Startseite Krise und Kritik der Warengesellschaft


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erschienen in: Folha Oktober 2003

Robert Kurz

Was ist Tertiarisierung?
Perspektiven des gesellschaftlichen Wandels

Für ein vom universellen Markt bestimmtes Bewußtsein schrumpft die Wahrnehmung auf konjunkturelle Phänomene in allen Lebensbereichen. Morgen kann schon das Gegenteil von heute "wahr" sein; aber der Inhalt ist sowieso egal, weil es bloß noch um die schnellstmögliche "Verkaufe" geht. Das gilt für Ideen und Theorien ebenso wie für Autos oder Krawatten. Auf diesem Niveau hat der Begriff des "gesellschaftlichen Wandels" eigentlich keinen Sinn mehr. Denn wenn dieser Begriff überhaupt etwas bedeuten soll, muß er sich auf eine analytisch bestimmbare Entwicklung in der Zeit beziehen, also auf eine Geschichte gesellschaftlicher Strukturen. Das postmoderne, völlig marktkonforme Bewußtsein kennt keine historische Entwicklung mehr, sondern nur noch die Beliebigkeit von inkohärenten Trends. An die Stelle von kritischer Gesellschaftstheorie tritt daher zunehmend "Trendforschung".

Wenn auf diese Weise kein Unterschied zwischen objektiven Strukturen und subjektiver Wahrnehmung mehr darstellbar ist, erlischt auch die Fähigkeit, die eigenen gesellschaftlichen Verhältnisse überhaupt noch intellektuell zu reflektieren. Nicht einmal eine apologetische Ideologie im strengen Sinne ist dann möglich, denn auch diese setzt einen Begriff objektiver Entwicklung voraus, wenn auch einen falschen, bloß legitimatorischen. Da aber eine von Selbstwidersprüchen zerrissene Gesellschaft wie die des totalitären Marktes gar nicht ohne legitimatorische Ideologie auskommen kann, muß das postmoderne Denken in ökonomischer und soziologischer Hinsicht auf ältere Theorien zurückgreifen, denen noch ein traditioneller Anspruch von Objektivität innewohnt. Daß das inkonsequent ist, tut keinen Schaden; denn Inkonsequenz gilt im postmodernen Denken sowieso als Tugend.

Obwohl die postmodernen Theorien jeden Strukturdeterminismus zurückweisen, bewegen sich daher die begrifflich verkürzten Trend-Analysen immer noch vor dem Hintergrund strukturdeterministischer soziologischer Theorien des "gesellschaftlichen Wandels". Explizit oder implizit setzen auch die postmodernen ideologischen Konjunkturen eine bestimmte Annahme objektiver gesellschaftlicher Entwicklung im Hinblick auf die drei basalen Sektoren gesellschaftlicher Reproduktion voraus (Landwirtschaft, Industrie, Dienstleistungen). Es ist das Phantombild der einst gefeierten "Tertiarisierung", das weiterhin die soziologischen Diskurse bestimmt; selbst wenn die methodischen Voraussetzungen der klassischen Gesellschaftswissenschaften negiert werden, die das Theorem dieser Tertiarisierung hervorgebracht haben. Die Methode wird kritisiert, aber das inhaltliche Resultat steckt man in die eigene Tasche.

Die Gesellschaft, so hieß es in dieser inzwischen klassischen Theorie, entwickle sich in einer historischen Transformation vom primären Agrarsektor über den sekundären Industriesektor zum tertiären Dienstleistungssektor. Entsprechend werde die "Beschäftigung" von Arbeitskraft allmählich umgeschichtet. Das sei zwar vor allem in den Anfängen mit schmerzhaften Strukturbrüchen verbunden, aber zuletzt komme dabei eine neue "Vollbeschäftigung" und säkulare Prosperität heraus. Die ökonomisch-soziologische Theorie der Tertiarisierung ist nun mittlerweile einige Jahrzehnte alt und es müßte ein Resume gezogen werden, das allerdings mit den intellektuellen Mitteln des postmodernen Denkens gar nicht möglich ist. Oberflächlich betrachtet, hat sich die These der Tertiarisierung empirisch bestätigt, allerdings auf völlig disparate Weise und ganz anders als in den ursprünglichen optimistischen Annahmen. Was sich empirisch nicht bestätigt hat, ist der mit dem Übergang zur Tertiarisierung erwartete säkulare Schub von Beschäftigung und Prosperität. Es hat im Gegenteil den Anschein, als sei die reale Tertiarisierung mit einem weltweiten ökonomischen Schrumpfungs- und Krisenprozeß verbunden.

