EXIT! Heft 5
Inhalt
Editorial
Nachruf
auf André Gorz
Eiszeit
für kritische
Theorie?
Offener
Brief an die
InteressentInnen von EXIT!
Eske Bockelmann
Synthesis
am Geld: Natur der
Neuzeit
Eine Antwort auf
Sohn-Rethels Frage
nach dem Zusammenhang
von Warenform und Denkform
Roswitha Scholz
Überflüssig
sein und
„Mittelschichtsangst“
Das Phänomen der
Exklusion
und die soziale Stratifikation im
Kapitalismus
1. Einleitung:
„Klassenlage“, schichtenspezifische Exklusion oder
Jedermann- Deklassierung?
Das ist heute die Frage! 2.
Das
Phänomen des Überflüssigseins im
Kapitalismus bis Ende des 19. Jahrhunderts –
ein kurzer Abriss 3.
Die „nivellierte
Mittelstandsgesellschaft“ 4.
Individualisierung jenseits von Klasse und Schicht? 5. Die
Zerstörung der „neuen
Mittelschicht“ und die prekären
„neuen Selbständigen“ 6. Der
Klassenkampffetisch 7.
Kampf ohne
Klassen? 8. Das
letzte Stadium der Mittelklasse 9.
Mittelschichtsgesellschaft und
Geschlecht 10.
Mittelschichtsgesellschaft und Migration 11. Ausschluss als
Grundproblem des Kapitalismus
– von der Neuzeit über
die „nivellierte Mittelstandsvergesellschaftung“
bis heute 12.
Einige Bemerkungen zur
sozialwissenschaftlichen Debatte um soziale Exklusion und
„soziale Verwundbarkeit“
in den Mittelschichten 13.
Mittelschichtsvergesellschaftung,
Exklusion und die gesellschaftliche Form der Wert-Abspaltung
Christian Mielenz
Wie
die Karnickel
Biologisierung und
Naturalisierung
moderner Phänomene am
Beispiel der malthusianischen Überbevölkerungstheorie
1.
Die malthusianische
Theorie 2.
Bevölkerungsentwicklung und Nahrungsmittelproduktion in
Deutschland
1800-1850 3. Fazit:
Weder
malthusianische noch „Industrialisierungs“-Theorie
Robert Kurz
Der
Unwert des Unwissens
Verkürzte
„Wertkritik“ als Legitimationsideologie eines
digitalen Neo-Kleinbürgertums
1.
Von der Wertkritik zur
digitalen Szene-Ideologie 2.
Die
„Schwester der Ware“ und das Internet als
„Emanzipationsmaschine“ 3. Warenform,
Wertsubstanz und
zirkulationsideologischer Reduktionismus 4.
„Gerechter Tausch“ und kapitalistische
Nutzungsverhältnisse 5.
Die Warenseele in Aktion: Vom „unseriösen
Bezahlgut“ zum strukturellen Antisemitismus 6.
Inhaltsproduktion, kapitalistische Kosten und
„arbeitslose
Reproduzierbarkeit“ 7.
Produktive und
unproduktive Arbeit in der gesamtkapitalistischen
Reproduktion 8. Auf dem Weg zur
sekundären
Arbeitsontologie 9.
Der
gesamtgesellschaftliche Charakter der Wertsubstanz und die Ideologie
vom „schaffenden“
und „raffenden“ Kapital 10. Universelle
Entwertung und Stadientheorie einer simulativen Emanzipation
11. Falscher
Universalismus und soziale
Exklusion. Die digitale Alternativideologie als Dorado hausfrauisierter
Mittelschichtsmänner 12.
Der Standpunkt
des virtuellen Konsumidioten 13.
Selbstverwaltung des kulturellen Elends 14. Die Enteignung
der InhaltsproduzentInnen als soziale
Selbstverleugnung und Ressentiment 15.
Termiten und blaue Ameisen. Die Biopolitik der digitalen
„Schwarmintelligenz“ 16.
Verelendungs-Realpolitik von
Möchtegern-Kapos der kulturellen Krisenverwaltung
Anselm Jappe
Sade,
unser Freund?
Knut Hüller
Vom
aufgeklärten Subjekt
zur Intelligenz des Schwarms
Udo Winkel
Über den
schwierigen Umgang mit Rosa Luxemburg
Editorial
Eher können wir uns den
Weltuntergang, die Zerstörung des
Ökosystems Erde oder den kollektiven Selbstmord der Menschheit
vorstellen als
die Überwindung des Waren produzierenden Patriarchats. Den in
ihm befangenen
und von ihm konstituierten Subjekten steht jede Alternative im
Widerspruch zu
den Naturgesetzen, was sich von einer – mit den Mitteln
moderner Technik ja
durchaus herstellbaren – unbewohnbaren Erde so nicht sagen
lässt, schließlich
sind wir auf dem besten Wege dahin.
