Einladung zum Exit!-Seminar 2011 vom 14. - 16. Oktober in Enkenbach
(Pfalz)
Sozialdarwinismus und Ausgrenzung
Thilo Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“
war der bisherige Höhepunkt eines Prozesses, der in den
letzten Jahren zunehmend an Fahrt gewann: nämlich die
Verbreitung von Sozialdarwinismus und Ausgrenzung als Leitideologie bis
tief in die „Mitte“ der Gesellschaft. Das Buch
wurde zum Bestseller trotz oder gerade wegen seines
reaktionären Inhalts. Selbst in ehemals linken Buchhandlungen
konnte man zum Teil goutierende Kommentare vernehmen. Längst
blasen auch führende Staatsintellektuelle wie Sloterdijk in
dieses Horn.
Seit Jahren präsentiert Wilhelm Heitmeyer die Ergebnisse
seiner Untersuchungen zu den „deutschen
Zuständen“, wobei die Diagnose zur Entwicklung der
sozialen Mentalität von Mal zu Mal verheerender
ausfällt. Die Situation spitzt sich im Krisenprozess zu -
nicht nur in Deutschland.
Sozialdarwinismus und Ausgrenzung sind jedoch keineswegs bloß
Krisenphänomene, sondern sie sind tief im Wesen des
Kapitalismus verankert. Hierzu wollen wir einige Aspekte aufzeigen.
Freitag, 14. Oktober
19.00 - 21.30
Gerhard Stapelfeldt: Neoliberalismus und Antisemitismus
Der Neoliberalismus tritt nicht antisemitisch auf; offen antisemitische
Äußerungen wird man im Werk des Hauptes der
neoliberalen Theorie, Friedrich August von Hayek (1899-?1992), nicht
finden. Aber der Antisemitismus ist kein Bewusstes, sondern ein
Gesellschaftlich-?Unbewusstes. Darum ist der Antisemitismus allererst
nicht in Rücksicht auf das Judentum zu erklären,
sondern als unbewusste gesellschaftliche Projektion. Diese freilich
benötigt eine Projektionsfläche, die der unbewussten
Übertragung Plausibilität verleiht: nicht jeder
Mensch, nicht jede soziale Gruppe ist als eine solche Fläche
geeignet. So ist der Antisemitismus gesellschaftlich unbewusst, zugleich keine pure Willkür: „Der
Antisemitismus ist das Gerücht über die
Juden“ (Adorno). Der Antisemitismus bedurfte der Juden, aber
er vermag sich auch zu erhalten, ohne dass empirisch auf Juden
verwiesen werden könnte. Umgekehrt ist der Antisemitismus auch ohne of?fen antisemitische Charaktere
möglich.
Der Neoliberalismus nun ist die Apologie des unbewussten Allgemeinen.
Daraus folgt sein kategorischer Imperativ: Anpassung an die
undurchschauten Mächte der Tradition; daraus folgt seine
Negation und Diffamierung aller Gestalten gesellschaftlicher Utopien;
daraus folgt seine Individualisierung gesellschaftlicher Verhältnisse. In dieser Konstellation von neoliberalen
Basisdogmen besteht eine Wahlverwandtschaft zwischen dem neuen
Liberalismus und dem Antisemitismus. Vor allem in Zeiten der Krise
droht diese Nähe in einer manifesten Praxis zu erscheinen. Die
Aufklärung dieses Zusammenhangs hat sich vor einem allzu umstandslosen Vergleich des Neoliberalismus mit dem
Nationalsozialismus, vor einer Verhöhnung der Opfer des
nationalsozialistischen Staatsterrors zu hüten. Sie hat aber ebenso die neoliberale Verdrängung des Terrors
zurückzuweisen, die schon kurz nach 1945 im Dogma von der
„Stunde Null“ einsetzte. Seit Freud ist bewusst,
dass jede Verdrängung die „Wiederkehr des
Verdrängten“ impliziert; die „Wiederkehr“ ist jedoch keine Wiederholung, sondern
die Erscheinung des Verdrängten unter veränderten Verhältnissen.
