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EXIT! Krise und Kritik der Warengesellschaft Heft 6

Inhalt

Editorial
Claus Peter Ortlieb
Ein Widerspruch von Stoff und Form
Zur Bedeutung der Produktion des relativen Mehrwerts für die finale Krisendynamik
Roswitha Scholz
Gesellschaftliche Form und konkrete Totalität
Zur Dringlichkeit eines dialektischen Realismus heute
Carsten Weber
Zwischen Hammer und Amboss
Die fetischistischen Herrschaftsverhältnisse der chistlich-europäischen Kultur als komplementäre Leidens- und Verblendungszusammenhänge
Robert Kurz
Die Kindermörder von Gaza
Eine Operation „Gegossenes Blei“ für die empfindsamen Herzen
Gerd Bedszent
Grüner Malthus
Udo Winkel
Nationalsozialismus und Vernichtungskrieg
Ein Literaturbericht
Udo Winkel
Marx-Diskurse in der Krise
Ein kleiner Streifzug

Editorial

In diesen Zeiten ist es geradezu langweilig, ein Editorial zu schreiben, zumal die EXIT!-Editorials stets mehr waren als eine kurze Hinleitung zu den einzelnen Artikeln und immer auch die aktuelle Szenerie in der jeweiligen Situation etwa hinsichtlich der Oberflächen-Entwicklung kursorisch einzufangen trachteten. Mittlerweile ist es aber ein wenig müßig, einzelne Momente zu skizzieren, in denen sich ein lange Zeit stets verleugneter gesellschaftlicher Krisenprozess in seinen aktuellen Verlaufsformen jeweils äußerte; ist der historische Charakter dieser Krise doch mittlerweile unübersehbar geworden. Termini wie Kollaps und „Crashkurs“, die Prognose eines Wegbrechens ganzer Branchen etc., für die eine wertkritische Krisentheorie seit den 1990er Jahren notorisch als unseriös und hysterisch überzogen gescholten wurde, sind in den letzten Monaten TagesschausprecherInnen oder Börsenhändlern locker über die Lippen gegangen, und entsprechende Einschätzungen finden sich längst in der bürgerlich-honorigen Mainstream-Presse.

Wenn Claus Peter Ortlieb in EXIT! Nr. 2 (2005) am Anfang des Editorials schrieb: „Krise allenthalben“, so gilt dies heute umso mehr. Deshalb bedarf es hier keiner Details zum aktuellen Krisenstand. Die Situation ist schnell skizziert. Man könnte sagen: „Soviel Krise war nie“, analog zum Anfangssatz im „Kollaps der Modernisierung“ von Robert Kurz: „Soviel Ende war nie“ (Frankfurt 1991) – angesichts des Realwerdens der dort gestellten Prognosen. Das Ende des Realsozialismus verblasst nunmehr als epochale Erschütterung. Der Kapitalismus als Weltsystem, der damals noch einmal so richtig neoliberal auftrumpfen konnte, ist jetzt vom inneren Selbstwiderspruch seiner eigenen Dynamik in einem von den meisten (auch linken) Diskursen unvorhergesehenen Ausmaß ereilt worden. Auch wenn er deswegen nicht „morgen früh“ zusammenbricht, hat sich seit dem Herbst 2008 mit dem Bankrott von Lehman Brothers, dem nachfolgenden Domino-Effekt im globalen Finanzsystem und der neuen Weltwirtschaftskrise jede selbstzufriedene Gewissheit einer ewig regenerationsfähigen Verwertung auch noch als „Kasinokapitalismus“ blamiert.

Zur aktuellen Lage ist allenfalls zu sagen, dass sie im gesellschaftlichen Bewusstsein noch weitgehend verdrängt wird. Die Leerstelle einer sozialistischen Alternative, ja überhaupt jedes ernsthaften Gedankens in dieser Hinsicht, macht sich nicht zuletzt daran bemerkbar, dass Konzernbelegschaften auf den für sie fühlbar gewordenen Einbruch hilflos und betriebswirtschaftlich borniert mit T-Shirt-Aufschriften reagieren: Wir sind Opel, wir sind Arcandor, rettet uns! Hätte Merkel jemals gedacht, dass ausgerechnet ihre Regierung Honecker-artig Banken verstaatlichen und die Warenproduktion staatlich verwalten bzw. in wachsendem Umfang subventionieren muss? Verkniffenes Hohngelächter allenthalben, aber keine Perspektive. Rettungspakete und Konjunkturprogramme sind nicht dauerhaft tragfähig und modifizieren nur den weiteren Krisenprozess, dessen neue Qualität nicht mehr in die früheren Verlaufsformen der Finanzblasen-Ökonomie gelenkt werden kann. Bezeichnend die Frage von Finanzminister Steinbrück: „Wie kriegen wir die Zahnpasta in die Tube zurück?“.