Entsprechend dürftig mussten
denn auch die Ergebnisse der
von einigen Medien als „Konferenz zur Rettung der
Welt“ apostrophierten
Klimakonferenz auf Bali im Dezember 2007 ausfallen, die in allgemeiner
Enttäuschung endete. Die Rettung der Welt wurde erst einmal
verschoben, die
Hoffnung ruht nun auf der Folgekonferenz in Kopenhagen 2009. Als
Schuldige für
das vorläufige Scheitern wurden wieder einmal die USA oder
doch zumindest die
uneinsichtige derzeitige US-Regierung ausgemacht, und die sie deutlich
beim
Namen nannten, wie der Friedensnobelpreisträger Al Gore oder
der deutsche
Umweltminister Sigmar Gabriel, konnten zu Stars der Konferenz
avancieren. Dabei
hatte sich die US-Delegation doch nur gegen die Festschreibung von
Obergrenzen
für den CO2-Ausstoß gewehrt,
weil diese die Wettbewerbsfähigkeit der
US-Wirtschaft beeinträchtigen könnten, ein
Gesichtspunkt, der auch den
deutschen Musterschülern schon wenige Tage später so
fremd nicht mehr war:
Als eine Woche nach der
Bali-Konferenz, ganz im Sinne der
dort vertretenen europäischen Position, die EU-Kommission vom
Jahr 2012 an
Abgaben für einen CO2-Ausstoß
von Limousinen oberhalb von 130 Gramm
pro Kilometer verlangte, vermochte der deutsche Umweltminister darin
nur einen
„Wettbewerbskrieg gegen deutsche Autohersteller“ zu
sehen, und die
Bundeskanzlerin sprach von „Industriepolitik zu Lasten
Deutschlands“. Damit,
dass sie anders als ihr Minister die Konferenz von Bali zuvor als
Erfolg
gefeiert hatte, erwies sie sich nachträglich wieder einmal als
die
Geschicktere, war der Widerspruch bei ihr doch weniger eklatant. Und so
ganz
daneben lagen die beiden hinsichtlich der Bewertung der
innereuropäischen
Maßnahmen nicht: Dass etwa die französische
Regierung Sondersteuern für
Kraftfahrzeuge mit einem CO2-Ausstoß
von mehr als 160 Gramm pro Kilometer
plant, ist nicht nur gut fürs Klima, sondern dient eben auch
der französischen
Autoindustrie als eine Art Schutzzoll. Hier wie überall ist
Klimaschutz bloße
Funktion der kapitalistischen Konkurrenz: Wenn sich mit ihm Geld
verdienen
lässt, ist er willkommen, wenn nicht, muss er wohl oder
übel hinten anstehen.
Auch die etwas radikaleren Kritiker
der Klimaschutzpolitik
können offenbar nicht umhin, das Gelingen der Wertverwertung
als Voraussetzung
aller Politik in Rechnung zu stellen, so etwa, wenn der Attac-Sprecher
Sven
Giegold im Vorfeld des G8-Gipfels in Heiligendamm das von ihm und
anderen als
notwendig erachtete Ziel, den CO2-Ausstoß
bis 2050 um 80 Prozent zu
reduzieren, mit der Aussicht schmackhaft machte, es berge
„viele Chancen auf
neue Jobs und wirtschaftliche Entwicklung“ (taz vom
19.03.07). Mit dieser
inzwischen gängig gewordenen Argumentationsfigur wird offenbar
der
technologische Vorsprung ausgespielt, den deutsche Hersteller bei der
Erzeugung
erneuerbarer Energien ihren Konkurrenten gegenüber haben
mögen. Nur muss, wer
damit die Kriterien kapitalistischer Produktion derart fraglos
voraussetzt,
dann auch akzeptieren, dass die Konkurrenz ihrerseits auf die ihr
spezifischen
Vorteile setzt und erst einmal die Öl-, Gas- und
Kohlevorkommen abbauen will,
von denen dort der wirtschaftliche Erfolg und die
Arbeitsplätze abhängen.
Solange die gemeinsamen Kategorien
von abstrakter Arbeit,
Wertverwertung und kapitalistischer Konkurrenz zur conditio
humana, zur menschlichen Natureigenschaft verklärt
bleiben,
können sie als die eigentlichen Verursacher der anstehenden
Klimaprobleme auch
nicht dingfest gemacht werden. Hinzu kommt, dass die Lebensgrundlagen,
deren
Zerstörung im Laufe dieses Jahrhunderts droht, zwar allem
Wirtschaften
vorausgesetzt sind, aber großenteils durch das
ökonomische und politische
Wahrnehmungsraster fallen, weil sie in der ideologischen Zuschreibung
schon
seit der frühen Neuzeit dem abgespaltenen
„weiblichen“ Bereich angehören (Frau
= Natur). Es ist ja keineswegs zufällig, dass die
öffentliche Klimadiskussion
überhaupt erst in dem Augenblick Fahrt aufnahm, als der
frühere Chefökonom der
Weltbank Nicolas Stern Ende 2006 die Kosten des Klimawandels in Dollar
vorrechnete. Dass dabei auch Menschen milliardenfach zu Schaden kommen,
spielt
demgegenüber nach wie vor eine eher nebensächliche
Rolle. Die Trümmerfrauen der
zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts werden es dann wieder
richten dürfen.
Bis dahin ist noch etwas Zeit, und
deshalb spielten in der
öffentlichen deutschen Diskussion Ende 2007 andere Themen eine
wichtigere
Rolle: „Die Gerechtigkeitslücke. Deutschland
zwischen Mindestlohn und
Spitzeneinkommen“ brachte es am 17.12.07 zum SPIEGEL-Titel.
Auch neoliberalen
Hardlinern fällt inzwischen auf, dass die realen
Nettoeinkommen zwischen 2000 und
2006 im Durchschnitt stagniert, bei den ärmsten 10% der
Bevölkerung um etwa 20%
ab-, bei den reichsten 10% dagegen um etwa 20% zugenommen haben und
dass darin
ein Problem liegen könnte. Dieses wird weniger in den
Einkommensunterschieden
schlechthin gesehen, schließlich sei
„Lohnspreizung“ – so die penetrante
Botschaft des IFO-Instituts und seines berüchtigten
Präsidenten – gut für die
Wirtschaft und damit für uns alle, als vielmehr darin, dass es
die Arbeitsmoral
womöglich untergrabe, wenn ein Zusammenhang zwischen dem
Einkommen und der
dafür geleisteten Arbeit nicht mehr erkennbar sei.
Die im Dezember 2007 hochgekochte
Debatte um die
Spitzengehälter deutscher Manager ließe sich unter
rein ökonomischen
Gesichtspunkten auch gar nicht führen, denn wenn man ein
Jahreseinkommen selbst
von 60 Millionen Euro unters deutsche Volk verteilte, spränge
pro Kopf nicht
einmal ein Euro heraus. So richtet sich die Wut denn auch weniger gegen
erfolgreiche Manager als gegen solche, die wegen mangelnden Erfolges
entlassen werden,
damit aber schlimmstenfalls dem Schicksal ausgeliefert sind, ohne
Arbeit von
ihren großzügig bemessenen Abfindungen, Pensionen
und Aktienanteilen leben zu
müssen. Dass es sich um ein mit Personifizierungen
gesellschaftlicher
Widersprüche operierendes antisemitisches Ideologem handelt,
das ein „raffendes
Kapital“ (im Gegensatz zum guten „schaffenden
Kapital“) konstruiert, mit dem
hier auf Stimmenfang gegangen wird, muss in dieser Zeitschrift wohl
nicht
besonders hervorgehoben werden.
