscheinungen gegenüber; einige scheinen sogar den Vorzügen des Kasernensozialismus nachzutrauern, obwohl die Öffnung der Grenzen und der Archive selbst ihnen das kalte Grausen hätte beibringen müssen: Dieselbe historische Ignoranz wie hinsichtlich der Krise ist offenbar auch bei der Einschätzung des Staatssozialismus als angebliches »versuchtes Alternativsystem unter schwierigen Bedingungen« weiterhin wirksam.

Der von einer systematischen und zugespitzten Kritik der Vergesellschaftungsform und damit der Politischen Ökonomie völlig abgelöste »Antifaschismus« und »Antinationalismus«, so antik und zielungenau er auch sein muß, schließt die Senioren und die Junioren des krisenignoranten Linksradikalismus dann auf der Basis dieser Ignoranz wieder zusammen; ihre Rest-Diskurse mischen sich jenseits jeglicher Krisenanalyse und jeglicher ökonomiekritischen Begrifflichkeit.

Die krisenignorante Identität von Linksradikalen und Reformisten, von Fundis und Realos, ja von Bürgerlichen und Linken überhaupt (ironischerweise haben manche Vertreter »bürgerlicher« Institutionen heute sogar mehr Krisenbewußtsein als die Linken) scheint zunächst auf eine Art »Verrat« hinzuweisen. So hätten die Linken jedenfalls früher selber das Phänomen bezeichnet. Die absurde Gegenläufigkeit von realer Krise und linker Abstinenz von Krisentheorie bzw. sogar Gesellschaftskritik könnte zumindest so verstanden werden, daß die scheinbare frühere Position eigentlich gar nicht ernst gemeint war. Vielleicht war sie bloß eine Art Luxusprodukt der intellektuellen Mittelschichten, eine Art Gesellschaftsspiel oder Zeitvertreib, Jux und Tollerei mit intellektuellem Kitzel, aber eben nur für gesellschaftliche Schönwetterzeiten; wenn es in der Realität ernst wird, dann will man/frau nichts mehr davon wissen und sieht plötzlich »jenseits der Moral« über das galoppierende Elend hinweg. Oder, wenn es der eigenen bürgerlichen Existenz ans Leder zu gehen droht, verlegt man sich auf die unkritische »Sorge um sich« in Form einer zähnefletschenden Besitzstandswahrung, wie sie einem »Mittelstand« wohl ansteht (und sei es bereits ein simulierter).

Diese Momente sind offenkundig wirksam, aber darin geht das Phänomen des Zusammenbruchs der Linken dennoch nicht restlos auf. Der eigentliche Grund ist ein viel tieferer; er liegt in der bürgerlichen Identität des »Linksseins« als solchem. Eine solche Kennzeichnung mag dem linken Bewußtsein als nachgerade absurd erscheinen; aber eben nur deswegen, weil es sein eigenes Wesen gar nicht kennt. Denn die politische Kategorie »links« verweist ja nur auf die Sitzordnung innerhalb der bürgerlichen Welt des warenproduzierenden Systems in der Moderne, und nicht auf eine fundamentale Opposition diesem System gegenüber. Dieser Sachverhalt beweist sich dadurch, daß noch der militanteste Linksradikalismus seine Ziele, Forderungen, Maßnahmen und Aktionsformen nicht anders als in den herrschenden Systemkategorien formulieren kann, d.h. letzten Endes in den Beziehungsformen von Ware und Geld.

Die »Klassenkämpfer« haben gar nicht bemerkt, daß es sich bei diesem Kampf überhaupt nur um einen Verteilungskampf immanenter »Charaktermasken« (Marx) des warenproduzierenden Systems handeln kann, denn diese Klassen als solche sind bis auf die Knochen von diesem System konstituiert. Demzufolge konnte der »Klassenkampf« der »Arbeiterklasse« auch niemals weiter kommen als bis zum Zielbegriff des »Arbeiterstaats« (von der alten Sozialdemokratie über die Kommunisten bis zu den Operaisten und anderen Linksradikalen der jüngeren Zeit). Dieser Zielbegriff ist schon seiner Wortbedeutung nach doppelt systemimmanent, d.h. er beruht auf der Prolongation der modernen kapitalistischen Realkategorie »Arbeit« ebenso wie der modernen kapitalistischen Realkategorie »Staat«, wobei letzterer die Systemfunktion »Arbeit« in den blind vorausgesetzten Basiskategorien von Ware und Geld »im Namen der Arbeiterklasse« regulieren, »planen« und verwalten soll.

Dieser Zielbegriff war immer ein falscher, aber das war bloß theoretisch wirksam, solange die daran gebundene praktische Bewegung ihre systemimmanente »historische Mission«, die kapitalistische Gesellschaft auszuformen (Massenarbeit, Massenkonsum, Massendemokratie), noch nicht erschöpft hatte. Zusammen mit dem System als solchem aber kommen auch die »Arbeiterbewegung« und das systemimmanente »Linkssein« an ihr historisches Ende. Unbewußt oder halbbewußt spüren das die Linken, und deswegen eigentlich spielen sie plötzlich angesichts der Systemkrise die drei Affen. Gerade der kümmerliche restliche Linksradikalismus, der oberflächlich an den alten Bewußtseinsformen der Kritik festhält, verrät sich durch seine Krisenignoranz und durch seine Abkehr von der Kritik der Politischen Ökonomie selbst. Er tut zwar so, als sei er in dieser Hinsicht nur deshalb verstummt, weil er alles gesagt hätte, was es dazu zu sagen gibt, und die Massen hätten eben zu ihrem eigenen Schaden nicht darauf gehört. Aber im Grunde genommen ahnt er längst, daß sein ganzes begriffliches und agitatorisches Instrumentarium einer verkürzten, systemimmanenten Kapitalismuskritik angehört.

Kratzt man die Oberfläche des scheinbar unbelehrbaren und sich in teils heroischen, teils weinerlichen und teils tragischen oder tragikomischen Posen gefallenden alten Linksradikalismus, dann kommt unter der dünnen Haut des platten »Antifaschismus« und »Antinationalismus« ein grundsätzliches Kapitulantentum zum Vorschein, das nicht mehr an sich selber glaubt, gerade weil es von seiner tiefsten bürgerlichen Form-Identität nicht loskommen kann und dies eigentlich auch gar nicht will. Genau hier ist auch die eigentliche gemeinsame Identität mit den »Realos« zu suchen, wobei letztere nur die offene und insofern ehrlichere Konsequenz aus der gemeinsamen Befangenheit in den Realkategorien des bürgerlichen Vergesellschaftungsmodus gezogen haben. Während die restlichen Linksradikalen nur noch lustlos gegen einige Erscheinungsformen der kapitalistischen, marktwirtschaftlichen Produktionsweise anstänkern und gleichzeitig den basalen Systemmechanismus mangels Kritikfähigkeit stumm tolerieren müssen, haben die »Realos« ihren offiziellen Frieden mit dem totalen Marktsystem gemacht.

Gemeinsam ratlos in der Zirkuskuppel des Politizismus: Fundis und Realos

Wie sich die verborgene bürgerliche Identität der Noch-Linken ebenso wie der Ex-Linken in der gemeinsamen Krisenignoranz und ökonomiekritischen Abstinenz zeigt, so erscheint sie auch in ihrem gemeinsamen Politizismus. »Politisierung« war das Stichwort der Linken schon immer, und erst recht der sogenannten Neuen Linken seit 1968, ohne daß der warenförmig konstituierte, an sich bürgerliche Charakter der politischen Sphäre ins Blickfeld geriet. Grundsätzlich zeigte diese Schranke der Kritik ein Dilemma an, das sich aus dem Verhältnis von »Bewegung« und »Politik« ergibt. Als »Bewegungen« kann man die Formen unmittelbarer Aktion und Selbstorganisation bezeichnen (oft ist auch von »Basisbewegungen« die Rede). Diese Bewegungen wollen stets unmittelbar etwas erreichen oder verhindern; sie enthalten die Keime von sinnlicher Vernunft, unverstellter Kommunikation und direkter Vergesellschaftung.

Dies gilt wohl schon für die Vergangenheit in vieler Hinsicht, sogar für bestimmte Momente der alten Arbeiterbewegung, obwohl deren Blick noch gar nicht über das warenproduzierende System hinausreichen konnte. Erst recht gilt dies für unsere Zeit, in der die objektive innere Schranke des Systems aufscheint. Ob historische Rätebewegung, alte und neue Frauenbewegung, Hausbesetzerbewegung, Alternativbewegung, Ökologie- und Anti-AKW Bewegung: der Keim der Transformation über die Zwänge und Zumutungen des warenproduzierenden Fetischsystems hinaus war in irgendeiner Weise immer da. Aber dieser Keim konnte keine Nahrung finden und mußte verkümmern, solange das System selbst noch einen inneren Entwicklungshorizont hatte und die Gegenbewegungen stets von neuem nicht nur aufsaugen, sondern sie für seinen jeweils nächsten Entwicklungsschub instrumentalisieren konnte. In der historischen Arbeiterbewegung überwog dabei (schon von ihrem Begriff her) die systemimmanente Entwicklungsaufgabe; aber auch die jüngeren »neuen sozialen Bewegungen« erlagen zunächst noch der Sogkraft des bereits auf seine absolute Schranke zusteuernden Systems.

Das ist natürlich auch eine Bewußtseinsfrage, denn bis heute denken auch die Menschen in den Bewegungen selber bewußtlos warenförmig, weil sie in diese Form hineinsozialisiert worden sind, der scheinbar übermächtigen und in Jahrhunderten herausgebildeten Selbstverständlichkeit des totalisierten Geldes unterliegen und spontan dazu neigen, ihre »eigentlich« und keimhaft gegen die Systemzumutungen gerichteten Anliegen selber wieder in die Systemkategorien zu übersetzen und sie in den herrschenden Institutionen zu Tode mahlen zu lassen. Der Brückenkopf eines anti-warenförmigen Bewußtseins, das die verborgenen Transformationskeime in den Bewegungen zu wecken vermag, wenn es »an der Zeit ist«, kann die theoretische Reflexion sein, wenn sie Vermittlungsformen und Vermittlungsträger findet; aber eben nur in Gestalt einer Theorie, die durch die Krisenanalyse hindurch die Kritik der Warenform zuspitzt und konkretisiert, also über den Marxismus und über das »Linkssein« hinausgehen muß. Das Vermittlungsproblem bleibt auch dann ein prekäres; nicht nur deswegen, weil auch die Träger der Reflexion und der vermittelnden Initiative unfreiwillig gespalten bleiben und in Widerspruch zu ihrem eigenen praktischen Leben in der Warengesellschaft geraten, sondern auch durch die Schwerkraft des Systems selber, das noch in seiner Krise ein Trägheitsmoment des Denkens und Handelns erzeugt.

Diese transitorische Leistung ist bis jetzt nicht vollbracht, und sie kann in der Form des politischen »Linksseins« auch gar nicht gehen. Stand aber in der arbeiterbewegten Vergangenheit die Form linker Politik im Einklang mit der positiven Systemimmanenz der Bewegungen, die den inneren Entwicklungsspielraum der Warenproduktion ausfüllten, so wird sie mit dem Erreichen der historischen Systemschranke absolut dysfunktional im Sinne weiterer Gesellschaftskritik. Es ist aber keineswegs nur so, daß die linke Politik eine jetzt erst unausweichlich gewordene Anforderung nicht mehr leisten kann. Vielmehr enthüllt sich nun auch der Tatbestand, daß die »Politik« als solche, als Funktionssphäre des warenproduzierenden Systems, gerade in Gestalt der linken Politik schon immer das entscheidende Moment war, die transzendierenden Keime in den Bewegungen zu ersticken und den spontanen Strom mehr oder weniger sanft in die sorgsam eingedeichten Gewässer systemimmanenter Entwicklungsprozesse zu leiten.

Dabei war es gleichgültig, ob diese Kanalisierung und Eindeichung der äußeren Form nach durch reformistische oder durch revolutionäre linke Politik geleistet wurde, solange es ohnehin nur um die strukturelle Weiterentwicklung des warenproduzierenden Systems gehen konnte. Der Begriff des »Revolutionären« bezog sich dann notgedrungen immer nur auf die Form der bürgerlichen Revolution nach dem französischen Muster, d.h. es ging entweder um deren nachholende Rekonstitution in den kapitalistisch noch rückständigen Weltregionen (zentral in dieser Hinsicht das Paradigma der Oktoberrevolution als »Französische Revolution des Ostens«), oder um daraus abgeleitete militante Transformationsprozesse im Westen selber, die aber auch nur Bestandteile systemimmanenter Entwicklungen sein konnten. Ob gemäßigt links oder linksradikal, ob bewußt oder unbewußt (oder sogar gegen die ausdrückliche eigene Zielsetzung): die linke Politik hatte dabei immer als Politik die systemische Aufgabe der Eingrenzung von Bewegungen in die Kategorien und Institutionen der Warenproduktion (entweder vom Standpunkt ihrer Entwicklung, d.h. der Herausbildung von Industrie und abstrakter Arbeit überhaupt, oder vom Standpunkt ihrer Erhaltung, d.h. in der Fesselung an Geldform und damit »Finanzierbarkeit«).