Wenn der abgehalfterte Keynesianismus wieder Konjunktur hat, ist das selber ein Krisensymptom. An der inneren Schranke des Kapitalismus sind solche Vorstellungen noch viel illusionärer als in der fordistischen Phase, der auch der sogenannte Realsozialismus noch angehörte. Nur scheinbar holt uns eine Zeit ein, die unwiederbringlich vorbei ist. Die erneut imaginierte Omnipotenz des Staates ist ökonomisch hohl, wie sich nicht nur an den osteuropäischen Menetekeln wie Lettland, Ungarn usw. zeigt, sondern auch in den westeuropäischen Ländern der EU und in den USA. Die sozial dämpfenden Maßnahmen hierzulande, von der Abwrackprämie bis zur Kurzarbeit, stehen eher im Zeichen des Wahlkampfs als einer wirklichen Bewältigungskraft. Nach der Bundestagswahl ist der Übergang zu einer verschärften, alles andere als sozial „weichen“ Notstandsverwaltung zu erwarten. Das weiß im Grunde jedes Kind. Je mehr die Unbeherrschbarkeit der Situation offenbar wird, desto rücksichtsloser bereiten sich die Staatsapparate auf ein Aufbegehren vor, das überhaupt nicht sichtbar ist. Schon in den letzten Jahren wurde der Sicherheits- und Überwachungsstaat (biometrische Ausweise etc.) aufgerüstet. In diesem Zusammenhang lässt sich auch die ökologische Problematik vortrefflich für eine krisenverwalterische Verzichtsideologie instrumentalisieren, flankiert durch einen „ökologischen Reduktionismus“ von links. Schon vor der neuen Weltwirtschaftskrise sollten die Unterschichten auf eine „gesunde“ Billigernährung durch Kraut, Rüben und Nudeln nach Öko-Rezepten – alles liebevoll erdacht von professionellen Hartz-IV-Köchen – eingeschworen werden.

Vielleicht gerade deshalb geben momentan die gesellschaftliche Atmosphäre und die ideologischen Reaktionen mehr zu denken als der ökonomische Krisenverlauf. Es herrscht eine Stimmung nach dem Motto: Alle reden von Krise und keiner geht hin. Nicht nur für das Management und die politische Klasse sind möglichst „unaufgeregter“ Krisenpragmatismus und „business as usual“ angesagt. „Kannit verstan“ (Johann Peter Hebel) und „Fürst Prospero“ (Edgar Allan Poe – vgl. den schon 1995 erschienenen Text „Die Maske des roten Todes“ von Roswitha Scholz, zu finden auf der EXIT!-Homepage) sind Leitparadigmen; die Einigelung im eigenen Alltags- und Gewohnheitsmief soll das drohende gesellschaftliche Verhängnis „draußen bleiben“ lassen. Und das in der Ahnung oder sogar Gewissheit, dass die „Pest“ der Krisenwahrheit letztendlich auch die in den vergangenen Jahrzehnten noch im Zeichen der Finanzblasen- und Kreditökonomie aufstiegswilligen Mittelschichten ereilen wird.

Die Hoffnung, dass der Spuk bald vorbei sein möge, klammert sich an tröpfelnde Entwarnungsdiskurse. Steigen nicht abermals die Börsenkurse? Und bekommen die Kleinanleger bei der bankrotten isländischen Kaupthing-Bank nicht bereits ihre Einlagen zurück? Man schwärmt vom „Erreichen der Talsohle“, und die zeitweilig kleinlaut gewordenen Auguren der Wirtschaftsinstitute wagen schon wieder die Prognose vom Licht am Ende des Tunnels. Viel wahrscheinlicher dürfte sein, dass das Sommerloch 2009 nur eine kleine Pause gewährt. Eine große Krise verläuft nicht linear, sondern in Schüben. Der nächste Schub deutet sich an, wenn die Krise im vollen Umfang die Arbeitsmärkte erreicht, die Konjunkturprogramme auslaufen und die Rettung vor den Folgen der Rettungspakete auf die Tagesordnung kommt.