Die Reaktion der ja keineswegs
wehrlosen deutschen Manager
ließ nicht lange auf sich warten und lag auf der gleichen
Ebene. Eilfertig
wurde betont, selber doch eindeutig zur Fraktion des
„schaffenden Kapitals“ zu
gehören: „Lassen Sie uns gemeinsam klarmachen, wer
in Deutschland Wohlstand und
Wachstum erwirtschaftet: die vielen ausgezeichneten Unternehmen mit
ihren hoch
qualifizierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern“, so
Jürgen Thumann, Chef des
Bundesverbandes der Deutschen Industrie in einem Brief an 15.000
Manager (Spiegel-Online
22.12.07). Dagegen, so war bereits vorher zu hören,
gäbe es noch andere, die
mehr verdienten (US-Manager) bzw. ein vergleichbares Gehalt
bezögen, ohne einen
entsprechenden Beitrag zu Wohlstand und Wachstum zu leisten (Sportler
und ihre
Manager).
Diese Vorlage, sich über ein
neues Opfer her zu machen,
durfte natürlich nicht unverwertet bleiben. Der entsprechende
Versuch, einen
Tag vor Heiligabend vom Bundestagspräsidenten Norbert Lammert
in einem
Interview mit der BILD am Sonntag vorgetragen, geriet
erbärmlich: „Wenn der
wohlhabendste deutsche Fußballclub einen brasilianischen
Jugendlichen für 14
Millionen Euro kauft und mit einem Einkommen ausstattet, das die
meisten
Familienväter über Jahre harter Arbeit nicht
erwirtschaften können, sind Maßstäbe
verloren gegangen“ gab er da von sich (Spiegel-Online
23.12.07), um dann
sogleich heraus zu lassen, dass er mit
„Familienvätern“ vor allem
seinesgleichen meinte. Jedenfalls stellte er schon wenige
Sätze später den
Zusammenhang her, Politiker würden im Vergleich zu anderen
Tätigkeiten zu wenig
verdienen. Wenn man „die Besten für die Politik
gewinnen will, darf sich die
Bezahlung nicht zu weit von den übrigen Standards
entfernen.“ (ebd.) Offenbar
ein Eigentor, denn dass schon lange nicht mehr „die
Besten“ in die Politik
gehen, sondern allenfalls noch diejenigen, die zum
Fußballspielen kein Talent
haben, ist an BILD lesenden Stammtischen längst ein
Gemeinplatz.
Die
„Gerechtigkeitslücke“ scheint gewissen
„Besserverdienenden“ irgendwie moralische Probleme
zu bereiten, doch ihre
durchgängige Rede dazu ließe sich in dem schlichten
Satz zusammenfassen: Alle
verdienen zu viel, nur meine Berufsgruppe wegen ihrer Bedeutung
für das
Allgemeinwohl eher zu wenig. Man könnte den Eindruck gewinnen,
es ginge um die
letzten fetten Beutestücke, bevor die allgemeine Not
ausbricht. Angesichts
dieses Ekel erregenden, auf gegenseitiger Anprangerung und Anpreisung
der je
eigenen Charaktermaske beruhenden Diskurses wünscht unsereins
sich bloß noch,
die Protagonisten würden einfach die Klappe halten, ihrer
ureigenen Ideologie
folgen und den Markt entscheiden lassen. Die Deutsche
Fußball-Liga in ihrer
Weisheit hat sich übrigens jeglichen Kommentars enthalten.
Besonders unappetitlich ist diese
Debatte vor dem
Hintergrund der wirklichen Probleme auf der anderen Seite des
Einkommensspektrums. Von 2000 bis 2006 ist der Anteil der als arm
geltenden
Bundesbürger um mehr als die Hälfte gestiegen, von 12
auf mehr als 18 Prozent.
Der gern vorgebrachte verharmlosende Hinweis, es handele sich
bloß um relative
Armut, verfängt hier nicht, weil sich die realen
Durchschnittseinkommen, auf
die sich die Armutsindikatoren beziehen, in diesem Zeitraum nicht
verändert
haben. Noch gar nicht berücksichtigt ist in diesen Zahlen,
dass die
Inflationsrate, die im Jahr 2007 erstmals wieder die 3%
überschritt, bei den
Preisen für Waren zur Befriedigung von
Grundbedürfnissen (Nahrung, Heizung u.
a.) deutlich höher liegt, wovon Arme erheblich
stärker betroffen sind als der
Durchschnitt.
Dass diese Entwicklung Frauen
erheblich stärker trifft als
Männer, versteht sich von selbst und ist daher kaum noch der
Rede wert. Dagegen
hat die Zunahme der Kinderarmut eine gewisse mediale Aufmerksamkeit
erregt. Sie
droht inzwischen die Funktionsfähigkeit des in Teilen
kostenpflichtig
gewordenen Bildungssystems zu beeinträchtigen: In manchen
Kitas oder
Ganztagsschulen spielen sich jeden Mittag Dramen ab, wenn ein Drittel
der
Kinder den anderen beim Essen zusehen darf, weil Eltern oder allein
erziehende
Mütter die 2 Euro Essensgeld nicht aufbringen. Auf das Geld
einfach zu
verzichten, scheinen die öffentlichen Kassen nicht mehr
herzugeben.
Im Rahmen der kapitalistischen
Widerspruchsbearbeitung ist
inzwischen eine Gegenbewegung in Gang gekommen: Ein gesetzlich
festgelegter
Mindestlohn ist notwendig geworden, wenn Lohnabhängige von
ihren Löhnen auch
leben können sollen. Dieser Forderung stimmen inzwischen
Dreiviertel der
Bundesbürger zu, und mit ihr will die SPD die
nächsten Wahlkämpfe bestreiten.