Samstag, 15. Oktober
10.00 - 12.30
JustIn Monday: Deutschland bildet sich
Über die nationale Dynamik der Sarrazin-Debatte und ihre
Geschichte
Zeitgleich mit ihrem Entschluss, die Finanzkrise von 2008 als
„bewältigt“ zu betrachten, weil
„das Übergreifen auf die Realwirtschaft“
dank mutiger politischer Initiative vermieden worden sei, kompensierte
die deutsche Öffentlichkeit ihre dunkle Ahnung davon, dass
dies eine haltlose Illusion sein könnte, mit der sogenannten
Sarrazin-Debatte. Flüchtig betrachtet, wehrte sich dabei der
liberalere Teil der Landsleute gegen den genetischen Determinismus, der
Sarrazin teils zurecht, teils zu unrecht zugeschrieben wurde. Unter der
- verhängnisvoll falschen, aber gängigen -
Prämisse, Rassenbiologie und Eugenik zielten im Kern auf die
Beseitigung und Vermeidung unveränderbar minderwertigen
Menschenmaterials, schaffte es sogar der SPD-Vorsitzende, Sarrazin die
Wiederbelebung der Eugenik vorzuwerfen. Wenn auch gepuffert von der
Beteuerung, dass es sich bei jenem und dem Großteil seiner
AnhängerInnen keinesfalls um RassistInnen handele, die
„Integrationsdebatte“ nun wirklich geführt
werden müsse, etc. pp. Der Verweis auf die wundersamen
Einflüsse der Bildung auf den Reichtum der Nation, mit dem die
GegnerInnen Sarrazins glaubten gegen diesen punkten zu können,
brachte diese aber lediglich in den Sog einer Dynamik, die die
historische Rassenbiologie als Ganzes kennzeichnete. Denn für
nicht wenige ihrer maßgeblichen Vertreter, etwa die Autoren
der konservativen Revolution, war „Rasse“ schon
immer mehr geistiges Prinzip denn biologische Substanz, die den
schädelvermessenden Biologen hätte
überantwortet werden können. Es ist daher angebracht,
die Dynamik der Rassenbiologie in Kontrast zur Rede vom Biologismus als
Zeichen fortschreitender Vergesellschaftung der Natur zu begreifen. Die
fixe, vermeintlich messbare Natur war immer nur die Krücke
eines an den Krisenerscheinungen panisch gewordenen
bürgerlichen Denkens, eine notwendige Stütze, damit
die Illusion aufrecht erhalten werden kann, die lieb gewonnenen Formen
der eigenen Herrschaft hätten ihren Rechtsgrund in einem
unhintergehbaren Naturzustand. Damit aber wurde der Gedanke an sie nur
ein - und nicht einmal das zentrale - Merkmal einer Praxis mit dem
paradoxen Ziel, die Produktivität der Arbeit nicht mehr als
vermitteltes Moment der gesellschaftlichen Beziehungen betrachten zu
müssen, sondern als unveräußerbaren Zustand
von Körpern, die sich, völlig unvermittelt und im
dualistischen Gegensatz zur fixen Natur, vom totalen Staat zur
Ausbildung von „Willenskraft“ mobilisieren lassen.
Wehe denen, die sich nicht dermaßen bilden lassen wollen.
Nicht nur die Phantasien vom Untergang der Nation, sondern auch die im
Bezug darauf gerechtfertigten Maßnahmen zur Vermeidung der
„Degeneration“ waren und sind verschobene
Wahrnehmung der Krise, was im Vortrag im Detail entwickelt werden soll.
Mittagspause
15.00 - 17.30
Workshop
AUSNAHMEZUSTAND, WERTVERGESELLSCHAFUNG UND EXKLUSION
Vorbereitung und Moderation: Roswitha Scholz
„Der demokratische Ausgrenzungs- und Sicherheitsimperialismus
richtet sich … nicht nur nach außen gegen die
>Überflüssigen< der Peripherie, sondern
zunehmend auch nach innen als Zwangs- und Notverwaltung des sozialen
Ausnahmezustands gegen die
>Überflüssigen< des Zentrums selbst. Am
Ende der Moderne kehrt … die zweckfrei ins Nichts
mündende innere und äußere Kolonialisierung
zurück als zunehmend identische Repression gegen innere und
äußere >Unerwünschte<.
„Auf dem Krisenniveau der dritten industriellen Revolution
werden … alle Menschen zum >Mensch(en) der
Menschenrechte …<, wie Agamben im Anschluss an Hannah
Arendt formuliert, weil wir nunmehr >alle virtuell homines sacri
sind<. Aber diese auto-aggressive letzte Konsequenz der
einschließenden Ausschließung, die in
Selbstvernichtung mündet, vollzieht sich immer noch im polaren
Muster von Rassismus und Antisemitismus, von Definition eines
>lebensunwerten Lebens< einerseits und phantasmatischer
Projektion eines auszulöschenden >fremdrassigen
Prinzip< andererseits“ (Robert Kurz, Weltordnungskrieg)
Nach einer knappen Klärung zentraler Begriffe bei Georgio
Agamben (etwa Homo sacer, Ausnahmezustand) lesen wir S. 351 - 362 aus
dem Buch „Weltordnungskrieg“ von Robert Kurz
(Horlemann-Verlag, 2003). In diesen Kapiteln werden die Gedanken
Agambens wertkritisch fruchtbar gemacht und im historischen Kontext bis
heute konkretisiert.