Das Problem wird auch dadurch vernebelt, daß der tertiäre Sektor im Unterschied zum agrarischen und industriellen Sektor überhaupt nicht einheitlich definiert werden kann. Unter "Dienstleistungen" lassen sich extrem verschiedene, weit auseinander liegende Tätigkeiten zusammenfassen. Dabei fallen zwei große Gruppen ins Auge. Zum einen handelt es sich um besonders hoch qualifizierte Bereiche wie Medizin, Bildung, Pädagogik, Wissenschaft, Kultur etc. Zum andern haben wir es mit besonders unqualifizierten Bereichen von Domestiken und billigen Hilfskräften in Service-Unternehmen (Gastronomie, Reinigung, persönliche Dienste usw.) zu tun. Hamburger braten, Tüten im Supermarkt aufhalten, auf der Straße Schnürsenkel verkaufen oder an Ampeln die Scheiben haltender Autos wischen gilt ebenso als Tätigkeit des tertiären Sektors wie Manager schulen, Kinder erziehen oder Studienreisen organisieren. Das Dienstmädchen und der Parkplatzwächter fallen unter dieselbe Kategorie wie der Arzt und der Künstler.

Diese Diskrepanz schien für einige Zeit auch die soziale Differenz zwischen westlichen Ländern und Dritter Welt zu markieren. In den Ländern des globalen Südens wurde zwar die Landwirtschaft, soweit sie für den Weltmarkt produzierte, ebenso mechanisiert und verwissenschaftlicht wie im Westen. Aber im Gegensatz zu den Ländern des kapitalistischen Zentrums gelang hier schon der Übergang von primären agrarischen zum sekundären industriellen Sektor in den meisten Fällen nicht oder nur sehr unvollständig. Es war gerade das Scheitern der "nachholenden Industrialisierung", das eine nach Maßstäben der Theorie von der Entwicklung der drei basalen Sektoren paradoxe Situation hervorbrachte: Einerseits wurde ein Teil der Gesellschaft auf primitive agrarische Subsistenz-Produktion zurückgeworfen, die neben der auf den Weltmarkt ausgerichteten Agro-Industrie vegetiert; andererseits entstand in den monströs anschwellenden städtischen Agglomerationen eine massenhafte Elends-Tertiarisierung.

In den westlichen Zentren dagegen schienen sich zunächst die optimistischen Prognosen der Tertiarisierung zu bestätigen. Zwar begann auch im Westen schon in den 70er Jahren der gesellschaftliche Niedergang in die strukturelle Massenarbeitslosigkeit. Aber diese negative Entwicklung sollte aufgefangen werden durch eine soziale Problembearbeitung: Fast schon glaubte man, hinter jeden Arbeitslosen einen Sozialarbeiter stellen zu können. Die "Betreuungsindustrie" für die Herausgefallenen schien zu einem eigenen Wachstumsfaktor zu werden. Parallel zur Sozialpädagogik expandierte auch das System der medizinischen Betreuung. Gleichzeitig wurden Freizeitzentren, Begegnungsstätten, Reformuniversitäten und neue Systeme der fachlichen Qualifikation auf den Weg gebracht. Bildungsoffensive, Freizeitgesellschaft und Pädagogisierung des Lebens waren zentrale Stichworte des westlichen Zeitgeistes bis in die 80er Jahre hinein. In wesentlich kleinerem Maßstab gab es solche Tendenzen auch in der Dritten Welt, aber eben nur als Luxus-Tertiarisierung für eine Minderheit, der die Elends-Tertiarisierung der Mehrheit gegenüber stand. Im Westen dagegen schien es sich um einen Strukturwandel "für alle" zu handeln.