Bei aller Notwendigkeit enthält sie zugleich ein Moment der
Exklusion: Die
Arbeitslosen sind selbstverständlich nicht gemeint. Die
Empörung richtet sich
vielmehr dagegen, dass jemand für eine wöchentlich
oft mehr als 40-stündige
schwere Arbeit nur das gleiche bekommt wie ein Hartz IV -
Empfänger. Trotz
dieser teilweise unkoscheren Motive ist der Einführung eines
Mindestlohns auf
der Basis westeuropäischer Standards zuzustimmen, schon weil
andernfalls die
Gefahr besteht, dass die vom gesunden Volksempfinden eingeklagte
Differenz
zwischen Löhnen und Arbeitslosengeld durch eine Absenkung von
letzterem
realisiert wird. Hinzu kommt, dass ein solcher Mindestlohn die
vereinzelten
Arbeitslosen vor den derzeitigen Zumutungen der Arbeitsagenturen
bewahren
könnte, jede Arbeit zu jedem Hungerlohn annehmen zu
müssen, und insofern auch
ein gewisser Schutz vor dem Zwang zur Arbeit wäre. Dass damit
Arbeitsplätze im
Niedrigstlohnbereich wegfallen, ist nur zu begrüßen.
Die Vorgänge im Anschluss an
den Bundestagsbeschluss für
einen Mindestlohn für Briefzusteller verweisen im
Übrigen darauf, wie weit sich
nicht nur die Armut, sondern auch die Krise der Kapitalakkumulation
bereits
ausgeweitet hat: Die Geschäftsmodelle der Postkonkurrenten
beruhen offenbar auf
Hungerlöhnen, ohne zusätzliche Arbeit zu schaffen,
oder glaubt jemand, es
würden auch nur anderthalb mal so viel Briefe verschickt, wenn
es dreimal so
viele Briefträger gibt? Entweder würden daher
Arbeitsplätze von der Post in den
Billiglohnbereich verlagert, oder es gäbe mehr Briefzusteller,
die dieselbe
Anzahl von Briefen austragen, was bereits unter dem Aspekt
betriebswirtschaftlicher Effizienz keinen Sinn ergibt: Wenn jetzt
dreimal am
Tag ein Postbote bei uns einen Brief abliefert, wie es hin und wieder
schon
passiert, fragt man sich doch, warum sich die drei nicht zusammentun
und das in
einem Arbeitsgang erledigen. Das erinnert sehr an die Heizer auf
Elektroloks,
die britische Gewerkschaften einmal tariflich aushandelten, um
Arbeitsplätze zu
retten, bevor dann Margaret Thatcher kam. Man nennt so etwas wohl
unproduktive
Arbeit. Zusätzlicher Mehrwert jedenfalls wird dadurch nicht
geschaffen, und
darum geht es auch schon gar nicht mehr. Vielmehr soll, auf Kosten der
Konkurrenten und durch Kombilöhne auch noch staatlich
gefördert, ein
zusätzlicher Anteil der schrumpfenden Mehrwertmasse in die
eigenen Taschen
gelenkt werden.
Es blieb der ZEIT (2008/Nr.3, S.6/7)
in ihrer allumfassenden
Ausgewogenheit vorbehalten, unter der Überschrift
„Wahlkampf mit der Angst“ die
Forderung nach einem Mindestlohn mit der vom hessischen
Ministerpräsidenten
Roland Koch losgetretenen und von BILD forcierten rassistischen
Kampagne gegen
„ausländische“ kriminelle Jugendliche auf
eine Stufe zu stellen. Gewiss, im
Wahlkampf ist alles Wahlkampf, aber wie soll man dann eine solche
Gleichsetzung
nennen, mit der die ZEIT offenbar versucht, den einen Inhalt durch den
unsäglichen anderen zu denunzieren?
Bei diesen Jugendlichen handelt es
sich durchweg um
Personen, die in Deutschland geboren wurden und ihre gesamte in die
Kriminalität führende Sozialisation hierzulande
durchlaufen haben. Das auf
frühzeitige Selektion getrimmte und Kinder mit
„Migrationshintergrund“ in
besonderer Weise benachteiligende deutsche Schulsystem hat es ihnen
schon als
Elfjährigen schriftlich gegeben, dass sie in diesem Leben
leider nicht mehr
gebraucht werden, sondern zu den vom Kapitalismus
regelmäßig produzierten
Überflüssigen gehören (vgl. den Beitrag von
Roswitha Scholz in diesem Heft).
Hinterher wundert man sich scheinheilig über mögliche
Folgen, die so
unerwünscht vielleicht gar nicht sind, schließlich
belegen sie nun auch
empirisch die zivilisatorische Überlegenheit der
„deutschen Leitkultur“.
Zu einer Romantisierung der von der
Gesellschaft
Ausgespuckten besteht freilich kein Anlass. Von
Widerständigkeit gegen die
ihnen auferlegten Zumutungen kann keine Rede sein, wie sollte es auch,
wurde
sie doch gebrochen, bevor sie überhaupt aufkommen konnte. Mit
den ihnen
verbliebenen Mitteln rufen sie bloß die andressierten
bürgerlichen Tugenden ab:
Eigennutz, Durchsetzungsfähigkeit, Männlichkeit. In
ihren Gewalttaten zeigt
sich die inzwischen erreichte Verwahrlosung des männlichen
Konkurrenzsubjekts,
wie sie auf der anderen Seite und nach seinen Möglichkeiten
ein Roland Koch
repräsentiert. Deshalb handelt es sich im Übrigen bei
der skandalisierten
„Gewaltbereitschaft“ auch um ein allgemeines
kapitalistisches Phänomen, das
sich keineswegs auf Jugendliche mit migrantischer Herkunft
beschränkt, wie in
Teilen des medialen Diskurses suggeriert wird.
Angesichts der Schwierigkeit, Leute,
die mit ihren
„Herkunftsländern“ so gut wie gar nichts
mehr zu tun haben oder gar deutsche
Staatsbürger sind, einfach abzuschieben, wie von Koch
zunächst gefordert, wird
jetzt der Ruf nach dem Lager laut, das in der bürgerlichen
Gesellschaft eine
lange und in Deutschland bekanntlich eine besondere Geschichte hat.