Gleichzeitig zeigt sich, dass eigentlich niemand so recht an die dennoch gern gehörte Beschwörung keynesianischer Regulation glaubt. Dass sie bloß die bessere SPD sein will, hat sich für die Linkspartei nicht ausgezahlt. Das politische „Establishment“ hat deren „Gerechtigkeits“-Phrasen und nationalen Rettungsideologien längst vereinnahmt und mitten in der Krisenverwaltung sein Herz fürs Soziale entdeckt, was mit einem ausgrenzenden Sozialdarwinismus durchaus einhergeht. Im Klartext: Gut, ja lebenswert ist allein, was der imaginierten intakten (nationalen) Gemeinschaft nützt, die „gestärkt aus der Krise hervorgehen“ (Merkel) soll. Weil die Kritik und die Alternativen so dünn und gesellschaftlich schwach sind, gibt es gar keine Versuchung, den Kapitalismus grundsätzlich in Frage zu stellen, während andererseits die (links)sozialdemokratische Rettungsagenda mehr als zweifelhaft erscheint. Viel verlockender ist der Gedanke, dass alles so weitergeht, wenn eine liberalkonservative „Macher“-Crew die Zügel in die Hand nimmt, wie sich in der BRD an der derzeit stabilen demoskopischen Mehrheit für CDU/CSU und FDP zeigt.

Die Linke, die vom historischen Kriseneinbruch genauso überrascht wurde wie die offiziellen Institutionen, schwankt zwischen jüngst hörbar gewordenen Tönen, dass „irgendwie“ doch mit einem Ende des Kapitalismus zu rechnen sei (selbst wenn dabei nicht wertkritisch argumentiert wird, sondern eine anachronistische Deutung von „Klassenherrschaft“ überwiegt) einerseits und einem altbekannten Ableugnen des fundamentalen Charakters der Krise andererseits. Vielleicht findet sogar die stärkste Ontologisierung des Kapitalismus in der Linken statt, soweit es um die basalen gesellschaftlichen Formen geht. Nachdem es mit den traditionellen Revolutionsvorstellungen in der Vergangenheit nicht geklappt hat und der Kapitalismus sich scheinbar endlos hinziehen konnte, sitzt der Gedanke von seiner Integrationsfähigkeit als „autopoietische“ ewige Selbsterneuerung á la Systemtheorie tief.

Dennoch hat sich in diesen Glauben ein gewisses Unbehagen eingeschlichen. Schon in den sozialen Verwerfungen der letzten Jahre erheischte das sogenannte „Materielle“ unerbittlich Aufmerksamkeit und die Rede vom Ende des (postmodernen) „cultural turn“ machte die Runde. „Marx lesen“ gilt auch bei den Jüngeren wieder als „cool“. Und so tauchen als Gegentendenz zum bisherigen linken Mainstream in politologischen und soziologischen Perspektiven auf einmal Kategorien wie die der gesellschaftlichen „Form“ auf; eine Dimension, von der eine vornehmlich kapitalismusgewisse linke Positionierung bis dato nichts wissen wollte. Plötzlich wird es recht grundsätzlich, obwohl gerade die wert-abspaltungskritische Theorie weiterhin abgewehrt, ignoriert oder bloß eklektisch (und oft ohne ausdrücklichen Bezug) vereinnahmt wird.

Der Terminus „Wertkritik“ wurde in den 1990er Jahren vor allem mit einem Standpunkt identifiziert, der die Kritik an den Basiskategorien von abstrakter Arbeit, Wertform und Kapitalform als dem „automatischen Subjekt“ (Marx) betonte; im Gegensatz zur verkürzten, „form-ontologischen“ Kritik des Kapitalismus als äußerlicher Klassenherrschaft und juristischem Eigentumsverhältnis im traditionellen Arbeiterbewegungsmarxismus. Vor diesem Hintergrund wurde schon seit der zweiten Hälfte der 1980er Jahre die Theorie einer historischen inneren Schranke der Kapitalverwertung entwickelt. In dem Maße, wie diese Schranke nun auch an der gesellschaftlichen Oberfläche real zu Tage tritt, wird der wertkritische Ansatz nicht einfach aufgenommen und weiterentwickelt, sondern in gegensätzliche Richtungen „ausdifferenziert“, die teilweise schon eine eigene jüngere Geschichte haben. Es werden so die Konturen einer unausweichlichen Auseinandersetzung deutlich, wobei der Status und Inhalt der Krisentheorie eine große Rolle spielt.