Diese objektive Eingrenzungsfunktion läßt sich auch dadurch bestimmen, daß »Politik« als solche im Gegensatz zu Selbstorganisation, direkter Kommunikation und direkter Vergesellschaftung steht. Ihr bloßes Dasein ist schon eine Form, ein »Subsystem« indirekter, fetischistischer Vergesellschaftung und damit verstellter, verfälschter Kommunikation. Politik ist per definitionem potentielle oder manifeste Menschenverwaltung, gleichgültig ob im großen oder im kleinen Maßstab. Das hat historisch die Sozialdemokratie ebenso gezeigt wie der Leninismus oder die politische Form der »Nationalen Befreiungsbewegungen« in der Dritten Welt. In Bezug auf die Bewegungen erweist sich dieser grundsätzliche strukturelle Tatbestand daran, daß die Politik und damit das politische »Linkssein« außerstande sind, sich in diesen immanent als Ferment, als kritischer Faktor oder mobilisierendes Moment zu bewegen. Sie neigen vielmehr objektiv dazu, sich als Sonderorganisation den Bewegungen gegenüber äußerlich zu reproduzieren. Die Form dieser Absonderung ist die politische Partei, in welcher historischen Gestalt auch immer. In dieser Hinsicht besteht kein struktureller Unterschied zwischen SPD, Grünen, PDS, den sektenhaften K-Gruppen der 70er Jahre oder allen möglichen linkspolitizistischen Zersetzungsprodukten von heute. Die Verdoppelung in »Bewegung« einerseits und »Partei« andererseits (oder Partei in nuce, Partei in spe oder parteiähnliche Gebilde) ist immer schon Kennzeichen einer bürgerlichen, warenförmigen Beschränkung. Potentiell oder manifest tendieren die politischen Gebilde strukturell dazu, die Bewegungen verwalten zu wollen; die Mittel dafür sind zweitrangig und historisch unterschiedlich, sie reichen von »Abhängigmachen« durch scheinbar selbstlose Dienstleistungen bis zur terroristischen Polizeigewalt. Im Grunde genommen sind die politischen Parteien allein schon ihrer besonderen Form nach, unabhängig von den subjektiven Intentionen ihrer Träger, auch dann in ihrem Verhältnis zu den Bewegungen potentieller Staat oder Quasi-Staat, wenn sie dem herrschenden Staat gegenüber als oppositionelle agieren (was dann allerdings auch bei den programmatischen Zielsetzungen in irgendeiner Weise als positiver Bezug auf Staatlichkeit überhaupt erscheint). Den strukturellen Beweis dafür liefert noch die machtloseste linke Polit-Sekte, die von den Bewegungen auf dem Trockenen zurückgelassen worden ist, in ihrem eigenen Innenbezug: wenn nichts äußeres verwaltet, bevormundet und mehr oder weniger subtil geschurigelt werden kann, dann doch wenigstens die eigene Organisation und die eigenen Mitglieder; die Verdoppelung in »Partei« und »Bewegung«, in »Führung« und »Basis«, in Subjekt und Objekt reproduziert sich unvermeidlich auch im Inneren der Parteien, Quasi-Parteien und Polit-Sekten selber. Sie gehört zur dualistischen Grundstruktur warenfetischistischer Vergesellschaftung.

Man muß es den Anarchisten lassen, daß sie von Anfang an einen »Riecher« für dieses Problem hatten und sich deswegen immer wieder gegen die »Politik« als solche zu sperren versuchten. Aber auch sie vermochten natürlich über die historische Beschränkung der Aktionsmöglichkeiten ihrerseits nicht hinauszukommen. Gegenüber der abgewehrten politischen Sphäre konnte dann nur die andere Seite der falschen Unmittelbarkeit mobilisiert werden im Versuch, eine »direkte« soziale Emanzipation in derselben basalen Fetischform der bloß abstrakt negierten staatlich-politischen Macht gegenüber äußerlich zu entwickeln. Entsprechend sahen diese Versuche dann auch aus: krude Projekte vermeintlich alternativer Warenproduktion und der kapitalistischen Produktionsweise gegenüber begriffslose Geldpfuschereien (von Proudhon bis Silvio Gesell). Eine andere Version waren Formen von syndikalistischem »Betriebsegoismus« und/oder »Lohnradikalismus« mit möglichst hohen Geldforderungen unabhängig von den Systembedingungen. Dieser syndikalistische Scheinradikalismus mit Distanz zur politischen Sphäre reichte übrigens bis in die ansonsten eher marxistisch inspirierten Projekte des italienischen Operaismus und gewisser linksradikaler Sekten der alten BRD hinein (als agitatorisches Moment wirksam sogar bei der ehemaligen »Marxistischen Gruppe«). Weder theoretisch noch praktisch waren die diversen anarchistischen und syndikalistischen Ansätze einer Kritik des Politischen in der Lage, die Aufhebung des Systems zu konkretisieren, weil ihre Kritik der »Politik« sozusagen nur »die Hälfte der Hölle« erfaßte, d.h. den systematischen inneren Zusammenhang von Warenform und »Politik« nie in den Griff bekam.

Im Rückblick auf die 80er Jahre läßt sich sagen, daß seit dieser vergangenen Dekade das Stadium der historischen Schranke warenförmiger Gesellschaftlichkeit erreicht worden ist, und daß daher seitdem eine das politische »Linkssein« erstmals aufhebende Theorie und Praxis gefordert sind. Im ersten Anlauf ist die Gesellschaftskritik an dieser Aufgabe offenkundig kläglich gescheitert. In der alten wie in der neuen BRD hat vielmehr der alte Politizismus noch einmal einen prekären Triumph gefeiert, während gleichzeitig die Kritik weitgehend entradikalisiert wurde bzw. (beim Rest der Linksradikalen) ihren Begründungszusammenhang verlor. Krisenignoranz und Politizismus stehen offenbar in einem engen Beziehungsverhältnis.

Nach der 68er-Bewegung hatten sich im Laufe der 70er Jahre die »neuen sozialen Bewegungen« herausgebildet; am wichtigsten war wohl die neue Frauenbewegung, daneben entstanden die Öko- und Alternativbewegung sowie diverse »Einpunktbewegungen« (Anti-AKW, Hausbesetzer etc.). In gewisser Weise wurden dabei Bewegungsansätze der 68er aufgenommen und sogar erweitert fortgeführt. Freilich geschah dies mit einem zunehmenden Vorbehalt der jüngeren »Bewegungsgenerationen« gegenüber der synthetischen Verallgemeinerung von Gesellschaftskritik durch einen marxistischen Begründungszusammenhang. Diese Vorbehalte gegen die tradierten Formen des marxistischen »Linksseins« und der dazugehörigen Theorie waren sehr berechtigt, weil damit die gesellschaftliche Entwicklung in der Tat nicht mehr erfaßt werden konnte; aber an die Stelle des bisherigen Marxismus trat keine neue synthetisierende und die Gesellschaftskritik fokussierende Theorie, keine »Aufhebung« des Marxismus, sondern nur eine Leerstelle. Der Feminismus und der akademische Flügel der Alternativen brachten es zwar noch zur Theoriebildung, freilich auch zu keiner aufhebenden (die teilweise noch weitergeführten Anleihen bei Marxismus und Psychoanalyse sind inzwischen vielfach durch Anleihen bei affirmativen postmodernen Theoremen abgelöst worden).

Die 68er selbst, soweit sie nicht sowieso wieder vom alten Sozialdemokratismus verschluckt worden waren, hatten sich inzwischen, getreu ihrer politizistischen und demokratistischen Herkunft, in strukturell »politische« Gruppen, Parteien, Bünde etc. verwandelt; teils in Form der sogenannten K-Gruppen (dem Selbstverständnis nach »kommunistische« Partei-Surrogate), teils als sogenannte Spontis, die sich mit operaistischem Hintergrund ebenfalls als »proletarische Klassenkampf-Organisationen« gerierten. Wesentlich dabei war aber nicht der historisch verfallende (und ohnehin nur in »Realinszenierungen« geschauspielerte) alte Klassenkampfbegriff, sondern die Versteinerung zu politischen Organisationen. Denn strukturell nahm der ehemalige Bewegungskern von 1968 damit gegenüber seinen Bewegungs-Nachfolgern unvermeidlich die Position von »Politik«, »Partei« und »Staatlichkeit« ein, hatte also im Grunde genommen in der (an sich immer schon bürgerlichen, warenförmigen) Polarität von Bewegung einerseits und Partei/Staatlichkeit andererseits die Seite gewechselt.

Solange dieser Wechsel noch in der Form von linksradikalen Sekten und Gruppen sich vollzog, fiel er als struktureller Tatbestand nicht offen ins Auge. Aber dieser Wechsel verhinderte nicht nur eine grundsätzliche Selbstreflexion der eigenen Geschichte, sondern auch jede Möglichkeit, sich den neuen Aufgaben einer Transformation der radikalen Gesellschaftskritik zu stellen. Die zunehmende Theoriefeindlichkeit der Bewegungen (die ja ihre berechtigten Gründe hatte) wurde nicht durch neue, innovative Theoriebildung bekämpft, sondern durch verstärkten Politizismus. Die strukturelle Absonderung und Verselbständigung des Politischen gegenüber den Bewegungen potenzierte sich auf diese Weise. Die linken Politizisten wollten sich in Wahrheit instinktiv nicht mehr auf die Bewegungen verlassen und diese von innen heraus (als ihr Bestandteil) synthetisieren und transformieren; dafür fehlte ihnen ja auch alles Verständnis.

So mochte der Bewegungsbezug zwar für geraume Zeit noch eine legitimatorische Rolle spielen, aber substantiell war es bereits die Scheidung von Bewegungen und (damals noch linker) Politik. Die nicht bewußt reflektierte strukturelle Absonderung begann reif zu werden, und damit war auch das Versagen vor den neuen Aufgaben besiegelt. Das Resultat war die grüne Partei, in der sich die 68er Politizisten mit diversen Abfallprodukten der offiziellen politischen Sphäre verschmolzen. Aufgrund ihrer Bewegungs-Erfahrung und ihrer organisatorischen Schule besetzten die strukturell in der politischen Form erstarrten Kader der ehemaligen 68er, der K -Gruppen und »Spontis« den größten Teil der Kommando-Ebenen der neuen Partei. Sowohl die späteren »Realos« als auch die späteren »Fundis« kamen aus diesem Stall, besonders aus dem organisationsfetischistischen KBW (»Kommunistischer Bund Westdeutschlands«), aus den Reihen der linksradikalen Frankfurter Spontis und aus dem norddeutschen KB (»Kommunistischer Bund«). Eine Zeitlang wurde diese Herkunft von den »Altparteien« noch denunziatorisch ausgeschlachtet, bis auch das langweilig und funktionslos zu werden begann.

Die Debatten um diese Entscheidung, endgültig und offen auf den Pol der strukturellen Staatlichkeit zu wechseln, sind im einzelnen heute uninteressant; sie können bei Joschka Fischer oder in den alten Traktaten von Trampert/Ebermann u. Co. nachgelesen werden. Gleichgültig, ob diese Entscheidung quasi »leninistisch« begründet wurde oder einfach mit der Veränderung der Weltläufte an sich, sie war eine gemeinsame aus der unaufgearbeiteten politischen Sozialisationsgeschichte heraus; daß darin schon der Keim für das spätere Fundi-Realo-Zerwürfnis lag, ist demgegenüber sekundär. Natürlich sind die oberflächlichen Argumente für eine parlamentarische Aktivität nicht einfach falsch. Auch eine Bewegung oder ein Bewegungsferment, die auf direkte Kommunikation und Vergesellschaftung zielen bzw. eine Aufhebung der Warenform und damit der »Politik« anstreben, können gegebenenfalls Leute ins Parlament schicken. Wesentlich ist nicht eine abstrakte, prinzipienhafte Negation parlamentarischer Aktivität überhaupt, sondern ob diese Aktivität im Kontext einer wirklichen Aufhebungsbewegung steht, die von innen heraus ein Problembewußtsein dazu entwickelt hat und daher mit solchen sekundären Fragen der verschiedenen Aktionsformen umgehen kann, ohne sich an unbegriffene Mächte und Strukturen zu verlieren.