Deshalb
wird es neuerdings auch beschönigend
„Camp“ genannt, was allerdings eine
sofortige Distanzierung von den USA und ihren
„bootcamps“[1]
erforderlich macht. Also doch lieber deutsch? Die CDU propagiert als
Modell das
nordhessische „Trainingscamp“ des ehemaligen Boxers
Lothar Kannenberg. Das laut
seinem Erfinder „aus dem Bauch heraus“ entwickelte
Konzept dieser
„Jugendhilfeeinrichtung“ besteht darin, den
Insassen neben Ordnung, Drill und
Kampfsport auch die ihnen bisher fehlende „Wärme und
Geborgenheit“ eines
Männerbundes zu bieten. Über die Karrieren, die den
daraus Entlassenen offen
stehen, darf spekuliert werden.
Dass Roland Koch mit seiner Kampagne
im Wahlkampf
schließlich keinerlei Erfolg hatte, sondern im Gegenteil
Karriere knickende
Stimmenverluste hinnehmen musste, dürfte nach allgemeiner
Einschätzung damit
zusammenhängen, dass er auf die falschen Ängste
setzte. Die sich über das
Gymnasium definierende deutsche Mittelschicht, deren Stimmen der CDU
verloren
gingen, hat andere: In einer selbst systemimmanent verrückten,
allen lern- und
entwicklungspsychologischen Erkenntnissen Hohn sprechenden Reaktion auf
die
alljährlichen „PISA-Schocks“ und die damit
verbundene Konkurrenzangst wurde
ihren Kindern das um ein Jahr verkürzte Gymnasium verordnet,
bei gleich
bleibenden Gesamtstundenzahlen und Stoffplänen. Die gleichen
Lehrinhalte in
weniger Zeit bzw., was dasselbe ist, mehr Lehrstoff pro Jahr oder
Woche,
verbunden womöglich mit einer Erhöhung von
Klassenfrequenzen und
Lehrerarbeitszeit, also mehr Schülern pro Lehrkraft: damit
werden wir es den
Finnen und Koreanern schon zeigen. „Billiger und
besser“, dieses etwa von der
Hamburger Schulsenatorin Alexandra Dinges-Dierig bei ihrem Amtsantritt
verkündete Credo betriebswirtschaftlicher Effizienz soll auch
das deutsche
Schulsystem wieder auf Vordermann bringen.
Bloß funktioniert das
nicht. Man könnte sagen: Dieser
Versuch einer Durchorganisation des Gymnasiums nach den
Grundsätzen des
gewöhnlichen kapitalistischen Betriebs hat die Rechnung ohne
die Wertabspaltung
gemacht, die jeder Kapitalverwertung vorausgesetzt ist. Die von
späterer
gesellschaftlicher Überflüssigkeit bedrohten und mit
einer aus Schulstunden und
Hausaufgaben zusammengesetzten 40-50-stündigen
Wochenarbeitszeit belasteten
Kinder und Jugendlichen, denen jedes Refugium genommen ist, reagieren
massenhaft mit Stress-Symptomen wie Magenbeschwerden, Kopfschmerzen und
Schlafstörungen. Und die Mittelschichts-Familien, deren
Funktion doch
eigentlich darin besteht, für den Arbeitsstress dadurch wieder
fit zu machen,
dass er vor der Haustür bleibt, müssen ihn sich qua
gemeinsamer Bewältigung der
schulischen Anforderungen in die eigenen vier Wände holen.
Die darüber inzwischen auch
in neoliberalen Organen wie dem
SPIEGEL und der FAZ mehrfach vorgebrachte Klage über den
„Diebstahl der
Kindheit“ macht deutlich, dass systemimmanent nichts mehr
geht: Einerseits
resultiert die nur noch an betriebswirtschaftlichen
Input-Output-Modellen
orientierte Organisation des Bildungssystems aus der Angst vor dem
Zurückfallen
in der globalen kapitalistischen Konkurrenz. Auf der anderen Seite wird
inzwischen die reale Gefahr gesehen, dass ebendieses System Absolventen
hervorbringt, die – vom Burnout-Syndrom befallen, noch bevor
sie es verlassen
haben – als
konkurrenzfähige
Arbeitskräfte niemals zu gebrauchen sein werden.
Die herrschende Perspektivlosigkeit,
die gemeinsame Fahrt in
den Abgrund, zu der es keine Alternative geben soll, führt zu
Fluchtbewegungen
aller Art, denen sich auch kapitalismuskritische Szenen zunehmend
anzuschließen
scheinen. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf, ersetzt
Wunschdenken die
kritische Analyse. Wie bereits die K-Gruppen in den 1970er Jahren jeden
Streik
zum revolutionären Kampf einer Arbeiterklasse aufbliesen, die
es schon damals
nicht mehr gab, lügt man sich die kleinste
Widerständigkeit, die allein dem
bloßen Überleben in der kapitalistischen Konkurrenz
geschuldet ist, in einen
systemtransformierenden Kampf um. Die „Multitude“
lässt grüßen. Wer dann aber
zur Begründung auf die höheren Weihen der
Marx‘schen Kritik der politischen
Ökonomie nicht verzichten will, muss sich schon einigen
theoretischen
Verrenkungen unterziehen.
Ein prominentes Beispiel für
einen solchen Vorgang liefert
John Holloway in seinem Buch „Die Welt verändern,
ohne die Macht zu ergreifen“
(zur Kritik vgl. Robert Kurz in EXIT! Heft 4, 87 – 99).