Eine Folie bildet die sogenannte „neue Marx-Lektüre“, die sich eine kritische Rekonstruktion der Marxschen Theorie auf die Fahnen geschrieben hatte, schon Ende der 1960er Jahre durch Hans-Georg Backhaus und Helmut Reichelt im Gefolge einer Rezeption der Kritischen Theorie Adornos ihren Ausgang nahm und bis Anfang der 1980er Jahre zu verebben schien, während seit einigen Jahren von ihr wieder viel die Rede ist. Auch die Arbeiten von Moishe Postone werden in diesem Zusammenhang genannt. Dieser Ansatz verstand sich als vorwiegend philologische Bemühung um den Charakter und die Widersprüche der Marxschen Texte; er erhob deshalb auch nicht den Anspruch eines umfassenden neuen Paradigmas (etwa hinsichtlich der Aufklärungsphilosophie, des Subjektbegriffs, des Geschlechterverhältnisses, der historischen Analyse und Standortbestimmung etc.), wie er von der wert-abspaltungskritischen Theorie vertreten wird. Insbesondere fehlt gerade bei den „Klassikern“ dieser Position auch innerhalb der Marx-Philologie der krisentheoretische Aspekt fast vollständig. Im Zuge der Abwehr einer Wertkritik, die das Geschlechterverhältnis in Gestalt der Abspaltungstheorie auf der grundsätzlichen Ebene aufgenommen hat und gleichzeitig eine radikale Krisentheorie formuliert, wird die „neue Marx-Lektüre“ (NML) gerade auch in ihrer jüngeren Weiterentwicklung vor allem durch Michael Heinrich gern als akademisch kompatible und viel „seriösere“ Alternative gehandelt; „echte Kenner“ wissen mittlerweile genau, was mit dem Kürzel NML gemeint ist.

Im Spannungsfeld von NML und Wertkritik lassen sich dabei gegenwärtig idealtypisch vier unterschiedliche Positionen ausmachen:

  1. Die sogenannte „antideutsche“ Richtung (Grigat, Scheit, Bruhn u.a.), ausgehend von einer Art „Adorno-Orthodoxie“, die einst als ein Herd der „neuen Wertkritik“ galt, allerdings von Anfang an auf eine neue Deutung der Kritik der politischen Ökonomie verzichtete und gleichzeitig die wertförmig konstituierte Vernunft der bürgerlichen Aufklärung (durchaus ähnlich wie der Arbeiterbewegungsmarxismus) als positives „Erbe“ affirmieren wollte. Die radikale wertkritische Krisentheorie wird auf der kategorialen Ebene der Ökonomiekritik abgelehnt, während mittlerweile durchaus vom drohenden „Ausnahmezustand“ die Rede ist, dessen Bedingtheit im Dunkeln bleibt. Gleichzeitig erscheint gegenüber den barbarisierenden Folgen der realen Krise der Kapitalismus pseudo-“realpolitisch“ als kleineres Übel.
  2. Eine Reformulierung der Kritik der politischen Ökonomie, die sich im Kontext der NML selber nicht explizit als wertkritisch versteht, aber dennoch eine philologisch erschlossene Formkritik behauptet (Wolf, Elbe, Heinrich). Geradezu im Gegensatz zur „antideutschen“ Richtung lehnt sich dieser Ansatz in epistemischer Hinsicht weitgehend an ein popperianisch-positivistisches Wissenschaftsverständnis an (in bewusster Absetzung von Adornos Position im „Positivismusstreit“). Dabei machen sich Bestrebungen bemerkbar, eine Formkritik reduktionistisch mit einer (alten) Klassenperspektive wieder in Einklang zu bringen (siehe etwa Sven Ellmers, Die formanalytische Klassentheorie von Karl Marx, Duisburg 2007, und Ingo Elbe, Marx im Westen, Berlin 2008); auch vor dem Hintergrund eines Marxverständnisses, das Struktur und Geschichte gegeneinander ausspielen und Marx teilweise als „strukturalistischen Positivisten“ von der Dialektik „erlösen“ möchte, die bei den Klassikern der NML noch eine zentrale Rolle gespielt hatte. Die wertkritische radikale Krisentheorie wird von dieser Richtung ebenso wie von den „Antideutschen“ grundsätzlich abgelehnt, weswegen sie bei letzteren trotz des epistemischen Gegensatzes gern als philologische Referenz auftaucht.
  3. Eine aus der Spaltung des alten „Krisis“-Zusammenhangs hervorgegangene Wertkritik, die sich teilweise noch auf die radikale Krisentheorie beruft, während diese andererseits von bestimmten Protagonisten vor allem im Dunstkreis der Wiener „Streifzüge“ (Exner) bereits zurückgenommen wird. Die theoretische Begründung auf der begrifflichen Ebene der Kritik der politischen Ökonomie verblasst dabei, ebenso wie die Theorie der geschlechtlichen Abspaltung teils ignoriert, teils offen abgelehnt und teils androzentrisch-universalistisch als „abgeleitetes“ Moment verballhornt wird. Stattdessen macht sich ein Herunterbrechen auf eine „lebensreformerische“ und alternativideologische Praxisorientierung geltend, die sich mit „lebensphilosophischer“ Ideologie anreichert und in eine Alltags- und Betroffenheitsduselei mündet. Selbstapologetisch wird zwar teilweise noch die Wichtigkeit von distanzierter Theorie betont; aber das „wirkliche Leben“, worauf es letztlich ankommt, findet eben woanders statt. Im Zweifelsfall überwiegt die Orientierung am schnöden (männlichen) Alltag.
  4. Die Position der Wert-Abspaltungskritik, die einen Gegenpol zu den hier angesprochenen „formkritischen“ Diskursen bildet, während diese einer ernsthaften inhaltlich-theoretischen Auseinandersetzung damit eher ausweichen, obwohl sie darin in gewisser Weise einen gemeinsamen Gegner erkennen. Von dieser Position wird die Theorie einer historischen inneren Schranke des Kapitalismus nicht nur ungebrochen behauptet, sondern auch theoretisch genauer zu begründen versucht. Gleichzeitig geht es im Kontext der Theorie der geschlechtlichen Abspaltung um ein grundsätzlich neues Verständnis gesellschaftlicher Totalität. Hinsichtlich der Herangehensweise weist die Wert-Abspaltungstheorie einen positivistischen Wissenschaftsbegriff ebenso zurück wie eine Orientierung an der Aufklärungsvernunft, während sie sich gegenüber der „lebensphilosophischen“ Regression mit der auf Adorno bezogenen Kritik der „falschen Unmittelbarkeit“ verbunden weiß. Es ist ihr aber nicht bloß um eine abstrakte Erkenntniskritik in diesem Sinne zu tun, sondern in der konkreten historisch-gesellschaftlichen Analyse um eine Berücksichtigung der im allgemeinen Begriff des Wert-Abspaltungsverhältnisses nicht aufgehenden Momente und Ebenen von spezifischen Geschlechterhierarchien, sozialen Disparitäten und Ideologiebildungen, die über eine abstrakte Form-Affirmation hinausgehen (Rassismus, Sexismus, Antisemitismus, Antiziganismus). Gerade letztere bleiben in den Positionen von NML und „lebensphilosophisch“-existentialistisch regredierender Wertkritik theoretisch unterbelichtet.

Die konkrete Analyse der ökonomischen, aber auch der ökologischen Krise und der sozialen Konflikte im Einzelnen bleibt dabei eine eigene Aufgabenstellung. Wer sich in dieser Hinsicht über aktuelle wert-abspaltungskritische Ausarbeitungen und Kommentare informieren will, sei auf unsere Homepage verwiesen (www.exit-online.org). Die in dieser EXIT!-Ausgabe versammelten Texte bemühen sich um weiter gehende theoretische Bestimmungen zur Kritik der politischen Ökonomie, zur Erkenntniskritik als Gesellschaftskritik, zur historischen Analyse und zur Ideologiebildung.