Gerade diese Voraussetzung aber war in keiner Weise gegeben. Das bloß abstrakt »richtige« Argument für die grundsätzliche Möglichkeit einer auch parlamentarischen Aktion wurde im theoretisch »falschen« alten, marxistischen Kontext begründet und/oder im praktisch »falschen« Kontext politizistischer Absonderung vollzogen. Die an sich mögliche parlamentarische Aktion konnte so natürlich kein praktisches Moment einer gar nicht vorhandenen und von innen heraus entwickelten Aufhebungsbewegung sein, sondern von vornherein nur die endgültige Transformation der bestorganisierten ehemaligen Bewegungs-Bestandteile in ein Segment der politischen Funktionssphäre des warenproduzierenden Systems, d.h. der potentiellen oder manifesten kapitalistischen Menschenverwaltung, speziell der erstickenden Bewegungsverwaltung. Formal war der Umschlagspunkt offensichtlich der Übergang von den noch eher bewegungsimmanenten »bunten Listen« der späten 70er Jahre zur Gründung einer Partei, d.h. eines strukturell bürgerlichen und staatsorientierten Gebildes mit entsprechender Binnen-Institutionalisierung. Inhaltlich hatten Sozialstaatsillusion, »Staatsknete« als Endpunkt statt als Ausgangspunkt und Fixierung auf die Ware-Geld-Form überhaupt natürlich schon in der Phase der »bunten Listen« im Bewegungsprozeß selbst diesen Umschlag vorbereitet.

Was blieb, war eine Art schlechten Gewissens, das sich eine besonders absurde, formale Ausdrucksform suchte, nämlich das sogenannte Rotationsprinzip. Dieser elendiglich formale »Radikaldemokratismus« (durchaus zu unterscheiden von der Frauenquote, die auf einer ganz anderen Ebene liegt und ihre tiefe Berechtigung hat) ist in Wahrheit nur ein bewußtloses Surrogat für unverstellte Kommunikation und direkte Gesellschaftlichkeit, die gerade durch die bedingungslose Selbstauslieferung an die politische Funktionssphäre qua Partei dementiert wird. Wie es einer bewußten Transformationsbewegung möglich sein könnte, unter anderem auch parlamentarische Aktivitäten zu entwickeln, so müßte es ihr auch ein leichtes sein, Menschen dort im Sinne gemeinsamer Ziele wirken zu lassen, wo sie am besten geeignet sind und sich wohlfühlen, statt sie formal »rotieren« zu lassen. Sicherlich entspringt die Wendung gegen das »Politikergehabe«, gegen den »Jahrmarkt der Eitelkeiten« und gegen die bloß rhetorische leere Routine noch dem besseren Bewegungsimpuls, aber bei diesen Erscheinungen handelt es sich eben um Strukturmerkmale der politischen Funktionssphäre insgesamt, und es ist absurd, sich als Wolf unter Wölfen über das Heulen zu mokieren. Die Gefahr einer strukturellen Verkrustung, in der sich bürgerliche Machtpositionen, Cliquenwirtschaft und Sonderinteressen etc. herausbilden, ist nicht durch ein formales Surrogat zu bannen, sondern nur durch den Bewegungsbezug jenseits der »Politik« als solcher. Insofern war das Kind schon durch die »Parteigründung« selber in den Brunnen gefallen.

Der Fundi-Realo-Konflikt war dabei ebenso wie sein Ausgang vorprogrammiert. Das Eintauchen in die »offizielle« politische Sphäre mußte unter den gegebenen Bedingungen dazu führen, daß das bisher noch undeutliche, durch die äußerlich »systemoppositionelle« Intention überlagerte Strukturverhältnis von »Politik« und Bewegungen sich zur Kenntlichkeit entpuppte. Die Entkoppelung von Bewegungen und links-grüner Politikasterei war zwangsläufig. Der Rückgang der Bewegungen in den 80er Jahren war einerseits zwar auch ihrem eigenen Charakter (noch weit diesseits einer bewußten Aufhebungsbewegung gegen das warenproduzierende System) und der gesellschaftlichen Gesamtentwicklung geschuldet (Scheinboom des Kasinokapitalismus); aber dieser Rückgang wurde auch durch die politizistische Entscheidung der Linken und Linksradikalen selbst verstärkt, die sich begriffslos darüber beklagten. Verstärkter (nunmehr grüner) Politizismus und zunehmende »Bewegungsarmut« schaukelten sich gegenseitig hoch. Die Linksradikalen wie Trampert/Ebermann u.Co. durften auf diese Weise zwar noch einige Bundestagsreden schwingen in der unaufgehobenen altmarxistischen Klassenkampf-Diktion, die nur ein wenig angereichert war mit Ökologie; aber ihre kindliche Freude darüber währte nicht lange, denn in der objektiven Struktur der politischen Funktionssphäre war die Geburt der »Realos« ebenso unvermeidlich wie ihre schließliche Dominanz. Die Trampert/Ebermann u.Co., die sich eher sämtliche Finger abgebissen hätten, als einen strategischen Rückzug in die Theoriebildung (noch dazu im Sinne einer Aufhebung des Marxismus!) anzutreten, waren also die geborenen Verlierer, was sie offenbar bis heute nicht begriffen und verwunden haben.

Die Realos andererseits waren nur die logische Konsequenz aus der politizistischen Weichenstellung neuer Qualität Ende der 70er/Anfang der 80er Jahre. Sie vollzogen den Bankrott des gegenstandslos gewordenen alten Marxismus, aber nicht als dessen kritische Aufhebung, sondern als Abschied von radikaler Gesellschaftskritik überhaupt in der politizistischen Fallinie. Damit wurden sie zum ordinären Bestandteil der politischen Klasse. Die Mutation des Joschka Fischer vom elaborierten linksradikalen Sponti zur aufgeschwemmten Karikatur eines sorgenvollen Staatsmanns kann als Plot der gesamten links-grünen Geschichte verstanden werden. Ihre eigentliche politische Emphase bezogen die Realos gar nicht aus ihrer vielbeschworenen »gestalterischen« Substanz im großen Systemzusammenhang, sondern allein aus der innerparteilichen Auseinandersetzung mit den Fundis, in der sie ein Moment des »Rechthabens« aufblasen konnten: nämlich das Moment des durchaus notwendigen Abschieds vom marxistischen Paradigma eines verkürzten Begriffs der kapitalistischen Produktionsweise. Angelangt aber sind sie bei der völligen gesellschaftskritischen Begriffslosigkeit und im Leerlauf der politischen Funktionssphäre, wo sie als unwichtige Hanswurste des subjektlosen Systemprozesses am Simulationstheater der staatlichen »Verantwortung« und am Feilschen um leeren »Einfluß«, um »Stimmen« und Pfründe teilnehmen. Die Realos haben also der objektiven Struktur des Politischen im Systemzusammenhang der totalen Warenproduktion tatsächlich konsequenter Rechnung getragen als die Fundis, die als politizistische Systemkritiker (noch dazu in veralteten, inadäquaten Begriffen) einen Widerspruch in sich verkörperten und deswegen scheitern mußten.

Der links-grüne Politizismus hat in die Paralyse der Gesellschaftskritik geführt. Die ehemaligen Fundis krauchen verbittert am Rande der von ihnen strukturell immer noch nicht begriffenen politischen Sphäre herum und versuchen der theoretischen Rekonstruktion radikaler Gesellschaftskritik den Weg zu versperren, weil sie durch ein solches Unterfangen ihre letzten Felle davonschwimmen und ihre unaufgehobene linkspolitizistische Identität bedroht sehen. Sie sind nur noch ein Hindernis, eine Art Handicap für jeden Transformationsversuch des »Linksseins«: Hypothek und totes Gewicht, aber keine weitertreibende Kraft mehr. Ein Teil von ihnen scheint darüber allmählich hysterisch zu werden. Aber auch die Realos werden ihres politizistischen Lebens in der dünnen Luft staatsmännischer und staatsfrauischer Abgehobenheit auf die Dauer nicht froh. Die Probleme des wirklichen Lebens (nicht im Sinne von »Authentizität«, sondern im Sinne von Alltag und Krise), deren Lösung sie vorgeblich »gestalten« wollen, verwandeln sich im Bann der politischen Sphäre unter der Hand in die bloße Arithmetik der Macht und in den Selbstzweck des politischen Leerlaufs, dessen Räderwerk die Krisenprobleme gar nicht mehr erreichen kann.

Es mag ja sein, daß einige Figuren, die zu »Profis« im bürgerlichen, funktionalistischen Betrieb der »Politik« geworden sind, sich dabei ganz zu Hause fühlen und inzwischen einfach zur gewöhnlichen Personage der Systemrepräsentanz gehören. Aber es ist leicht vorauszusehen, daß es auch (und gerade) nach dem Hinauswurf der Fundis an der »Basis« der Grünen, bei ihrer Mitgliedermasse, in nicht allzu ferner Zeit gewaltig zu gären und zu brodeln anfangen wird. Das ist übrigens auch ein geschichtliches Phänomen bei allen politischen Parteien mit mehr oder weniger emanzipatorischem Anspruch, daß sich bei jeder neuen inhaltlichen Frage und in jeder Etappe der Entwicklung eine »linke Opposition« herauszubilden beginnt, die nicht selten abgenabelt und zum Keim einer neuen Partei wird usw. Es handelt sich dabei um die Art und Weise, wie der Widerspruch zwischen den Bewegungen bzw. dem eigentlich gegen die Zumutungen der Warenform gerichteten Impuls einerseits und der »Politik« bzw. Staatlichkeit/Menschenverwaltung andererseits sich innerhalb der »Politik« selbst abbildet und Ausdrucksformen sucht. Und solange sich die Entwicklung des warenproduzierenden Gesamtsystems noch nicht erschöpft hatte, gab es auch kaum eine andere Möglichkeit.

Heute dagegen haben wir es erstmals mit einer anderen Situation zu tun, in der die Wirklichkeit als Krise neuen Typs dem Gedanken der Systemaufhebung entgegenkommt. Deswegen kann die bisher als esoterisch und akademisch betrachtete Wertformanalyse und Fetischkritik erstmals grundsätzlich praktisch werden und oppositionelle »Definitionsmacht« gegenüber den bisher blind vorausgesetzten warenförmigen Funktionssphären gewinnen, auch wenn die Ausformulierung und Vermittlung ein kompliziertes Problem ist und sich durch den ganzen riesigen alten Identitätsbrei des »Linksseins« kritisch-aufhebend hindurchfressen muß. Daher auch der wütende Aufschrei sämtlicher linker Politizisten gegen den neuen Anlauf einer fundamentalen Wertkritik, die den Marxismus zu transformieren sucht. Gefordert ist jetzt nicht mehr die Verbindung von Bewegungen und »Politik«, die sich darstellte als »Hineinwirken« der linken Politikaster in den Bewegungsprozeß, sondern statt dessen die Verbindung von Bewegungen und aufhebender Theoriebildung, wobei letztere als immanentes Bewegungsferment und nicht als »politische« (verwaltende, eindeichende, organisatorisch-reglementierende) Außenfunktion zu wirken hätte. Die »Macht« der Theorie ist allein ihr Inhalt, der den gesellschaftlichen Bewegungsprozeß selbst als Ganzes zu formulieren sucht.

Die Konstellation von »Arbeiterbewegung« und »kommunistischer (bzw. sozialistischer) Partei« war noch eine selber warenförmig konstituierte und systemimmanente, die den Dualismus der bürgerlichen Funktionssphären reproduzierte. Erst auf der Stufe der historischen Systemkrise und einer möglich gewordenen Aufhebungsbewegung kann das Verhältnis von »theoretischem Bewußtsein« und »Bewegung« als ein ungeschiedenes und nicht mehr äußerliches entwickelt werden, wie es Marx zwar dem Anspruch nach formuliert hatte, aber eben noch zeitbedingt für die alte, warenförmig immanente Konstellation, in der dies gar nicht gehen konnte. In dieser war es eben kein Verhältnis von »Bewegung« und deren eigenem »theoretischen Bewußtsein«, sondern das Verhältnis von »Partei« bzw. »Politik« der »Bewegung« gegenüber, und das »theoretische Bewußtsein« sank zur bloßen Legitimationsmagd herab, um als Aschenputtel der »Funktionäre« ein eher erbärmliches Dasein zu fristen.

Es wäre aber ein Irrtum, diese neue (noch uneingelöste) Anforderung als abstrakte Negation der »Politik« im alten anarchistischen Sinne begreifen zu wollen. Die Aufhebung der Politik, im Unterschied zu ihrer äußerlichen, »prinzipienhaften« Negation, muß durch die politische Sphäre selber hindurch. Es handelt sich um eine Anforderung an die Gesamtgesellschaft, die sich in den bisherigen Formzusammenhängen nicht mehr reproduzieren kann. Als Krisenproblem scheint dies in allen gesellschaftlichen Sphären und Institutionen auf. Das Resultat wird selbstverständlich nicht eine konfliktfreie Aufhebung sein, sondern eine neue Qualität der Konfliktformulierung, die quer zur bisherigen verläuft. Es geht also nicht darum, die alten Konfliktparteien für den nächsten Waffengang im alten Bezugssystem zu rüsten, sondern im Prozeß der Aufhebung dieses Bezugssystems den immanenten Gegensatz neu und anders zu formulieren, um ihn über die Grenzen der Warenform hinauszutreiben.