Während Holloway sich
dort im vierten Kapitel noch zustimmend, wenn auch unzureichend auf den
Marx‘schen Begriff des Fetischismus bezieht, ersetzt er ihn
ein Kapitel später
vollständig durch den nur noch handlungstheoretisch
verstandenen Begriff der
„Fetischisierung“. Damit wird zwar erfasst, dass
der Warenfetisch durch die auf
Ware und Geld bezogenen Handlungen der Individuen immer wieder neu
hergestellt
werden muss, was ja richtig ist. Unterschlagen bzw. negiert wird
dagegen die
umgekehrte Bewegung, mit der zusammen sich erst die Dialektik des
Gesamtprozesses entwickeln kann, also die Rückwirkung des
Fetischs und der ihn
konstituierenden Handlungen (vgl. den Beitrag von Eske Bockelmann in
diesem
Heft) auf die unter ihm Agierenden und seine Verfestigung in den von
der
Wertabspaltung geprägten Strukturen des bürgerlichen
Subjekts und der
Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft. Bei Holloway
stehen dem Fetisch
die von ihm letztlich nur äußerlich affizierten
Menschen gegenüber, die in
ihrer Unmittelbarkeit auch ganz anders könnten, und das also
nur endlich mal
tun müssten. So kann aus einem Kind, das nach den an der
Supermarktkasse ausgestellten
Süßigkeiten greift, ohne ans Bezahlen zu denken, ein
revolutionäres Subjekt
werden. Man fragt sich dann allerdings schon, wie sich die Warenform so
lange
hat halten können. Hier ist wohl eindeutig der Wunsch, den
Kapitalismus auf
einfache Weise loswerden zu können, der Vater des Gedankens
gewesen. Oder
umgekehrt: Der Gebrauchswert einer solcher Theorie besteht
ausschließlich
darin, einer bestimmten immanenten Praxis der Widerspruchsbearbeitung
vorzugaukeln, sie sei immer schon antikapitalistisch.
Einen parallelen Versuch
ähnlicher Art haben Stefan Meretz
und Ernst Lohoff in Krisis 31 vorgeführt. Die Szene, die damit
bedient werden
soll, ist die als „Ökonux“ firmierende
Ideologisierung der „Freien
Softwarebewegung“. Dort wird (etwas allgemeiner gefasst unter
www.keimform.de)
schon länger die Wunschidee
vertreten, der Kapitalismus würde hinter dem Rücken
seiner Subjekte „das Neue
im Alten“ hervorbringen, das dann unverändert in die
befreite Gesellschaft
übernommen werden oder diese gar auf dem Wege einer kampflosen
Ausbreitung
herbeiführen könne. Bei diesem strukturtheoretischen
Gegenstück des
Postoperaismus bedarf es noch nicht einmal einer bewussten
Veränderung des
Handelns, das allenfalls flexibel an die jeweils neuesten
technologischen
Konzepte anzupassen ist; es bleibt nur noch die Aufgabe, „das
Neue“ zu suchen,
wobei man in der „Freien Software“ ja bereits
fündig geworden ist, auch wenn
diese inzwischen zum Geschäftsmodell global agierender
Konzerne geworden ist.
Konsequenterweise müsste diese Ideologie in Bezug etwa auf die
gerade aktuell
gewordene Konkurrenz zwischen Google und Microsoft um die Vorherrschaft
im
Internet darauf hinauslaufen, in dem einen Konzern, der seine Produkte
kostenlos zur Verfügung stellt und sich aus Werbeeinnahmen
finanziert, das
„Neue“ und in dem anderen, der seine Nutzer
für Lizenzen bezahlen lässt, das
„Alte“ und damit in den
Übernahmeschlachten von global
players den ewigen Kampf zwischen Gut und Böse zu
sehen.
Es versteht sich fast von selbst,
dass der in Krisis 31
unternommene Versuch, diese Ideologie mit der Kritik der politischen
Ökonomie
in Beziehung zu setzen und zu unterfüttern, zu noch
größeren Verrenkungen
führt, als sie bei einem Holloway zu besichtigen sind: Dazu
mussten so genannte
„Universalgüter“ erfunden werden, die zwar
„Bezahlgüter“ aber keine Waren mehr
seien, weil sie nicht getauscht, sondern nur in Kopie zur
Verfügung gestellt
würden. Diese Rabulistik hat ihre Protagonisten vor allem
selber in Verwirrung
gestürzt, denn die Frage, „ob
Universalgüter als Nicht-Tauschgüter und damit
Nicht-Waren trotzdem Warenform besitzen können“, ist
zwischen ihnen „nicht
geklärt“ (Krisis 31, 55, Fußnote 3); eine
Frage, die den blanken Unsinn einer
essenziellen Unterscheidung zwischen „Ware sein“
und „Warenform haben“ zu ihrer
Voraussetzung hat. Auf die Klärung, der vielleicht das
nächste Krisis-Heft
gewidmet sein könnte, sind wir sehr gespannt. Zur genaueren
Auseinandersetzung
mit dieser neuesten Wendung einer der kapitalimmanenten Praxis
hinterher
laufenden „Wertkritik“ vgl. den Beitrag von Robert
Kurz in diesem Heft.
Der hier unternommene Parforce-Ritt
durch die zwischen
Dezember 2007 und Februar 2008 hochkochenden und ebenso schnell wieder
in der
medialen Versenkung verschwindenden, damit aber keineswegs
gelösten sozialen
Konflikte der immanenten Widerspruchsbearbeitung sollte deutlich
machen, dass
gesellschaftskritische Theorie verloren wäre, wenn sie sich
die begriffliche
Distanz ausreden lassen und auf die eine oder andere Seite der
Konfliktparteien
schlagen würde. Unser Beitrag, also der Beitrag theoretischer
Praxis zur
Umwälzung der Verhältnisse, kann nur darin bestehen,
unbeirrt auf eigenem
Terrain die neue Kapitalismuskritik und damit die
„Begriffszertrümmerung“ der
noch lange nicht erledigten alten Paradigmen weiterzuentwickeln (vgl.
den
offenen Brief „Eiszeit für kritische
Theorie?“ im Anschluss an das Editorial).
***
Das vergleichsweise schnelle
Erscheinen des vorliegenden
Hefts ist einem erfreulichen Zufluss von Artikeln zu verdanken, den die
Redaktion aber nur zum Teil steuern konnte. Neben dem Thema Mittelschicht
und Überflüssigkeit,
das
den geplanten Schwerpunkt des Hefts ausmacht, ist es besonders die
alles
rechtfertigende Naturalisierung
gesellschaftlicher Verhältnisse, die aus
verschiedenen Blickwinkeln
kritisch analysiert wird.