Aber diese Art der Tertiarisierung hatte einen entscheidenden Schönheitsfehler: Sie war kapitalistisch "unproduktiv", bildete also keinen kommerziellen Wachstumsschub, sondern mußte durch staatliche Abschöpfung alimentiert und größtenteils in der Form öffentlicher Dienste organisiert werden. Das paßte nicht zur ökonomischen Kontraktion des industriellen Wachstums. Die wunderbare Bildungs-, Erziehungs-, Freizeit- und Betreuungsgesellschaft konnte nur durch dramatisch wachsende Staatsverschuldung eine Zeit lang über Wasser gehalten werden, bis die Illusion platzte und der Abbau der vermeintlichen neuen Trägersektoren der Dienstleistungsgesellschaft einsetzte.

In den 90er Jahren brachte der globale Kapitalismus zwei Optionen hervor, um auf die Krise der Tertiarisierung zu reagieren. Das Stichwort "Privatisierung" suggerierte, die staatlich nicht mehr reproduzierbaren tertiären Sektoren unter Einschluß der gesamten Infrastruktur könnten auf private Profitunternehmen umgeschaltet werden. Gleichzeitig sollte die "New Economy" als kommerzielle High-Tech-Version der Dienstleistungen (Internet-Kapitalismus) profitables Wachstum und Beschäftigung bringen. Beide Optionen sind bekanntlich bereits gescheitert. Die "New Economy" hat sich als bloße Finanzblase erwiesen, während Beschäftigung und reales Wachstum dieses Sektors im Mikrobereich blieben. Die privatisierten ehemaligen öffentlichen Dienste scheiden als Träger von kapitalistischem Wachstum ebenfalls aus. Eine Börsen-Medizin oder Börsen-Bildung schrumpft rasch auf die zahlungsfähige private Klientel, während der Großteil der Strukturen in diesen Bereichen stillgelegt wird. In vielen Regionen der Dritten Welt bricht sogar die gesamte gesellschaftliche Infrastruktur zusammen. Abgeschwächt zeichnet sich eine ähnliche Tendenz auch in den westlichen Ländern ab.

Von den einstigen Versprechungen einer progressiven Tertiarisierung als Bildungs-, Kultur-, Betreuungs- und Freizeitgesellschaft ist nichts übrig geblieben. Sogar der Tourismus wurde von der Krise erfaßt. Stattdessen wird nun die Elends-Tertiarisierung der Dritten Welt zum Modell auch für die Zentren des Weltmarkts. Unverfroren setzen inzwischen die westlichen politischen und ökonomisch-soziologischen Diskurse als letzte Option auf eine Massenexistenz von billigen persönlichen Domestiken wie im Frühkapitalismus. Ist eine planetarische High-Tech-Gesellschaft von wenigen Finanzkapitalisten und transnationalen Managern einerseits und Milliarden von Dienstmädchen, Chauffeuren, Kammerdienern, Zofen, Hausknechten, Pagen usw. andererseits vorstellbar? Das ist eher schlechte Science Fiction. Zwar gibt es in der Dritten Welt eine aus dem Kolonialismus ererbte Tradition paternalistischer Dienstboten-Verhältnisse; vor allem dort, wo in Kolonialzeiten die Sklaverei herrschte. Aber unter Bedingungen des universellen Marktes sind persönliche Abhängigkeitsverhältnisse von Herr und Knecht, wie sie im Frühkapitalismus als Überhang der Feudalgesellschaft existierten, gar nicht mehr im großen Maßstab möglich. Als unpersönliche kommerzielle Unternehmen dagegen können die Domestiken-Dienste ebensowenig wie die privatisierte Bildung, Medizin usw. zum Träger von Wachstum werden. Dafür ist die zahlungsfähige Nachfrage nicht groß genug, denn in der Krise der 3. industriellen Revolution schmilzt auch der soziale Mittelstand ab. Die Milliarden von Menschen, die nun in allen Weltteilen in der Elends-Tertiarisierung stranden, sind eigentlich nur bessere Bettler, Herausgefallene, für die es keine kapitalistische Zukunft mehr gibt.