Wenn diese Konstellation erst konkret wird und einsehbare Konturen zeigt, wird ein gesamtgesellschaftlicher Prozeß der Umgruppierung von Ideen und Aktivitäten stattfinden. Es kann heute überhaupt nicht präjudiziert werden, wer sich dabei wie entscheiden wird. Mit Sicherheit kann es sich nicht um eine Verlängerung der alten, immanenten Konstellation des »Klassenkampfs« handeln. Deswegen ist die bisherige Linke auch keineswegs privilegiert als Träger einer zu entwickelnden Aufhebungsbewegung und des dazugehörigen theoretischen Diskurses. Aber sie könnte mit ihrem (heute nicht zufällig größtenteils latent gewordenen) emanzipatorischen Potential vielleicht eine Rolle dabei spielen. Vorläufig fehlt ihr freilich jedes Verständnis für die Problemstellung als solche, sie versteht nur »Bahnhof« (oder tut zumindest so) und sperrt sich insbesondere in ihren politizistischen Resten gegen die Transformation ihrer falsch gewordenen Identität.

Mit dem Fortschreiten der Systemkrise wird die Transformation der gesellschaftlichen Konfliktformulierung durch alle Großinstitutionen des warenproduzierenden Systems hindurchgehen, durch Gewerkschaften, Management, Kirchen etc., und somit nicht zuletzt auch durch die »Politik« und durch das Parteiensystem. Die Menschen in allen diesen offiziellen Institutionen befinden sich nicht außerhalb des Krisen- und Bewegungsprozesses, und sie sind angesichts des jetzt unausweichlichen Aufhebungsproblems nicht mehr qua Systemfunktion eisern festgelegt, gleichsam als Funktions- und Interessen-Roboter. Das Verhalten gegenüber dem Meta-Interesse der Systemtransformation durch die Krise hindurch ist grundsätzlich offen. »Alles ist möglich«; freilich auch die Barbarei und die zynische Unterstützung des demokratischen Notstandsterrors. Es kommt darauf an, die Aufhebungsbewegung und den entsprechenden theoretischen und praktischen Diskurs auch durch die »Politik« hindurch zu formulieren und zu entfalten. Das Durchbrechen der alten Strukturen und Konstellationen ergibt sich nicht aus formalen Sicherungen (die immer unwirksam bleiben), sondern aus den sozialen, ökologischen und kommunikativen Inhalten einer notwendig gewordenen direkten Vergesellschaftung selbst, die vom persönlichen Alltag bis zu den großen gesellschaftlichen Institutionen ihre transformierende Kraft entfalten kann.

Dabei kann es nicht ausgeschlossen werden, daß auch innerhalb der politischen Sphäre und als positives Moment ihrer Aufhebung von innen heraus Aktivitäten und Maßnahmen gemeinsam mit nicht-politischen Kräften unterstützt und organisiert werden, die sich nicht mehr mit dem impliziten Verwaltungs- und Kanalisierungs-Anspruch der »Politik« als »Politik« vereinbaren lassen. Eine Stadtteilgruppe der SPD oder ein grüner Arbeitskreis können ebenso wie eine Bürgerinitiative oder eine autonome Gruppe an Aktivitäten teilnehmen, die sich letztlich gegen die »Politik« als solche richten; der entscheidende Punkt dabei ist, sich an den »Sachfragen« inhaltlich sozialökologisch und emanzipatorisch zu orientieren statt an der »Raison d'être« der Partei und ihres Machtapparats, auch wenn dadurch der gesellschaftliche Konflikt neuen Typs als innerparteilicher Konflikt reproduziert wird. Das wäre die tendenzielle Auflösung der Politik bzw. ihrer menschlichen Basis in die (aufhebende) »Bewegung«, während wir es bisher immer mit dem umgekehrten Prozeß zu tun hatten. Insofern wäre es auch die Umkehrung der Strategie von Rudi Dutschke: nicht ein »Marsch der Bewegung durch die Institutionen«, sondern im Gegenteil die Auflösung der (warenförmigen) Institutionen bzw. ihrer Prägekraft und Bindungsgewalt in die Bewegungen. Der neue Konflikt würde dann zunächst quer durch alle bisherigen sozialen und institutionellen Trägergestalten hindurchgehen.

Varianten des Politizismus: Ossis und Besserwessis in der Krise der Politik

Inzwischen hat sich der politische Prozeß in der alten, verbrauchten Qualität trotz seines Leerlaufs (und gerade in seinem Leerlauf) kompliziert durch die deutsche Vereinigung. Das »Bündnis 90« als ostdeutscher Zuwachs der grünen Partei hat deren affirmativen Charakter nur noch verstärkt. Hervorgegangen aus der oppositionellen Bürgerbewegung der DDR, hat es den Durchmarsch von der Bewegung zur verstaatlichten politischen Klasse und zur Teilnahme an der kapitalistischen Menschenverwaltung im Eiltempo absolviert. Das ging insofern leichter und schneller als im Westen, als die große Mehrheit der Bürgerbewegung in der DDR keine vergleichbaren Probleme hatte, sich von Positionen des alten Linksradikalismus zu lösen, die sie nie besessen hatte; stand sie doch in Opposition zu einer bloß noch formell altorthodoxen und vergreisten »Linken an der Macht«.

Getragen vom Haß gegen die alte kasernensozialistische Schurigelung, der nach dem Zusammenbruch der DDR selber etwas Kleinliches und erbärmlich Gehässiges bekam, hatte das »Bündnis 90« offenbar nichts besseres zu tun, als sich der kapitalistischen Staatlichkeit ebenso bedingungslos an den Hals zu werfen wie der totalen Marktwirtschaft. Es hat fast etwas Belustigendes an sich, zu sehen, wie die ostdeutschen Protagonisten des »Bündnis 90« mit ihrer fanatischen Bekennerwut für das westliche Marktsystem sogar die westlichen Realos noch in Verlegenheit bringen. Diese peinliche Unterwürfigkeit hat nicht bloß etwas mit den negativen DDR-Erfahrungen zu tun, die nur teilweise als Entschuldigung gelten können. Viel eher handelt es sich um eine positiv dem kasernensozialistischen DDR-Milieu selber entstammende Art des Kotaus vor der Macht und des dazugehörigen Karrierismus, der sein Fortkommen durch Übererfüllen des ideologischen Solls zu sichern hofft; jetzt eben im westlich-kapitalistischen Systemzusammenhang.

Viele Ex-Bürgerbewegte Ostdeutschlands sind so der Stasi ähnlicher, als sie wahrhaben wollen; nicht zuletzt auch in der Rache des kleinen Mannes und in der Lust an der blinden Denunziation des untergegangenen Systems, die in ihrer Überzogenheit von aufhebender Kritik Lichtjahre entfernt ist. Die Gleichsetzung des DDR-Regimes mit dem Nationalsozialismus, in der viele Ex-Bürgerbewegte mit den übelsten CSU-Ideologen wetteifern, kommt einer Verhöhnung der Opfer des Weltkriegs und vor allem des Holocaust gleich. Damit wird nicht nur die Vorgeschichte der kapitalistischen BRD entsorgt, sondern auch ihre Gegenwart; denn würden die Archive des demokratischen Weltmarkt-Rechtsstaats BRD ebenso geöffnet wie diejenigen in Ostdeutschland, dann würde die DDR schnell auf die Stufe einer ganz gewöhnlichen mittleren Staatsschweinerei herabsinken, deren unappetitliche Machenschaften der große demokratische Weltmarktgewinner BRD in der systemkriminellen globalen Reichweite seiner destruktiven »Interessen« (z.B. in der liebevollen Unterstützung von Folterregimes) allemal locker in den Schatten stellt.

Hinzu kommt noch, daß die oppositionelle Bürgerbewegung der DDR auch im internationalen Vergleich von seltener intellektueller Seichtigkeit war. Die theoretische, polit-ökonomische Kritik des Staatssozialismus ist in der DDR schon in den 70er Jahren zum Stillstand gekommen; ihr letzter Protagonist war wohl Rudolf Bahro, der inzwischen mit seiner ins schlecht Utopische und Spiritualistische umgeschlagenen Gesellschaftskritik peinlich abgestürzt zu sein scheint. Die ostdeutschen Bürgerbewegungen der 80er Jahre haben nicht einmal mehr den Versuch einer eigenständigen Theoriebildung und einer kritischen Aufarbeitung des Staatssozialismus gemacht, sondern sich mit primitiven demokratischen Phrasen begnügt. Eine an theoretischer Aufarbeitung interessierte Minderheit (die nicht zufällig auch heute wieder eher systemoppositionell ist) fand offenbar keinerlei dafür geeignetes Milieu vor. Das »Bündnis 90« scheint dabei noch einmal eine Negativauslese dieses beklagenswerten Zustands zu bilden; es hat die westlichen Grünen um eine zusätzliche Portion Marktwirtschaftsidiotie und Politkarrierismus sowie um einige offensichtlich kapitale Kotzbrocken bereichert. In politischen Kategorien ausgedrückt müßte man sagen, daß die Vereinigung mit dem »Bündnis 90« die grüne Partei noch ein ganzes Stück weiter nach »rechts« gedrückt hat; in der Sprache einer Kritik des Politizismus überhaupt aber heißt dies, daß damit die strukturelle Distanz der politischen Organisation als solcher zu emanzipatorischer Kritik und aufhebender Bewegung bei den Grünen in demselben Maßstab verstärkt wurde.

Quer zu dieser Entwicklung liegend, aber eng damit verwandt, ist das »Phänomen PDS« aufgetaucht. Hervorgegangen aus der ehemaligen Staatspartei SED, ist die PDS ihrer Ideologie und Struktur nach so etwas wie die einfache, unmittelbare und falsche Negation der SED bzw. des Staatssozialismus. Man kann es an der theoretischen und publizistischen Produktion ihrer Ideologen, Kader und intellektuellen Sympathisanten seit der »Wende« ablesen: die alte staatssozialistische Identität wurde nicht kritisch »aufgehoben«, sondern im wesentlichen nur stark verdünnt und ein wenig »verwestlicht«. Das geht deswegen, weil es überhaupt eine Basisidentität der beiden bloß historisch auseinanderfallenden Systeme gab, nämlich die Identität als moderne warenproduzierende Systeme. Auf der staatlich-politischen Ebene und innerparteilich führte eine oberflächliche Kritik der bürokratischen alten DDR-Diktatur in der PDS zu den üblichen demokratischen Bekenntnissen und zu einer gewissen Lockerung im Rahmen des traditionellen linken Politizismus; ökonomisch war der Kotau vor der westlichen Version des Marktsystems und vor seinem destruktiven Rentabilitätskriterium lediglich nicht ganz so tief wie derjenige des »Bündnis 90«. Ideologisch und programmatisch repräsentiert die PDS eine eklektische Mischung marktwirtschaftsfrommer und staatsökonomischer (linkskeynesianischer) Elemente, legitimiert durch eine (substantiell haltlose) systemimmanente Sozialpolitik. Strukturell und institutionell aber repräsentiert die PDS erst recht das staatspolitische, verwaltende Moment des warenproduzierenden Systems gegenüber möglichen Sozialbewegungen, sogar verstärkt durch die bürokratische Herkunft und »Altlast«.

Sicherlich wäre die PDS als überaus traditionelle und biedere Partei des überlebten alten »Linksseins«, die sich lediglich vom versteinerten Staatsleninismus zu einer linkssozialistisch bzw. linkskeynesianisch verwässerten Ideologie gewandelt hat, als bloßes Fossil unter den gegebenen Entwicklungsbedingungen des warenproduzierenden Weltsystems ein völlig chancenloses Auslaufmodell. Dazu neigte auch die Erwartungshaltung der Beobachter jeglicher Couleur im Westen. Aber ihnen allen zum Trotz hat die PDS einen parlamentarischen Höhenflug gestartet, der keineswegs unvorhersehbar war. Nicht deswegen natürlich, weil die PDS eine neue, aufhebende Perspektive entwickelt hätte, sondern weil sie die einzige gegebene Kraft ist, die der tiefen Enttäuschung und der Wut über die zugefügten Demütigungen in Ostdeutschland Ausdruck geben kann. Und das ist keine Eintagsfliege. Die PDS ist auf längere Sicht innerhalb der politischen Funktionssphäre der BRD die Partei der abgewickelten ostdeutschen Intelligenz, der riesigen Masse ostdeutscher Einheitsverlierer und des (keineswegs unberechtigten) allgemeinen ostdeutschen Ressentiments gegen die völlig unbegründete arrogante Siegermentalität der westdeutschen politischen Klasse und des eingeflogenen Managements. Das »Bündnis 90«, dessen Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit sich in fanatisch prowestlichen, fanatisch marktwirtschaftlichen Parolen erschöpft, erscheint demgegenüber als bloßes Organ der bedingungslosen Kapitulation vor dem Westen; und alle anderen Parteien in Ostdeutschland sind sowieso zum bloßen Faktotum und minderbemittelten Anhängsel ihrer westlichen Mutterorganisationen geworden.