Den Anfang macht der Aufsatz
»Die Synthesis am Geld: Natur
der Neuzeit. Eine Antwort auf Sohn-Rethels Frage nach dem Zusammenhang
von
Warenform und Denkform« von Eske
Bockelmann, der eine Quintessenz seines umfangreichen Werkes
»Im Takt des
Geldes. Zur Genese modernen Denkens« gibt. Anders als das
Buch setzt sich der
vorliegende Text aber explizit mit Alfred Sohn-Rethel auseinander, dem
das
Verdienst zukommt, die Frage nach der Abhängigkeit der
Denkform von der
Warenform als Erster gestellt zu haben, ohne darin über eine
„halbintuitive
Einsicht“ hinauszukommen, wie ihm selber durchaus klar war.
Die Gründe für
Sohn-Rethels unzureichende Antworten auf seine richtige Frage liegen
zum einen
in seiner Vorstellung einer bewussten
Übertragung der Form begrifflich-logischen Denkens aus dem
Warentausch, zum
anderen in einer historischen Unschärfe, mit der er die
griechische Antike und
den Beginn der Neuzeit sowohl hinsichtlich der Philosophie als auch der
gesellschaftlichen Rolle des Geldes gleichsetzt. Bockelmanns Antwort
auf
Sohn-Rethels Frage unterscheidet sich in diesen Punkten: Es ist erst
die zu
Beginn des 17. Jahrhunderts einsetzende Vergesellschaftung
über das Geld als
Repräsentanz des absoluten Werts,
die das funktionale Denken als eine seinen Trägern nicht
bewusste, ihnen als
natürlich erscheinende Form auf den Weg bringt, die allein
für die Neuzeit
bestimmend ist.
Im Zentrum des geplanten Schwerpunkts
steht der Aufsatz
»Überflüssig sein und
„Mittelschichtsangst“. Das Phänomen der
Exklusion und die
soziale Stratifikation im Kapitalismus« von Roswitha
Scholz. Es geht dabei um
eine
für die wert-abspaltungskritische Theorie wesentliche
Problematik, die bislang
unterbelichtet war: In welchem Verhältnis steht die Kritik des
abstrakten
kapitalistischen Form- und Abspaltungszusammenhangs zur Analyse von
sozialen
Lagen und deren Verwerfungen? Ausgehend von einem historischen Abriss
der
sozialen Exklusion in der Moderne liegt der Schwerpunkt zum einen auf
einer
Auseinandersetzung mit der Soziologie der Zwischen- und Nachkriegszeit und ihrer Theorie der heraufdämmernden
„Mittelschichtsgesellschaft“. Zum andern
macht Scholz in einem kritischen Durchgang durch die bisherige
Wertkritik auf
deren Defizite hinsichtlich der sozialen Stratifikation und Ausgrenzung
aufmerksam. Die notwendige Kritik am arbeitsontologischen
Klassenkampf-Paradigma kann nicht bedeuten, sich allein auf die
Abstraktionsebene von Wertform und „abstraktem
Individuum“ zu beziehen, um von
einer „Jedermann-Deklassierung“ in der Krise
auszugehen. Wenn die Analyse der
sozialen Schichtungen und ihrer Dynamik nicht systematisch einbezogen
wird,
beschränkt sich auch die Ideologiekritik auf den allgemeinen
Fetisch-Zusammenhang. Die spezifischen Interessen-Positionen werden
ausgeblendet, gerade wenn sich heute Absturzängste in den
Mittelschichten breit
machen, und die Wertkritik droht (ähnlich wie in anderer Weise
die
Reformulierung des Klassenkampf-Paradigmas) klammheimlich in eine
Mittelschichts-Krisenideologie
abzugleiten. Dabei ist nicht zuletzt die kritische Analyse des
Zusammenhangs
von „Mittelschicht und
Geschlechterverhältnis“ und „Mittelschicht
und
Migration“ wesentlich.
Die ideologische Verarbeitung des
Phänomens der Exklusion im
Kapitalismus spielt auch in der Untersuchung »Wie die
Karnickel. Biologisierung
und Naturalisierung moderner Phänomene am Beispiel der
malthusianischen
Überbevölkerungstheorie« von Christian
Mielenz eine
Rolle. Der Autor setzt
sich dort mit dem immer noch grassierenden Malthusianismus auseinander,
gegen
den schon Marx und Engels polemisiert haben. Diese Ideologie ist wie so
vieles,
was sich Wissenschaft nennt, ein Resultat der jetzt auch im
Zusammenhang mit
der Klimadiskussion auftretenden Verrücktheit, dass
für die Erklärung der
Probleme der kapitalistischen Produktionsweise alles und jedes als
Ursache
herangezogen werden darf, nur nicht diese Produktionsweise selbst, die
ein
blinder Fleck großer Teile auch der so genannten
Sozialwissenschaften bleibt.
Der Malthusianismus erklärt die moderne Massenarmut mit der
biologisierenden
Behauptung, die Menschen würden sich so schnell vermehren,
dass die Produktion
von Nahrungsmitteln diesem Wachstum nicht folgen könne.
Mielenz weist am
Beispiel des Pauperismus in Deutschland zwischen 1830 und 1850 nach,
dass diese
These allen empirischen Befunden widerspricht, die daher entweder
negiert oder
fehlinterpretiert werden müssen und auch werden.
Völlig außerhalb des
Problembewusstseins solcher Theorie muss die Frage bleiben, nach
Maßgabe
welcher Kriterien sich die Menge der als
Waren produzierten Nahrungsmittel bemisst.