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In dem krisentheoretischen Text „EIN WIDERSPRUCH VON STOFF UND FORM“ setzt sich Claus Peter Ortlieb mit Robert Kurz' Aufsatz „Die Krise des Tauschwerts“ von 1986 und der vor allem von Michael Heinrich dagegen vorgebrachten Kritik auseinander. Dabei geht es insbesondere um die von Marx so bezeichnete Produktion des relativen Mehrwerts, also des Mehrwerts, den sich das Kapital durch die Erhöhung der Produktivität zusätzlich aneignen kann. Für den Marx der „Grundrisse“ tut sich im damit verbundenen Zwang zur permanenten Verringerung der notwendigen Arbeitszeit ein „prozessierender Widerspruch“ auf, der geeignet ist, die auf dem Wert beruhende Produktionsweise „in die Luft zu sprengen“. Während Heinrich einen solchen Widerspruch in der Produktion des relativen Mehrwerts nicht zu erkennen vermag und den Marx des „Kapital“ gegen den der „Grundrisse“ ins Feld führt, weist Ortlieb – wie auf andere Weise schon Kurz 1986 – nach, dass die im „Kapital“ entwickelte Kategorie des relativen Mehrwerts in der Tat diesen Widerspruch in sich trägt: Von einer bestimmten Stufe der kapitalistischen Entwicklung an ist es bereits für eine konstante, erst recht aber für eine wachsende gesamtgesellschaftliche Mehrwertmasse erforderlich, dass die stoffliche Produktion mindestens so schnell wächst wie die Produktivität. Das aber ist wegen der Endlichkeit der – als materielle Träger des Werts unabdingbaren – stofflichen Reichtümer auf Dauer unmöglich. Hierin liegt der tiefere und im Rahmen der kapitalistischen Produktionsweise nicht auflösbare Grund sowohl für die Krise der Kapitalverwertung als auch für die ökologische Krise.

Roswitha Scholz geht es in ihrem Artikel „GESELLSCHAFTLICHE FORM UND KONKRETE TOTALITÄT“ um eine erkenntniskritisch-dialektische Bestimmung der Wert-Abspaltungstheorie, und zwar gerade nicht im Sinne einer abstrakt-äußerlichen „Methode“ nach gängigem Wissenschaftsverständnis, sondern als Einheit von Erkenntnis- und Gesellschaftskritik. Gegenüber einem deduktiven, „ableitungslogischen“ Begriff von Totalität der Wertvergesellschaftung, wie es auch in der Wertkritik seit den 1980er Jahren weitgehend anzutreffen war und bis heute nicht überwunden ist, wird auf ein Verständnis der „konkreten Totalität“ rekurriert, wie es in verschiedener Weise bei den „Ahnen“ und Klassikern eines wertkritischen Denkens von Lukács über Adorno bis neuerdings zu Postone eine nicht zu vernachlässigende Rolle spielt. Die gesellschaftliche „Form“ erweist sich erst in ihrer historisch-inhaltlichen Entfaltung und könnte ohne diese auch gar keine allgemeine Bestimmung sein. Dabei handelt es sich um eine „Totalität der Empirie“, die im abstrakten Begriff des Werts bzw. Kapitals nicht aufgeht. Konkrete Analyse-Ebenen und Empirie können daher nicht dem Begriff hierarchisch untergeordnet, ebensowenig aber gegen diesen ausgespielt werden. Insofern ist auch eine Herangehensweise zu kritisieren, die in die „falsche Unmittelbarkeit“ abstürzt; sei es alltagszentriert (Holloway), lebensphilosophisch-existentialistisch (Hardt/Negri), umgekehrt theologisch-universalistisch (Badiou) oder „politizistisch“ (Haug). Stattdessen gilt es angesichts der Schranken des Kapitalismus die aus den linken Diskursen lange Zeit verschwundene Dialektik im Sinne eines „dialektischen Realismus“ neu zu entdecken.

Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Fetischverhältnissen. So hat die Wert-Abspaltungskritik bisher in Abgrenzung zur altmarxistischen Theorie postuliert, ohne dies auch für die Vormoderne eingehend zu belegen. In Carsten Webers Aufsatz „ZWISCHEN HAMMER UND AMBOSS“ wird zunächst thesenhaft erörtert, auf welchen materiellen und ideengeschichtlichen Grundlagen im christlichen Europa eine sich verselbständigende apriorische Matrix in der Form einer Herrschaftsordnung hierarchischer Ungleichheit entstand, die allen dem Christentum unterworfenen Menschen zur zwingenden Normeninstanz wurde. Dabei erweist sich, dass diese Matrix, zumindest in wesentlichen Teilen und in neuen Amalgamierungen, sich in der Moderne bis weit ins 20. Jahrhundert fortsetzte, so dass die Menschen zwischen zwei Fetischvehältnissen, einem modulierten alten und einem mit rasanter Dynamik sich entwickelnden neuen, historisch beispiellos schweren Bedrückungen ausgesetzt waren, also gewissermaßen zwischen Hammer und Amboss gerieten. Im empirisch-historischen Teil des Aufsatzes wird anschließend dargelegt, welche Erscheinungsformen die vormoderne Herrschaftsordnung annahm. Anhand der Darstellung der hierarchischen Ungleichheitsordnung im familiären Haushalt wird deutlich, wie sowohl das eheliche Verhältnis zwischen Mann und Frau als auch das Eltern-Kind-Verhältnis und sogar das herrschaftlich geprägte Verhältnis des Hausherrn zu den Dienstboten die Jahrhunderte überdauerte und bis in die jüngste Vergangenheit fortwirkte. Das übergreifende Merkmal für alle diese Verhältnisse war die Forderung nach unbedingtem Gehorsam, die auf der Vorstellung basierte, dass Gott selbst alle Herrschaft eingesetzt hatte: die des Mannes über die Frau, die des Vaters über die Kinder und die des Hausherrn über das Gesinde. Ungehorsam gegenüber diesen Herrschaftsträgern wurde konsequenterweise mit Ungehorsam gegen Gott gleichgesetzt. Dies galt auch für das Herrschaftsverhältnis zwischen adeligen Grundbesitzern und hörigen Bauern bzw. zwischen Landesherren und Untertanen. Der Aufsatz schließt mit einer Betrachtung der historischen Emanzipationsbewegungen gegen diese vormodern geprägten Herrschaftsverhältnisse. Dabei zeigt sich, dass ähnlich den Kämpfen der Arbeiterbewegung im 19. und 20. Jahrhundert der fetischistische Wesenskern der Herrschaftsordnung hierarchischer Ungleichheit nicht erkannt und folglich auch nicht angegriffen wurde.

In seiner ideologiekritischen Untersuchung „DIE KINDERMÖRDER VON GAZA“ setzt sich Robert Kurz mit linken Wahrnehmungsmustern des Nahostkonflikts auseinander. Nachdem von wert-abspaltungskritischer Seite in den vergangenen Jahren der kapitalistische Weltordnungskrieg und dessen Affirmation durch die „antideutsche“ Ideologie grundsätzlich kritisiert wurde, ist es überfällig, die Kehrseite dieser Interpretation ins Visier zu nehmen, deren Träger sich ebenso affirmativ zur globalen Wertvergesellschaftung und deren Zerfallsprodukten verhalten. Diese Deutungen der Weltlage sind von einem affektiven „Anti-Israelismus“ geprägt, gespeist auch aus einem „unbewussten Judenhass“ (Micha Brumlik), wobei der Judenstaat und dessen militärisches Vorgehen auf eigene Rechnung gegen Hamas und Hisbollah einseitig unter das Weltkapital und dessen Sicherheitsimperialismus subsumiert werden. Dementsprechend erscheint die islamistische Barbarei gerade gegenüber Israel nicht mehr als andere Seite derselben Medaille des Krisenimperialismus, sondern auf eine geradezu romantisierende Weise als „Widerständigkeit“. In diesem Zusammenhang verblasst die Folie des alten „Antiimperialismus“ und der Nahostkonflikt mutiert zum Stellvertreterkonflikt für eine neo-kleinbürgerliche „Kapitalismuskritik“, von der die Weltkrise des Kapitalismus regressiv verarbeitet wird.

Den Abschluss des Heftes bilden Gerd Bedszents Rezension „GRÜNER MALTHUS“ des früheren Spiegel-Bestsellers „Kollaps. Warum Gesellschaften überleben oder untergehen“ von Jared Diamond sowie Udo Winkels Streifzüge durch die Literatur zu den Themen „NATIONALSOZIALISMUS UND VERNICHTUNGSKRIEG“ und „MARX-DISKURSE IN DER KRISE“.