Die PDS schöpft ihre für viele überraschende Kraft also aus der Existenz als typische regionale Protest- und Interessenpartei unter besonderen Bedingungen; trotz ihrer gegenteiligen offiziellen Position enthält sie einen separatistischen Keim. Sie ist mit ihren Erfolgen zunächst ein Indiz für die Tiefe der (von Rechten wie Linken verleugneten) Vereinigungskrise. Im Westen bleibt ihre Wirkung objektiv minimal, weil sie hier von ihrem Charakter, ihren Zielen und Parolen her keinen Hund hinterm Ofen hervor locken kann. Wenn sich die PDS als gesamtdeutsches »linkes Gewissen« im staatlich-parlamentarischen Raum sehen möchte, dann lügt sie sich über ihren gegenwärtigen objektiven Charakter in die Tasche. Dieser Sachverhalt könnte ihr noch die größten Probleme und Bauchschmerzen bereiten.

Für das links-grüne Establishment und für die kläglichen Reste des politizistischen Linksradikalismus im Westen ist das Auftauchen der PDS eher unangenehm und ärgerlich, weil sie ihre Kreise gestört fühlen. Nur eine schon seit langer Zeit zwischen Grünen, SPD bzw. sogar der West-DKP politisch herumgeisternde Minderheit aus dem gemeinsamen alten Heimatstall (68er, K-Gruppen, Linkssozialisten etc. der 70er Jahre) hat sich in ihrer Heimatlosigkeit bei der PDS niedergelassen und bildet deren kleinen westdeutschen Kaderstamm. Die im Mainstream der Realos schwimmenden Grünen scheinen eher geneigt, das unbequeme Konkurrenzunternehmen PDS rein denunziatorisch (begriffslos also) abzuwehren und in den entsprechenden Chor der herrschenden Parteien einzustimmen, gebremst höchstens durch die Koalitions-Arithmetik ihrer staatspolitischen Machtgeilheit (also unfreiwillig und zähneknirschend die PDS als »Stimmenmacht« anerkennend).

Der durch die grüne Partei hindurchgegangene politizistische Linksradikalismus des Westens in Gestalt der Trampert/Ebermann u.Co., abgewrackt und auf der blinden Suche nach Existenzberechtigung, wie er ist, versucht dagegen ebenso begriffslos und denunziatorisch, sich an den nationalpopulistischen Tönen und Elementen in der PDS hochzuziehen, um eine Pseudofront zu eröffnen, die beiderseits gar keinen Boden unter den Füßen hat. Daß es auch in Ostdeutschland eine starke nationalpopulistische Strömung quer durch alle Parteien gibt, ist kein Wunder. Der Rechts- und Nationalpopulismus ist als Reaktion auf den globalen Krisenprozeß des warenproduzierenden Systems eine allgemeine regressive Erscheinung. In Ostdeutschland nährt er sich sowohl aus der autarkistischen Beschränkung der früheren DDR und aus ihrer absurden staatsleninistischen, preußischen »Erbe«-, »National«- und Stechschritt-Ideologie, als auch aus der spontanen Krisenreaktion, die sich weder prowestlich noch »links« bzw. »sozialistisch« legitimieren kann und daher auf den Nationalismus verfällt (eine im gesamten Osten zu beobachtende Erscheinung). Dahinter steht das unaufgearbeitete Problem der »nachholenden Modernisierung« des Ostens (in deren Kontext die DDR ein historischer Irrläufer war) als Kernproblem des warenförmigen Staatssozialismus.

Weit davon entfernt, dieses Problem aufzuarbeiten, liefern sich PDS und auf oberflächlichen »Antinationalismus« reduzierte westdeutsche Linksradikale eine bodenlose Gespensterschlacht. Weder ist der Nationalpopulismus heute ernsthaft mit der Kapital- und Weltmarktbewegung vermittelbar, noch kann ausgerechnet die PDS zu seinem ernsthaften Träger in der BRD werden. Ob sie es will oder nicht, sie kann als das, was sie ist, überhaupt nur auf der Welle eines ostdeutschen tendenziellen Verlierer-Separatismus schwimmen. Die nationalpopulistischen Motive stehen entweder im Widerspruch dazu, oder sie beziehen sich »eigentlich« auf eine hilflose DDR-Nostalgie. Untergründig nationalistische und sogar rassistische Motive auch bei einem Teil der PDS-Anhänger und Wähler sind ebenfalls diesem Widerspruch unterworfen. Überhaupt ist es kein Wunder, daß in der Ex-DDR aufgrund ihrer Geschichte auch bei Linken ein »naiver« Nationalstandpunkt, wie er bis zur Mitte des Jahrhunderts allen Kombattanten im Kontext des warenproduzierenden Systems vorausgesetzt war, nach wie vor wirksam ist. Nicht nur in dieser Hinsicht stand im Osten die Zeit still; es handelt sich um einen Bestandteil der unaufgearbeiteten »linken Geschichte« der letzten 100 Jahre.

In Wahrheit haben wir es mit einem schwierigen, keineswegs konfliktfreien, zunächst geradezu von Sprachverwirrung gekennzeichneten Verhältnis zwischen ost- und westdeutschen Gesellschaftskritikern zu tun, das im noch zu erarbeitenden Neuanfang für eine das bisherige »Linkssein« transzendierende Aufhebungsbewegung erst allmählich gelöst werden kann. Und zwar nur durch eine präzise Theoriebildung und durch eine offene Debatte, die nicht aus undurchsichtigen (oder nur allzu durchsichtigen) Motiven heraus wechselseitig denunziatorisch geführt werden darf. Dabei wäre vom Westen aus anzuerkennen, daß der ostdeutsche »Zeitstillstand« nicht einfach Rückständigkeit bedeuten muß, was die »Ossis« auch in der Gesellschaftskritik zu den »kleinen Geschwistern« stempeln würde, die erst noch kapitalistische Vergesellschaftung nachzuholen hätten: das wäre ein mechanischer, sozusagen »menschewistischer« Standpunkt. Vielmehr steht die Frage, wie gerade aus der Ungleichzeitigkeit innerhalb eines schon fortgeschrittenen Entwicklungsstands ein kritisches Potential gegen die totalisierte Ware-Geld-Beziehung entwickelt werden kann, das sich auch aus der spezifisch östlichen Erfahrung des Epochenbruchs speist. Eine Aufhebung der bisherigen verkürzten, systemimmanenten Gesellschaftskritik hat nicht notwendigerweise die bis zur Absurdität getriebene westliche Individualisierung der totalen »Geldverdiener« in der infantilisierten »Erlebnisgesellschaft« (G. Schulze) zur Voraussetzung.

Mit der PDS wäre gerade darüber zu streiten, inwieweit sie diese möglichen, spezifisch ostdeutschen Potentiale durch eine seichte, halbherzige Marktwirtschafts-Anpassung blockiert, statt sie freizusetzen; und das ist sicher auch eine Frage des Umgangs mit nicht-kapitalistischer Opposition in der DDR-Geschichte, die durch Bekenntnisse und Anpassungsgesten ausgerechnet der Marktwirtschaftsdemokratie gegenüber natürlich nicht im mindesten aufgearbeitet wird. Andererseits ist vom Westen aus unbedingt eine Kritik der protestantischen »Arbeits«- und Nationalideologie einzubringen, wie sie über dem gesellschaftlichen Bewußtsein in Ostdeutschland nach wie vor liegt. Das ist die negative Seite des »Zeitstillstands«, die nicht zugedeckt werden darf; und dieses Problem ist von der Gesellschaftskritik im Westen aus leichter zu formulieren, weil hier die Zersetzungsprozesse von »Arbeits«-Ideologie und Nation weiter fortgeschritten sind (aber eben in Richtung postmoderne Simulation und kontrafaktische Krisenverdrängung).

Es kommt freilich darauf an, wie Nationalismus und Patriotismus bzw. Nationalpopulismus kritisiert werden, ob historisch reflektiert oder begriffslos. Die Trampert/Ebermann malen bar jeder Geschichts- und Gesellschaftsanalyse das »Vierte Reich« an die Wand, und in diesem höchst irrealen Kontext denunzieren sie die nationalideologischen Momente in der PDS. Der Nationalismus erscheint als fast übermächtig, als Ausdruck einer laufenden kapitalistischen Expansion bzw. des (zusammenphantasierten) nächsten Akkumulationsschubs und als traditionell imperialistisch bzw. »annexionistisch«. Die Internationalisierung und Globalisierung des Kapitals als neue Qualität wird entweder nicht zur Kenntnis genommen und sogar geleugnet, oder sie wird nicht als Widerspruch zum Nationalpopulismus wahrgenommen. Man muß sich nur anhören, wie die Trampert/Ebermann u. Co. die kontrafaktische »Selbstverständlichkeit« eines einheitlichen, übergreifenden und strategischen Neo-Nationalismus der »herrschenden Klasse« beschwören, um zu begreifen, daß sie sich nicht mehr analytisch und theoretisch reflektiert zur Wirklichkeit verhalten, sondern diese nur noch gesinnungsideologisch gerastert wahrnehmen.

Daß das Konzern- und Weltmarkt-Management der BRD heute auf »nationale Lösungen« setze oder daß eine annexionistische und nationalistische Strategie zwischen politischer und wirtschaftlicher Führung der BRD vereinheitlicht und dominierend sei, ist eine bis zur Lächerlichkeit absurde Darstellung, die nicht dadurch realistischer wird, daß sie im aggressiven Suggestiv- und Verkäuferstil vorgetragen wird. Konzern-Strategien, Notstands- und Armutsverwaltung, Reaktionsformen in der politischen Klasse, marktwirtschaftliches Verliererbewußtsein und Massenbewußtsein nicht auf den gemeinsamen objektivierten Krisenhintergrund zu beziehen und in ihrer Widersprüchlichkeit bzw. Unvereinbarkeit zu analysieren, sondern als subjektive Gesamtidentität und gemeinsame Gesamtoption eines »neuen deutschen Nationalismus« auszumalen, zeugt geradezu von analytischer Verblödung.

Eine solche Darstellung mit der theoretischen Kraft einer Kinderfibel ist nicht nur in höchstem Grade kontrafaktisch, sondern auch Ausdruck einer rein defensiven Haltung, die sich als eine Art heroisches Gemälde stilisiert: die einsamen Helden, unbeugsam, aber angesichts eines ebenso bösartigen wie übermächtigen Gegners dem Untergang geweiht. In Wirklichkeit käme es darauf an, die Nationalideologie gerade umgekehrt offensiv zu kritisieren, und zwar durch den Nachweis, daß sie auf dem Boden des warenproduzierenden Systems in seiner heutigen Entwicklungsstufe völlig haltlos geworden ist und weder von den Institutionen der Systemrepräsentanz noch von einer »politischen« Opposition mehr hegemonial mobilisiert werden kann. Die negative Globalisierung und Internationalisierung der Märkte ist darüber hinweggegangen, was bereits ein Moment der Systemkrise und des historischen Ausbrennens der Akkumulationslogik ist. Die Realität von Mölln und Solingen und die Realität des rechtspopulistischen Stammtisch-Räsonnements ist nicht mehr kompatibel mit der Realität der krisenhaft globalisierten Verwertungsbewegung, das ist das entscheidende Argument. Der »Ethno-Nationalismus« der Bandenkrieger und das dumpfe regressive Ressentiment aus der »Mitte der Gesellschaft« dürfen mit der alten Nationalideologie in der Aufstiegsphase der Moderne keinesfalls verwechselt werden; sie sind vielmehr bereits Zersetzungsprodukte im negativen Auflösungsprozeß der warenförmigen Zivilisation jenseits des alten »Imperialismus«.

Nur als Einsicht in diesen Zusammenhang kann die überständige und auch »links« besetzte Nationalideologie im Osten aufgehoben werden. Die Parole »Nie wieder Deutschland« dagegen ist der Geschichte gegenüber ignorant; genausogut könnte es heißen: »Nie wieder rheinische Tiefebene« oder »Nie wieder Luthers Bibelübersetzung«. Die Nation samt der dazugehörigen Ideologie ist eben nicht mehr rückgängig zu machen, sondern aufzuheben als eine überlebte, perspektivisch nicht mehr reproduktionsfähige historische Erscheinungsform des modernen warenproduzierenden Systems. Der Nachweis ihrer objektiven Überlebtheit steht an, nicht ihre abstrakte und äußerliche Negation aus gesellschaftskritischer Verlegenheit mangels theoretischer Kompetenz.