Das historische Desaster der Tertiarisierung verweist auf das tabuisierte Problem der gesellschaftlichen Form. Rein technisch und materiell gesehen würde es die von der 3. industriellen Revolution hervorgebrachte Produktivität tatsächlich erlauben, daß die Menschheit nur noch einen relativ kleinen Teil ihrer Zeit auf agrarische und industrielle Produktion verwendet, um sich hauptsächlich mit Bildung, Erziehung, Betreuung, Medizin, Kultur usw. zu beschäftigen. Der erste Teil dieses Programms erfüllt sich: Immer weniger Menschen werden im primären und im sekundären Sektor beschäftigt. Aber der zweite Teil scheitert: Die Umschichtung der menschlichen Ressourcen in den tertiären Sektor ist kapitalistisch nicht darstellbar. Dafür haben wir inzwischen den praktischen Beweis.

Die ökonomische Lehre von der Entwicklung der drei Sektoren hatte schon immer den Fehler, daß sie historisch begriffslos war. Denn diese Entwicklung findet eben nicht innerhalb "ewiger" kapitalistischer Strukturen statt. Die vormoderne Agrargesellschaft beruhte nicht auf der Verwertung von Geldkapital. Deshalb war die Verlagerung des Schwerpunkts gesellschaftlicher Reproduktion vom agrarischen zum industriellen Sektor ein Bruch mit der bis dahin gültigen Form persönlicher Abhängigkeitsverhältnisse, die durch die unpersönliche Form des Geldkapitals abgelöst wurde. Ebenso erfordert jetzt der Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft auch den Bruch mit der Form des modernen warenproduzierenden Systems und die Entstehung einer qualitativ neuen, anderen Ordnung.

Dieser notwendige Bruch mit der basalen gesellschaftlichen Form hat auch eine kulturell-symbolische Dimension. Die agrarische Gesellschaft seit der neolithischen Revolution hatte ein organisches Weltbild, in dem der gesellschaftlich-kulturelle "Stoffwechselprozeß mit der Natur" (Marx) sich primär auf Pflanzen und Tiere bezog. Dieses Weltbild war nicht so sanft und "ökologisch", wie es heute manche regressive Ideologen suggerieren. Es handelte sich vielmehr um ein Herrschaftsverhältnis, das den Menschen durch die Form persönlicher Abhängigkeit qua Sklaverei und Feudalismus als ein "sprechendes Tier" auf seine organische Funktion reduzierte.

Die industrielle Gesellschaft des modernen warenproduzierenden Systems dagegen hatte ein mechanisches Weltbild, in dem der gesellschaftlich-kulturelle "Stoffwechselprozeß mit der Natur" sich primär auf tote physikalische Materie (Maschinen und industrielle Waren) bezog. Dieses Weltbild reduzierte den Menschen durch die unpersönliche Form des Geldes auf einen mechanischen Funktionsroboter.

Die noch unbekannte tertiäre Gesellschaft jenseits der mechanischen Moderne braucht ein soziales Weltbild, in dem der "Stoffwechselprozeß mit der Natur" sich erstmals primär auf den Menschen selbst bezieht, also zum Stoffwechselprozeß der Gesellschaft mit sich selbst wird. "Die Wurzel des Menschen ist der Mensch" (Marx), diese Wahrheit drängt erst jetzt zur gesellschaftlichen Form. In Gestalt der Quantenphysik hat die Naturwissenschaft das mechanische Weltbild bereits verlassen; und es ist kein Zufall, daß die auf der Quantenphysik beruhende mikroelektronische Revolution den Kapitalismus ad absurdum führt. Wenn die Menschheit nicht untergehen will, muß sie den organischen und mechanischen Reduktionismus überwinden und sich menschlich zu sich selbst verhalten. Erst dann kann sie sich auch menschlich zur biologischen und physikalischen Natur verhalten.