Der Essay »Der Unwert des
Unwissens. Verkürzte „Wertkritik“
als Legitimationsideologie eines digitalen
Neo-Kleinbürgertums« von Robert
Kurz ist in elektronischer Fassung schon letztes Jahr auf
der
Homepage von
EXIT! erschienen. Die Gepflogenheit, einen Text der jeweils neuen
EXIT!-Ausgabe
im Internet zur Verfügung zu stellen, wurde diesmal aus
Gründen der aktuellen
Intervention vorverlegt. Die polemische Kritik dieses Textes richtet
sich zum
einen gegen die falsche „politökonomische“
Begründung einer in der
„wertkritischen“ Szene grassierenden digitalen
Alternativideologie. Dabei geht
es zentral um den Begriff sogenannter
„Universalgüter“ im virtuellen Raum, die
angeblich
schon „jenseits der Warenform“ sein sollen. Dieses
Konstrukt wird
zirkulationsideologisch mit einem verkürzten
Verständnis von Wertsubstanz und
Äquivalenzbeziehung begründet, das auf den
Vorstellungen eines digitalen
Neo-Kleinbürgertums von
„Tauschgerechtigkeit“ beruht. Zum andern werden die
sozialen Konsequenzen dieser pragmatistischen
„Praxisideologie“ aufgezeigt, die
auf eine Virtualisierung der Kritik hinauslaufen und sich gegen die
kulturelle
und theoretische Inhaltsproduktion wenden. Wie die Alternativideologie
überhaupt droht auch deren digitale Version die
kapitalistische
Krisenverwaltung zu flankieren, indem die gesellschaftlich gesetzten
Krisenbedingungen „positiv“ angenommen werden. Der
Text kann als
Exemplifizierung der allgemeinen Kritik von Roswitha Scholz an den
Mittelschichts-Krisenideologien in dieser EXIT!-Ausgabe gelesen werden.
Das aus
der einschlägigen Szene geäußerte Ansinnen,
diesen Text nicht abzudrucken, weil
er EXIT! „diskreditieren“ würde,
können wir nur amüsiert zur Kenntnis nehmen. Der
bereits elektronisch publizierte Text wurde in der Printfassung mit
einem neuen
Vorwort und Zwischenüberschriften versehen.
In seinem Artikel »Sade,
unser Freund?« behandelt Anselm
Jappe den Kult um den Marquis de
Sade, der seit der Zwischenkriegszeit, aber vor allem seit den
sechziger Jahren
in den intellektuellen Kreisen Frankreichs stark verbreitet ist, die
sich für
„transgressiv“, „subversiv“
oder einfach kritisch halten. Aber er hat auch
längst Eingang in die „offizielle“ Kultur
bis in die höchsten Sphären gefunden.
Die Stichwortgeber dieses Kults sind nicht nur George Bataille und die
Surrealisten, sondern auch in Deutschland weniger bekannte Autoren wie
Maurice
Blanchot oder Annie Le Brun. Adornos und Horkheimers
Ausführungen über Sade in
ihrer Dialektik der Aufklärung haben
hingegen in Frankreich praktisch überhaupt kein Echo gefunden.
Diesen Kult will
der hier vorliegende Artikel kritisch betrachten und damit eine kleine
„Regelverletzung“ der autorisierten
„Regelverletzung“ liefern. Sades Schriften
geben keinerlei Anlass zu einem Kult. Indem Sade als einer der ersten
„dunklen
Schriftsteller des Bürgertums“ (Adorno/Horkheimer)
die Überflüssigkeit des
Menschen und die Vernichtung des Objekts offen propagierte, lassen
seine Werke
sich aber lesen als prophetische Sinnbilder der Moderne und dessen, was
in ihr
aus dem Subjekt, dem Objekt und der Lust inzwischen geworden ist. Der
Text
wurde aus dem französischen Original vom Autor selbst
übersetzt.
Knut
Hüller spießt
in seiner Glosse »Vom aufgeklärten Subjekt zur
Intelligenz des Schwarms« den
Modediskurs um die Schwarmintelligenz auf, auf den bereits Robert Kurz
am Ende
seines Beitrags gestoßen ist und der wieder einmal darin
besteht, eine aus der
Biologie stammende Fragestellung – nämlich die nach
den Mechanismen, die
Schwärme funktionsfähig machen – allen
Ernstes und eins zu eins auf Probleme
der menschlichen Gesellschaft zu übertragen. Die doch
eigentlich recht nahe
liegende Frage, wie denn wohl eine Gesellschaft beschaffen sein muss,
damit eine
derartige Übertragung für möglich gehalten
werden kann, bleibt offenbar
außerhalb dieses Diskurses.
In seiner Rezension
Ȇber den schwierigen Umgang mit Rosa
Luxemburg« setzt sich Udo Winkel
mit
der Aufsatzsammlung „Rosa Luxemburg und die Kunst der
Politik“ von Frigga Haug
auseinander, deren politizistischer Pferdefuß im
ausdrücklichen Bezug auf
Gramsci sichtbar wird, aber dennoch einige interessante Ergebnisse zu
Tage
fördert. Die Schwierigkeiten liegen darin, dass –
wie schon bei Marx – die
Beschäftigung mit Rosa Luxemburg in heutiger Sicht nicht die
vordergründige
Aktualisierung einer historisch vergangenen Epoche zum Ziel haben kann,
sondern
es um die Suche nach in die Zukunft weisenden Antizipationen geht. Und
in
dieser Hinsicht lohnt die Lektüre ihrer Schriften weiterhin.
***
Die aktuelle Selbstdarstellung des
EXIT-Projekts
»Kaptitalismuskritik für das 21. Jahrhundert: Mit
Marx über Marx hinaus« ist im
September 2007 als kleine Broschüre erschienen und noch in
großer Anzahl
vorhanden. Sie kann zur Weiterverbreitung (z. B. Auslage auf
Büchertischen
usw.) beim Verein für kritische Gesellschaftswissenschaften,
Am
Heiligenhäuschen 68, 67657 Kaiserslautern oder per Email
bestellung[at]exit-online.org bestellt
werden.
Claus
Peter Ortlieb für die
EXIT!-Redaktion
im Februar 2008
[1] Masochisten
und solche, die es werden
wollen, können diese freiwillig aufsuchen, auch in Europa und,
das versteht
sich von selbst, gegen Bezahlung. Anzeigen wie „Bootcamp
Einen Tag lang knallharten Drill erleben – Hier
jetzt
buchen!“ lassen sich im Internet leicht finden.