Im Verhältnis von westlicher und östlicher Gesellschaftskritik wären also die aus der historischen Ungleichzeitigkeit stammenden aktuellen Widersprüche kritisch aufzulösen im Kontext einer Gesamtanalyse, statt denunziatorische Feldzüge bar jeder theoretischen und analytischen Erklärungskraft zu führen. Die Konstitution einer Aufhebungsbewegung kann nicht allein vom Westen bzw. von der westlichen Entwicklungsform ausgehen, sowenig sie den östlichen Ist-Zustand ungeschoren lassen kann. Wie sie durch die westlichen Politikformen hindurchgehen muß, so auch durch die östlichen. Diese Erweiterung des Diskurses ist sogar notwendig, weil gerade die Spannung der Ungleichzeitigkeit beiderseits eine Möglichkeit der Distanz zur jeweiligen falschen Unmittelbarkeit hervorbringt, die theoretischen und praktischen Innovationen durchaus förderlich ist. Vom Standpunkt einer Kritik des warenproduzierenden Systems und seiner politischen Sphäre aus ist die ideologische Gemengelage, wie sie die PDS und darüber hinaus das linke Spektrum in Ostdeutschland repräsentieren, genauso ein Ausgangspunkt für den aufhebenden Diskurs wie die anders gelagerten Verhältnisse im Westen. Mit den albernen Konkurrenzmanövern der westlichen Politizisten grüner wie altlinksradikaler Couleur gegen die PDS kann eine entsprechende Kritik des Nationalpopulismus (auch in der PDS) daher nichts zu tun haben.

Die linke »Gemeinsamkeit der (prowestlichen) Demokraten«

Die Gretchenfrage ist und bleibt die Krise und deren historisch neue Qualität. Nur von dieser Frage aus ist auch der Charakter des sogenannten Realismus zu bewerten. Der Begriff als solcher ist schon im Grunde ein affirmativer Taschenspielertrick. Wer sich die Bezeichnung »Realismus« bzw. »realistisch« unter den Nagel gerissen hat, gewinnt allein dadurch bereits Definitionsmacht und einen Vorsprung unabhängig von jeder Argumentation und von jedem Inhalt. Denn jede Gegenposition erscheint dann qua Definition apriori als »unrealistisch« und somit nicht satisfaktionsfähig. Ironischerweise arbeiten die Realos hier mit exakt derselben Methode, mit deren Hilfe die staatssozialistischen Ideologen den schönen Begriff des »Realsozialismus« kreiert hatten. Tatsächlich handelt es sich in beiden Fällen um ordinären Positivismus, um eine erbärmliche Anbetung der »Macht des Faktischen« bar jeder historischen und kritischen Reflexion. Dieser Begriff des Realismus ist substantiell legitimatorisch für Positionen, die sich jeder Kritik entziehen wollen, weil sie einer solchen in Wirklichkeit nicht standhalten könnten. Das Gegenteil von Realismus ist nicht »Irrealismus«, sondern Kritik. Radikale Gesellschaftskritik muß nicht »unrealistisch« sein, sondern historisch und analytisch reflektiert in dem Sinne, daß sie den historischen und daher vergänglichen Charakter der bestehenden Ordnung begreift und analytisch zu prüfen vermag, wie weit diese Vergänglichkeit herangereift ist. Der sogenannte Realismus dagegen nimmt die blanke Faktizität der bestehenden Ordnung als »Beweis« dafür, daß jede Praxis und Veränderung einzig und allein im Rahmen ihrer herrschenden Kategorien denkbar und möglich sein soll.

Jede »Realpolitik«, die sich selber so schimpft, ist per definitionem bereits identisch mit Begriffslosigkeit und bloßem Opportunismus. Der Nachweis dafür wäre von Anfang an leicht möglich gewesen, hätten sich nicht die Fundis des politizistischen Gegenpols unfreiwillig als Kronzeugen für den Realismus der Realos angeboten. Denn bei den Fundis war die radikale Gesellschaftskritik als bloßes Motiv immer mehr entkoppelt von der historischen Reflexion und von der kritischen »Realanalyse«. Sie verwandelte sich in eine blanke Gesinnung, eine sogenannte »Identität« mit zunehmend kontrafaktischer Begründung. Wer nichts mehr hat als ein Feindbild, der ist arm dran. So mußte die grundsätzliche Gesellschaftskritik, die von den Fundis geltend gemacht wird (und auf die überhaupt der heruntergekommene alte Linksradikalismus konkurrent und eifersüchtig das Monopol beansprucht), tatsächlich als »unrealistisch« erscheinen, d.h. als mit der wirklichen gesellschaftlichen Entwicklung nicht mehr kompatibel. Gesellschaftskritik als solche bekam auf diese Weise das Odium des »Altmodischen«, Zurückgebliebenen, bloß Unverbesserlichen und Starrsinnigen.

Ideologisch nährten sich also die Realos rein negativ von den platt »unrealistischen« Positionen der Fundis, d.h. vom Zustand einer unaufgehobenen, stehengebliebenen Gesellschaftskritik. Je mehr sich die altlinksradikale Antikritik an den Realos auf moralisierendes Geifern, auf Wutanfälle, Publikumsbeschimpfungen usw. beschränkte, desto leichter konnte die »Realpolitik« an die Stelle einer kritischen Transformation des »Linksseins« treten. Nicht umsonst will gerade ein Joschka Fischer durchaus am Begriff der »Linken« festhalten; die »Linke nach dem Sozialismus« (so sein jüngster Buchtitel) soll sich auf systemimmanente Regulationsfunktionen beschränken. Diese Auflösung der Kritik ähnelt grundsätzlich dem falschen Wunschtraum der PDS vom »linken Sozialgewissen« in einer nicht mehr zu überwindenden kapitalistischen Welt. Und die gleiche Selbstbeschränkung mangels Kritikfähigkeit hat längst auch die theoretische, akademische Linke ergriffen, die sich bestenfalls noch hinter Max Weber verschanzt und deren geistige Produktion eher lustlos dahinplätschert. Quer durch das linkspolitische und linksakademische Spektrum trägt man den Hut des affirmativen »Realismus«, und dieser Hut paßt. Ohne es zu wissen, hat Fischer mit seinem Realo-Begriff der »Linken« nur das historische Geheimnis des »Linksseins« überhaupt ausgeplaudert.

Die Fundis und sonstigen Altlinksradikalen in West und Ost sind in Wahrheit die Watschenmänner und -Frauen zur Legitimation des affirmativen Realismus gegen die mögliche Zumutung von neuer Gesellschaftskritik. Soweit die Realos überhaupt noch eine Auseinandersetzung mit den Fundis nötig zu haben glauben, spielt man sich gegenseitig die Bälle zu. Weniger im Bezugsrahmen der Grünen, weil diese Partei inzwischen so »durchrealisiert« ist, daß die hinausgeekelten Fundis praktisch gar nicht mehr zur Kenntnis genommen werden müssen. Dasselbe Spiel findet jetzt aber mit den PDS-Realos statt, die anscheinend noch Legitimation gegenüber dem alten Linksradikalismus nötig haben.

Aufschlußreich, wie dabei das Ballspiel vor sich geht. Da taucht ein uralter Bekannter aus der westdeutschen 68er-Linken wie Joachim Bischoff plötzlich als »Mitglied des Parteivorstands der PDS« auf (wirklich wunderbar, hatte der nicht vor kurzem noch irgendetwas mit irgendeiner Programmkommission der SPD zu tun? Schicksale gibt es ...) und macht den Altfundi Thomas Ebermann an: dessen Position laufe darauf hinaus, »unrealistisch« auf »die Aufhebung der Ware-Geld-Verhältnisse im Zuge der Etablierung irgendeiner Planwirtschaft« zu orientieren, und wie solle das denn »nicht-stalinistisch« gehen (Konkret 7/94). Witziger hatte Ähnliches schon Joschka Fischer geäußert, der bei einem grünen Bundeskongreß einmal meinte, das Frühstück im Hotel habe so miserabel geschmeckt, als wäre Ebermann bereits an der Macht. Ebermann kann sich dabei mit der Würde der (Schein-) Radikalität in die Brust werfen, obwohl man sich doch fragen muß, mit welchem theoretischen Hintergrund und aufgrund welcher historischen und aktuellen Analyse die an den Begriffen des Arbeiterbewegungsmarxismus klebende Linksradikalität Marke Ebermann eigentlich jemals diese unterstellte »Orientierung« geleistet haben soll. Bischoff umgekehrt mag sich in seiner Realo-Position bestätigt fühlen, weil er dieser ominösen »Orientierung« den Anspruch einer bürokratischen Staatsplanung (»Stalinismus«) als vermeintlich einzig denkbare Möglichkeit anhängen kann. Gerade weil das Programm des alten Linksradikalismus tatsächlich nicht weiter als bis zum »Arbeiterstaat« reichte und das staatsökonomische Denken unaufgehoben geblieben ist, kann diese Unterstellung gemacht werden. Daß Staat und Markt die beiden Seiten derselben Medaille darstellen, des modernen warenproduzierenden Systems nämlich, und daß folglich jegliche »Staatsplanung« gar nicht anders als mit unaufgehobenen Ware-Geld-Kategorien operieren kann (was ja auch den Stalinismus auszeichnete), bleibt beiderseits unreflektiert. Die Denkmöglichkeit einer Alternative »jenseits von Markt und Staat«, jenseits von Geldbeziehung und »Klassenkampf«, etwa als vernetztes System selbstorganisierter Reproduktionsformen mit modernen Produktions- und Kommunikationsmitteln, wird durch dieses Fundi-Realo-Wechselspielchen blockiert. Dahinter steht die uralte dualistische Scheinalternative der bürgerlichen Welt überhaupt, nämlich die beiden komplementären Entfremdungsformen Markt und Staat je nach historischem Entwicklungsstand gegeneinander auszuspielen und zu mobilisieren.

In diesen Diskussionen bekennen sich inzwischen nicht nur einige Linksradikale dazu, daß ihre Kapitalismuskritik hilflos geworden ist; etwa wenn der Konkret-Autor Jürgen Elsässer bei dem erwähnten Streitgespräch in einer aufschlußreichen Gegenüberstellung zugibt, daß er sich »nicht« auf »irgendeine Weltrevolution« (für ihn wohl die Metapher der Kapitalismuskritik) beziehe, »sondern« auf Auschwitz und den deutschen Nationalismus (Konkret 7/94). Dieses »Nicht - Sondern« zeigt ein altes Dilemma der deutschen Linken und gleichzeitig den aktuellen Bankrott des Linksradikalismus als Gesellschaftskritik an. Wer von Auschwitz bloß noch selbstlegitimatorisch (und inzwischen in fast beliebigen Zusammenhängen) reden will, der schweigt neuerdings vom Kapitalismus, von dem er keinen Begriff mehr hat; auch wenn er noch so viel von den geradezu absurd überzeichneten Phantomas-Aktivitäten der »herrschenden Klasse« schwadroniert.

Hier zeigt sich allerdings auch eine weitere Identität von Fundis/Linksradikalen und Realos, die als gemeinsame begriffslose »Prowestlichkeit« erscheint. Die vom Westen ausgehende Basisidentität der Moderne ist die Totalisierung des warenproduzierenden Systems. Die theoretische und ideologische Ablösung des deutschen Nationalsozialismus (und des deutschen Nationalismus überhaupt) von diesem Prozeß als daraus angeblich in jeder Hinsicht herausfallende Singularität eröffnet die Möglichkeit, im Namen von »westlicher Rationalität«, »westlicher Demokratie«, »westlichem Staats- und Nationalverständnis« usw. großspurig gegen das Geschichtsphantom »Deutschland« anzutreten, d.h. letzten Endes im Namen des westlichen Kapitalismus gegen die deutsche Barbarei. Damit wird eine spezifische historische Konstellation, die niemals wiederkehren kann, geradezu geschichtsphilosophisch verallgemeinert und legitimatorisch zurechtgebogen. Das heißt nicht, daß die deutsche Geschichte für die aktuelle Analyse außer Betracht bleiben könnte, ganz im Gegenteil. Die Rückwirkung der deutschen Geschichte auf die heutige Gesellschaftsentwicklung und auf die verschiedenen Bewußtseinsebenen liegt aber nicht einfach auf der Hand, sondern sie muß unter den neuen Bedingungen erst analysiert werden, statt im historischen Kurzschluß zu erscheinen.