19.00 - 20.00
Mitgliederversammlung des Exit!-Vereins
Sonntag, 16.10.
Roswitha Scholz: Antiziganismus und Ausnahmezustand
Antiziganismus ist eine Variante des Rassismus, die auch im
herkömmlichen Rassismusdiskurs oftmals ausgeblendet bleibt.
Dies hat Gründe in der Geschichte und der Struktur des
Antiziganismus selbst, die mit der Geschichte einer arbeitszentrierten
Moderne und der Ausbildung territorialstaatlicher
Verhältnisse aufs Engste verflochten sind.
Im Bild des „Zigeuners“ kommt der Kontrapunkt zum
disziplinierten Lohnarbeiter zum Ausdruck.
„Zigeuner“ gelten als faul, emotional, impulsiv,
arbeitsscheu und unstet, sie lügen, betrügen und
stehlen dem gängigen Stereotyp nach. Andererseits werden ihnen
auch „musikalische Fluchten“ (Wulf D. Hund)
zugeschrieben und stehen sie für ein „freies
Leben“ insgesamt. „Zigeuner“ gelten als
außerhalb des Gesetzes lebend, deshalb wurden sie - teilweise
bis heute - mit Sondergesetzen belegt. Im Grunde wurde über
sie in der Geschichte ein permanenter Ausnahmezustand verhängt
Im Gegensatz zu anderen Rassismen stehen sie für die Angst vor
dem Absturz, vor dem „Asozial“- und Vogelfrei -
Werden schlechthin im Kontext der westlichen Binnengesellschaften.
Meine These, die ich entfalten will, lautet somit, dass „der
Zigeuner“ den „Homo sacer“ (Georgio
Agamben) par excellence darstellt. Deshalb vielleicht auch die
mangelnde Beschäftigung mit dem Antiziganismus bis in die
Linke hinein.
Zum Tagungsort Haus Mühlberg (Tagungs- und
Freizeitstätte der Ev. Kirche der Pfalz), Anreisebeschreibung
Am Mühlberg 17
67677 Enkenbach-Alsenborn (Ortsteil
Enkenbach)
Tel.: 06303 - 2337
Enkenbach liegt ca. 10 km
östlich von Kaiserslautern, an der
Bahnstrecke Bingen - Kaiserslautern; kann also von der Rheinstrecke her
(Koblenz - Bingen) direkt angesteuert werden, oder mit Umsteigen in
Kaiserslautern (hier halten auch die ICEs der Strecke Mannheim -
Saarbrücken - Paris Est). Mit dem Auto ist Enkenbach auch sehr
gut zu erreichen: Über die A 6 (Mannheim -
Saarbrücken), eigene Ausfahrt Enkenbach-Alsenborn 10 km
östl. von Kaiserslautern.
Vom Bahnhof kommend erreicht man das Haus
Mühlberg zu
Fuß in ca. 10 Minuten: man verlässt den Bahnhof nach
links, an der Hauptstrasse wieder links über einen
Bahnübergang und einen Kreisverkehr hinweg; ca. 200 m nach dem
Kreisverkehr (der mit einem Elefanten aufwartet) links den Berg hoch
(Haus Mühlberg ausgeschildert).
Mit dem Auto von der Autobahn kommend
fährt man bis zur
Kreuzung mit Ampel in der Ortsmitte, dort rechts und dann weiter
über besagten Bahnübergang und Kreisverkehr.
Teilnehmerkosten pro Person mit Übernachtung und
Verpflegung
Freitag bis Sonntag:
Doppelzimmer o. Dusche/WC (auf dem Flur): 95 Euro
Einzelzimmer o. Dusche/WC (auf dem Flur):
100 Euro
Doppelzimmer m. Dusche/WC: 100 Euro
Da die drei Kategorien jeweils nicht in
beliebiger Anzahl zur
Verfügung stehen, kann es sein, dass nicht alle
TeilnehmerInnen wunschgemäß untergebracht werden
können. Aus diesem Grund werden wir die TN-Beiträge
auch erst zu Beginn der Tagung einziehen - also bitte nicht vorher
überweisen, sondern in bar mitbringen.
Teilnahme nur am Seminar: Tagungsbeitrag 15 Euro
Ermäßigung
Wer sich den TN-Beitrag nicht leisten
kann, muss deswegen nicht auf das
Seminar verzichten: bitte sprecht uns in diesem Fall bei Eurer
Anmeldung wegen einer Ermäßigung an!
Anmeldung:
Per E-mail: seminar + @exit-online.org
(bitte manuell
zusammenfügen und das Pluszeichen dabei weglassen)
Per Post: Verein für kritische
Gesellschaftswissenschaften,
Hanns v. Bosse, Am Heiligenhäuschen 68, 67657 Kaiserslautern
Roswitha Scholz für die
EXIT!-Redaktion