Es fehlt nicht mehr viel, und die westdeutschen Altlinksradikalen rufen englische Konservative, französische Nationalisten und US-Neoliberale gegen die »deutsche Gefahr« zu Hilfe. Das ist eher »invertierter Nationalismus« als reflektierte Nationalismuskritik. Wenn der deutsche Nationalsozialismus nach einem halben Jahrhundert für eine platt politizistische, kapitalismus-unkritische »Prowestlichkeit« angeblicher Gesellschaftskritiker instrumentalisiert wird, dann hat er noch einen späten Sieg davongetragen. Wer heute, unter ganz anderen Bedingungen als vor 50 Jahren, das Nachwirken der deutschen Geschichte und die Besonderheiten des nationalen Bewußtseins nicht mit der Krisenanalyse und nicht mit einer neuen Kapitalismuskritik auf der Höhe der Zeit verbinden kann, sondern sich eine absurde und gespenstische Wiederholung der Konstellation im Zweiten Weltkrieg zusammenphantasiert, der sollte besser mehr oder weniger vornehm schweigen, statt eine derart blamable »Position« öffentlich aufzubauen.

Nur im politischen Simulationstheater erscheint die einschlägige Identität von Realos und Linksradikalen als verbissener Konflikt: Die einen simulieren eine mit Hilfe der 68er geglückte Wandlung Deutschlands zur »westlichen Normalität«, und gerade in diesem Zusammenhang simulieren sie einen »westlich geläuterten deutschen Patriotismus« und eine »westlich geläuterte Verantwortung Deutschlands« als Welt-Hilfssheriff der USA. Die anderen simulieren die bloße Wiederholung des »deutschen Sonderwegs« und der »deutschen Barbarei«, die gestoppt werden müßten. Aber der gemeinsame Nenner ist »Prowestlichkeit« und mangelnde Fähigkeit zur zeitgemäßen und »krisenrealistischen« Kapitalismuskritik. Auch die deutsche Geschichte kann weder ungeschehen gemacht noch ewig wiederholt, sondern sie muß aufgehoben werden. Und das heißt heute: gegen die dunkle, irrationalistische, wahnhafte, antisemitische Kritik des Westens und seiner »Vernunft«, Demokratie, Politik usw., wie sie den »deutschen Sonderweg« begleitet hat, nicht eine ewig beteuernde Affirmation des Westens, sondern vielmehr eine radikale, emanzipatorische, wirklich aufhebende Kritik des Westens und seiner Kategorien zu mobilisieren. Das allein wäre die Sühne und Aufhebung der deutschen Geschichte, und nicht die politizistisch und demokratistisch winselnde »Prowestlichkeit«.

Die Krise neuen Typs als historisches Ausbrennen der Akkumulationslogik ist es, die eine Nationalismuskritik nicht mehr abgelöst von oder bloß parallel zu einer Kapitalismuskritik, und letztere nicht mehr abgelöst von einer Kritik der Waren- und Geldform als solcher zuläßt. Der alte Linksradikalismus will sich bequemerweise hinter einer isolierten, verselbständigten Nationalismus- und »Deutschland«-Kritik verstecken, weil er in der entscheidenden Ökonomiekritik altersschwach und völlig inkompetent geworden ist. Über die »proletarische« Staatsplanungs-Ideologie in irgendwie modifizierten Warenkategorien kommt er in seiner veralteten und deswegen stumm werdenden, bloß noch impliziten Kapitalismuskritik substantiell nicht hinaus. Deswegen zieht er sich auf einen verkürzten Kritikgegenstand zurück, wo er sich einbildet, noch mitreden zu können; eine Einbildung insofern, als er diesen Gegenstand weder theoretisch noch realanalytisch vermitteln kann und ihn deswegen ideologisch zurechtkonstruieren muß, aufgehängt an willkürlich interpretierten Erscheinungen. Aus demselben Grund »darf« auch die Krise nicht sein, und deswegen ist die Nationalismuskritik nicht nur von der Kapitalismuskritik entkoppelt, sondern auch von der Krisenanalyse; der Nationalismus »muß« dem ideologischen System des linken Gesinnungsradikalismus zufolge unbedingt eine Konsequenz gelingender Akkumulation und »nationaler« Expansion »des Kapitals« sein, keinesfalls aber ein Krisenprodukt gerade bei den Verlierermassen.

Die doppelte Volte des Realismus

Die gemeinsame Krisenignoranz und das »Vergessen« der Ökonomiekritik bei Altlinksradikalen und Realos erscheint dann auch wieder als gemeinsame Subjektivierung der objektiven Reproduktionsschranke des Ware-Geld-Systems zur äußerlichen, politizistischen »Frage der Kräfteverhältnisse« (so die Uraltformel des bürgerlichen, systemimmanenten »Linksseins«): »Geld genug« sei da, es werde nur von den bösen Kapitalisten »profitgierig« fehlgeleitet, spekulativ verpulvert etc. und es müsse deshalb möglichst rücksichtslos und militant »gefordert« (Altlinksradikalismus mit syndikalistischem touch) oder durch neue Reformprojekte und parlamentarische Mehrheiten sozialökologisch umverteilt bzw. legislativ »gesteuert« (Realpolitik) werden. Auch in dieser Hinsicht leben die Realos ideologisch und legitimatorisch vom bloßen Irrealismus der Altlinksradikalen, im Vergleich mit denen sie auf den ersten Blick geradezu als Ausbund von Reflektiertheit und sozialökologischer Vernunft erscheinen; jedenfalls soweit der Blick auf den politizistischen, systemimmanenten Horizont beschränkt bleibt. Die Realos treffen den wundesten Punkt der Fundis u.Co., wenn sie mit treuherzigem Augenaufschlag sagen, daß sie »hier und heute etwas verändern« und nicht auf eine ebensowohl unwahrscheinliche als auch begrifflich und programmatisch versteinerte »Revolution« warten wollen, deren staatsökonomische und genuin bürokratische Inhalte doch soeben blamiert worden seien.

Was immer weiter geschehen mag, die Fundis und Altlinksradikalen werden keinerlei gesellschaftliche Vermittlungsfähigkeit mehr entfalten können. Sie haben gar nichts mehr vorzuweisen: keine Aufarbeitung des Staatssozialismus und keine Aufarbeitung der eigenen Geschichte, keinen Krisenbegriff und keine Krisenanalyse, keinerlei Vorstellung von der strukturellen Weiterentwicklung der kapitalistischen Produktionsweise, keinen Begriff und keine Analyse des Globalisierungsprozesses, keine vorzeigbare Zielvorstellung mehr, keine vermittelnden Begriffe, Thesen und Programme, keine Anknüpfung an Bewegungsmomente. Sie haben nichts mehr als ihren eigenen Zustand, an den sie sich klammern; und in diesem Zustand kann man sie vergessen und verlassen. Sie sind schon zusammengebrochen. Was jetzt noch fehlt, das ist der Zusammenbruch des Realismus, der sich mitten in der begrifflich und programmatisch ignorierten Weltkrise im reformerischen Höhenflug wähnt. Zumindest simuliert er diese »Reformpolitik« im Leerlauf der politischen Sphäre.

Aber das Ende des Simulationszeitalters, das auf den Formen und Luftbuchungen des »fiktiven Kapitals« beruht, steht bereits auf der Tagesordnung. Der Zusammenbruch des Realismus wird dabei jedoch andere Formen annehmen müssen als derjenige der Altlinksradikalen, der sich bloß im ideologischen Raum vollzieht (und deshalb auch von den Beteiligten in ihrer Selbstblindheit ignoriert werden kann, denn »die Gedanken sind frei«). Die Realos dagegen haben das keineswegs kleine Problem, daß sie sich mit Haut und Haar aus der luftigen und kontrafaktisch modellierbaren Geistessphäre der Ideologie in das handfeste Funktionsgeschäft der politischen Menschenverwaltung hineinbegeben haben. Auch in diesem Bereich fliegt das ideologische Schwadronieren nicht unbedingt auf, solange der pure Oppositionspart angesagt ist. Der Realismus der Realos aber war und ist ja auf bürgerliche, staatliche Machtbeteiligung ausgerichtet. Schon die Regierungsabenteuer des Turnschuhministers in Hessen und der diversen Koalitionäre in Niedersachsen, Berlin und Bremen hätten in ihrer Zweischneidigkeit Aufmerksamkeit erregen können.

Die kritische statt selbstbeweihräuchernde Aufarbeitung dieser Regierungserfahrungen steht noch aus, weil es gegenwärtig weder innerhalb noch außerhalb der Grünen eine Kraft zu geben scheint, die dazu willens und in der Lage wäre. Schon ein oberflächlicher Blick auf das segensreiche grüne Regierungswerk genügt aber, um festzustellen, daß die sozialökologische »Gestaltung« mikroskopisch klein, der institutionelle Leerlauf groß, die Unterwerfung unter die marktwirtschaftlichen »Sachzwänge« riesig und der unter grüner Regierungsmitverantwortung angerichtete sozialökologische Systemschaden verheerend war. Das ist kaum überraschend, wird aber von der grünen Parteibasis offenbar erfolgreich verdrängt bzw. von den institutionellen Kadern erfolgreich »verkauft«.

Dabei wiederholen sich die aus der Geschichte der Sozialdemokratie altbekannten Mechanismen: die Parteiloyalität wird zum Selbstzweck, die Demoskopie zur Verhaltenssteuerung und der »Stimmenfang« zur eigentlichen Aufgabe, der gegenüber sich das Problem des realen Eingriffs in den Gesellschaftsprozeß (in die wirkliche soziale und ökologische Reproduktion) geradezu verflüchtigt. Sollte sich jemand zufällig daran erinnern, was man/frau ursprünglich eigentlich wollte, dann genügt das immer passende Standardargument, daß die Partei eben noch zu wenig Prozente und Sitze hat, daß leider Rücksicht auf den/die Koalitionspartner genommen werden muß usw. Ironischerweise führt so gerade die Orientierung auf Realpolitik und Machtbeteiligung zur Paralyse der positiven Eingriffsmacht wie der Verhinderungskompetenz gegenüber sozialen und ökologischen Zerstörungsprozessen, die hinter diejenige von außerparlamentarischen Bewegungen zurückfällt. Das ist immer die logische Konsequenz einer parteipolitischen Parlamentarisierung, d.h. einer bedingungslosen Selbstauslieferung an die politische Funktionssphäre des warenproduzierenden Systems und deren »Gesetze«.

Damit ließe sich politizistisch leben (wenn auch auf eine heuchlerische oder zynische Weise); aber die Krise macht auch in dieser Hinsicht einen dicken Strich durch die Gemütlichkeit. Altlinksradikale wie Realos sind gleichermaßen auf die Nichtexistenz der Systemkrise angewiesen und selbstverpflichtet; aber auch unter diesem Aspekt in unterschiedlicher Weise: erstere zwecks Feinderhaltung im ideologischen Luftreich, wohin ihr Politizismus abgedrängt worden ist; letztere zwecks Minimalsubstanz einer Reformpolitik, in deren Namen sie sich legitimieren. Deswegen muß irgendein Rest von Spielraum dafür vorhanden sein, und sei er noch so winzig, weil sonst Legitimationsverlust droht. Die böse Ironie der Geschichte will es aber, daß die grünen Realos gerade unter den Bedingungen der Systemkrise parlamentarische Morgenluft wittern und ihnen »Regierungsverantwortung« winkt (oder droht?). Das ist keineswegs zufällig, denn schon in den früheren Krisenschüben der kapitalistischen Durchsetzungsgeschichte trat jeweils die »bürgerliche Mitte« (zuständig für den Normalbetrieb) ab, um einem Notstandsregime entweder von »links« oder von »rechts« Platz zu machen. In der Kulmination des Krisenprozesses erst entscheidet sich, wer sich mit welcher Legitimation die Hände schmutzig machen darf im Namen der Systemgesetzlichkeit. Das muß nicht unbedingt ein rechtsradikales Regime oder eine offene Militärdiktatur sein; auch die Sozialdemokratie hat einschlägige Erfahrungen, die sich jetzt auch ihrem grünen Juniorpartner mitteilen könnten.

Die Krise mag als solche noch so sehr verleugnet oder schöngeredet werden, ihr nur allzu realer und unaufhaltsam fortschreitender Prozeß grenzt die Spielräume auf dem Schachbrett der »Politik« in ein dahinschwindendes Terrain ein und setzt neue Sachzwänge zweiter Ordnung. Für die Realos tut sich damit ein doppeltes legitimatorisches und praktisches Dilemma auf. Erstens: die sozialökologische »Reformpolitik« haben sie nur versprochen, geschworen aber haben sie auf die Marktwirtschaft und deren Kriterien als einzig denkbaren Bezugsrahmen. Zweitens: die Krise erzwingt gerade aufgrund dieser Kriterien das genaue Gegenteil sozialökologischer »Reformpolitik«, nämlich die brutalsten sozialen und anti-ökologischen Restriktionen; und zwar völlig egal, wer die »Regierungsverantwortung« trägt. Nicht eine Partei, eine Koalition oder ein »politischer Wille« herrscht, sondern der blinde Systemprozeß der Warenproduktion (solange die gesellschaftliche Warenform nicht zusammen mit der »Politik« bewußt aufgehoben wird). Jetzt rächt sich die politizistische Paralyse der Gesellschaftskritik an den Realos. Ebensowenig wie die Altlinksradikalen bzw. Fundis sind sie in der Lage, auf die Anforderungen der Krise mit einer Systemalternative zu antworten. Dieses Problem haben sie ja endgültig aufgegeben. Also müssen sie jetzt mit den Wölfen heulen, und diese schauerlichen Töne sind schon deutlich vernehmbar.

Die seichte Idee, daß sich ein Schutz der Naturgrundlagen ebenso wie soziale Menschenfreundlichkeit mit betriebswirtschaftlicher Rationalität und »Gewinnstreben« vereinbaren ließen, ja geradezu nur auf diese Weise hergestellt werden könnten, eine grüne oder grün beeinflußte »Politik« vorausgesetzt, beginnt sich grausam zu blamieren. Während die realpolitischen »ehrlichen Häute« an der grünen Parteibasis noch immer mit dem bisherigen Selbstverständnis operieren, wie es weiterhin die propagandistischen und programmatischen Aussagen der grünen Partei bestimmt, hat ein erheblicher Teil der eigentlichen (parlamentarisierten) politischen Klasse bei den Grünen bereits umgeschaltet. Wie sich die FDP schon als »Partei der Besserverdienenden« verplappert hat, so setzen die opinion leaders der Realos allmählich ziemlich offen als postmoderne grüne FDP auf eine hart begrenzte Klientel bei den noch in Lohn und Brot stehenden »neuen Mittelschichten« des Sozialapparats im weitesten Sinne (Lehrer, Sozialarbeiter, Sozialverwaltung, Wissenschaftsapparat, Ärzte etc.), die ein Überspringen der 5-Prozent-Hürde garantiert und bis maximal 10 Prozent ausgedehnt werden kann. Für die Masse der Herausfallenden dagegen wird ungerührt die Armuts- und Notstandsknute ins Auge gefaßt.

Das grüne Notstandsprogramm erschöpft sich dann in einer ersten Annäherung an die Realität als Krisenprogramm darin, einen Rest von ökologischer Rücksicht des Marktsystems auf Kosten der Armen und Gedemütigten zu erkaufen, d.h. durch brutale soziale Restriktionen, die nur möglichst den wohlbestallten, eine grüne Leerlauf- und Alibipolitik gesellschaftlich tragenden Teil der eigenen Klientel verschonen oder nicht allzu hart treffen sollen. Der grüne Vorstandssprecher Ludger Volmer hat diese Richtung angedeutet, wenn er nach verschiedenen Presseberichten als grüne Bezugsmenge im Wahlkampf ganz offen jene »urbanen Mittelschichten« sieht, die sich eine saubere Umwelt etwas kosten lassen können. Und die anderen? Der Frankfurter Realo-Stadtkämmerer Tom Koenigs macht soziale und ökologische Maßnahmen erst recht von der »Kasse« abhängig: jetzt eben nicht mehr bloß als ideologische Akzeptanz, sondern als harte Menschen- und Ressourcenverwaltung im Namen des Geldes und seiner Verwertungslogik. »Real« wird also das Gegenteil des eigenen »Reformprogramms« gemacht, weil die Logik des Geldes als »Naturtatsache« vorausgesetzt wird. Für den Bremer Grünen-Senator Ralf Fücks (ehemals KBW) ist die Vernichtung sozialer und kultureller Projekte laut »Spiegel« ein »Kompromiß mit der Realität«. Und die Berliner Grünen-Abgeordnete Renate Künast gab, wie das »Handelsblatt« wohlwollend berichtete, den schönen Realo-Satz von sich: »Wir müssen lernen, offensiv zu sagen, daß wir wehtun wollen«: ausdrücklich bezogen auf die sozialökologischen Bewegungsprojekte, die bis jetzt noch aus »Staatsknete« finanziert oder teilsubventioniert werden.

Diese Aussagen prominenter Realos verdichten sich zu einer asozialen grünen Notstandslogik, die »niemand will«, die sich aber unter dem Druck der falschen Objektivität des Geldes durchsetzt; zuerst klammheimlich, dann in aller »unschuldigen« Offenheit. Himmelweit entfernt sind diese grünen Notstandstöne von aller früheren Bedürfnis- und Konsumkritik der Bewegungen, deren Impuls längst aufgegeben wurde. Die Toscana-Fraktion möchte bloß auf Kosten der Verlierermassen weitermachen wie bisher; nicht umsonst ist der grüne Wählerstamm nach soziologischen Untersuchungen überproportional bei sozialökologischen Zerstörungsprogrammen wie Ferntourismus, Abenteuer-Reisen, aufwendigen Sportarten usw. beteiligt. Statt die absurde eigene Lebensführung in Frage zu stellen, wird nach konservativem Muster zunehmend den Minderbemittelten mit den »zu hohen Löhnen«, den neuen Armen usw. »Verzicht« gepredigt.

Und plötzlich sind es nicht mehr die subjektiven, sozialen und politischen »Kräfteverhältnisse«, die von den Realos legitimatorisch bemüht werden, sondern die eisernen objektivierten »Systemgesetze«: das eigentlich ist jene »Realität«, der die Realos sich verschworen haben. Insofern sind sie den Weg des Sozialdemokratismus noch einmal gegangen, bloß nicht mit einer Massenklientel, sondern eben als Partei der »grünen Besserverdiener«. Wenn sie jetzt in der »Regierungsverantwortung« merken, daß das Geld wirklich beim besten Willen nicht so einfach »da« ist, wie naiverweise vermutet wurde, dann müssen die Menschen eben bluten, weil der marktwirtschaftliche »Systemgott« es so will. Da es schon den früheren Linken im Traum nicht eingefallen war, irgendetwas gegen die Logik des Geldes und außerhalb der »Finanzierbarkeit« zu entwickeln, fällt es natürlich den Realos als Endprodukt dieser Linken erst recht nicht ein. Die immer schneller zurückgehende »Finanzierbarkeit« wird nicht zum Anlaß, die Ressourcenverwaltung durch die Sachzwänge des Geldes in Frage zu stellen, sondern genau umgekehrt die Existenz sozialökologischer Projekte etc. zu liquidieren, die zunehmende Massenarmut hinzunehmen und genau wie die anderen Systemträger auf den nie mehr kommenden säkularen »Aufschwung« zu vertrösten.

Pikant dabei ist die Tatsache, daß die Realo-Chefs offensichtlich bereit und fähig sind, den minderbemittelten Teil der eigenen Klientel abzustoßen, nämlich genau jene bloß halbinstitutionalisierten, von der Hand in den Mund lebenden, immer noch auf Reste von Autonomie bedachten Projekte im kulturellen, sozialen und ökologischen Sektor, die sich von »Staatsknete« abhängig gemacht haben (in manchen Kommunen »Alternativtopf« genannt). Daß dies eine falsche Strategie war, die blind in der Geldform befangen blieb und ihre Forderungen darauf reduzierte, steht auf einem anderen Blatt. Die Realo-Häuptlinge erinnern an dieses Problem bloß bewußtlos, indem sie die grünen Regierungs-Mitverantwortungsidioten das harte Systemgesetz an den hilflosen Projekten vollstrecken lassen. Den Alternativen gegenüber treten sie natürlich nicht als solidarische Kritiker, sondern einzig und allein als Richter und Henker im Namen des Finanzierbarkeitsterrors auf. Offensichtlich glauben die Realo-Wahlstrategen, auf dieses bereits ziemlich abgerissene Fußvolk nicht mehr angewiesen zu sein und voll auf die »besserverdienenden« Sozial- und Öko-Heuchler setzen zu können.

Auf der Basis einer halbwegs betuchten grünen 5- oder 8-Prozent-Klientel mit kläglichen Resten ökologischer Reformversprechen gegen die sozialen Verlierermassen: das ist aber immer noch nicht das Endstadium des Realismus. Denn in einer zweiten Annäherung an die Krisenrealität werden die Realos gezwungen sein, in der »Regierungsverantwortung« noch einen Schritt weiter zu gehen. In demselben Maße, wie durch den Krisenprozeß sogar ihre soziale Mittelschichts-Klientel erbarmungslos aufgerieben wird (und darüber ist keine Träne zu vergießen), muß auch der letzte Rest ökologischer »Reformpolitik« verfliegen; dann wird auch die restliche Natur dem gierigen Systemprozeß des Geldes hemmungslos geopfert. In vielen Ländern des totalen Marktsystems ist ein solcher Zustand längst erreicht. Die Realpolitik muß in diesem Stadium chilenisch, südkoreanisch oder nigerianisch werden; sie hat dann nichts mehr hinter sich als den Systemterror gegen Mensch und Natur. Realpolitik als ultima ratio des marktwirtschaftlichen Notstands heißt im fortgeschrittenen Krisenprozeß nur noch, die unhaltbar gewordene Verpflichtung der Menschen auf die »Realität« des Marktsystems, auf seine »Gesetze« und »Spielregeln« durchzusetzen und jeden Aufstandsversuch (der dabei immer wahrscheinlicher wird, in welcher Form auch immer) im Keim zu ersticken.

Gegenwärtig mögen die Realos dieses Szenario noch als gesellschaftspolitisches Horrorvideo oder als schwarze Science-fiction abtun; aber das gewohnheitsmäßige Gerede von der sozialökologischen »Gestaltung« des totalitären Geld- und Marktsystems wird sich genau in diese systemisch zwangsläufige »Orientierung« auflösen. Im Unterschied zu den Fundis und Altlinksradikalen landen die Realos nicht beim hilflosen Antikapitalismus, sondern in der Notstandsverwaltung des demokratischen Terrors. Der Zusammenbruch des Realismus kann nicht als bloße Preisgabe von Hoffnungen erscheinen, sondern nur als perverse Persönlichkeitsveränderung. Die weinerliche Propaganda der grünen Realpolitiker, man müsse sie und ihresgleichen wählen, um »den Faschismus zu verhindern«, blamiert sich gleich doppelt: wie nicht ein neuer Faschismus als »totalitärer Staat« droht, sondern die Marktwirtschaftsdemokratie in die zusammenhanglose Barbarei zerfällt, so verhindert die Realpolitik die drohende Systementwicklung nicht, sondern exekutiert sie am Ende selber.

Eine Übergangserscheinung dabei könnte durchaus irgendein Herr Realo oder eine Frau Reala Turnschuh-Noske sein. »Noske« steht hier natürlich nicht für die Wiederholung einer historischen Konstellation, sondern für den Umschlag eines ursprünglich emanzipatorischen Motivs in den offenen Systemterror, der die alten »Spielregeln« gewaltsam aufrechterhalten will. Die Koenigs, Fücks, Künast und wie sie alle heißen sind nicht mehr weit von dieser Logik entfernt. Und auch die programmatisch und strategisch hilflosen Realos der PDS werden früher oder später in die Entscheidung gedrängt, sich entweder für die Systemkriterien oder für die Emanzipation vom Geld- und Marktsystem zu entscheiden; für sie besonders prekär, weil es ja kein Zurück zum alten Staatssozialismus geben kann. Schon sind von den anderen Parteien halb verlockende und halb drohende Töne zu hören, man müsse die PDS »in die Verantwortung nehmen«. Dafür nämlich, ihre Rolle als »soziales Gewissen« brav »realistisch« zu spielen, d.h. sich dem Finanzierbarkeitsterror der Systemlogik zu unterwerfen (gegen die auch seitens der PDS nicht einmal eine stammelnde Grundsatzkritik existiert).

Die doppelte Volte der Realpolitik ist längst vollzogen: die Verwandlung von Kritik in Affirmation unter dem Deckmantel des »Realismus« schlägt noch einmal um als Verwandlung einer systemimmanenten (den Systemkriterien gegenüber kritiklosen) »Reformpolitik« in die systemische Notstandsverwaltung unter schrittweiser Preisgabe aller »Reformen«. Dieser Bankrott des Realismus wird sich umso mehr beschleunigen, je weniger die zu simulierende »Oppositionsrolle« im politischen Funktionszusammenhang weitergespielt werden kann und je mehr der fortschreitende Krisenprozeß die Reformer in spe zum Offenbarungseid zwingt. Ob dieser dann unter der Ägide einer konservativ-liberalen Koalition als Bekenntnis zur Notgemeinschaft der Demokraten am Katzentisch stattfindet, ob als Flankierung einer großen Notstandskoalition, als rot-grüne Armutsverwaltung oder in einer Konstellation wie in Sachsen-Anhalt, das ist demgegenüber schon sekundär. Also gewinnt mal schön: »es geht los«.