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EXIT! Krise und Kritik der Warengesellschaft Heft 7, Dezember 2010

Inhalt

Editorial

Jörg Ulrich zum Gedächtnis

Jörg Ulrich

Misslungene Erlösung

Überlegungen zu Walter Benjamins Fragment „Kapitalismus als Religion“

Robert Kurz

Es rettet euch kein Leviathan

Thesen zu einer kritischen Staatstheorie. Erster Teil

1 Der Staat als „letzte Instanz“ und die Verlaufsformen der kapitalistischen Weltkrise • 2 Der staatstheoretische Mangel und die Auseinandersetzung um die radikale Krisentheorie • 3 Kapitalistische Entwicklung und Historizität der Theorie. Das „Erbe“ der affirmativen bürgerlichen Aufklärung in der Modernisierungslinken • 4 Naturrechtliche Vertragstheorie und absolute Staatsgewalt bei Hobbes • 5 Das versachlichte Patriarchat der Moderne und der androzentrische Charakter des Leviathan • 6 Absolutistische „politische Ökonomie“ und Konkurrenzfreiheit der Besitzbürger • 7 Vom theologischen Liberalismus zur transzendentalen Form des „allgemeinen Willens“ bei Rousseau • 8 Der Kantsche „kategorische Imperativ“ und die aufgeklärte Selbstentmündigung • 9 Adam Smith und die „unsichtbare Hand“ der Konkurrenzmaschine als andere Seite des „allgemeinen Willens“ • 10 Der deutsche Staatsidealismus als ideologische Scheinaufhebung der Verdoppelung des „allgemeinen Willens“ • 11 Die angelsächsische, französische und deutsch-“völkische“ Differenzierung des „allgemeinen Willens“ • 12 Der gewaltsame „Naturzustand“ zwischen den Leviathanen und seine Limitierung durch den Weltmarkt • 13 Der Kantsche „ewige Frieden“ als Vision einer meta-staatlichen Institution des repressiven „allgemeinen Willens“ und sein Dementi durch Hegel • 14 Der Kampf der imperialen Leviathane um die nationale Weltmacht des „allgemeinen Willens“ • 15 Zwei Nationen in einer. Das besitzbürgerliche Staatsverständnis als Modernisierungsrückstand • 16 Staatsbürgerlichkeit als verkürzter Emanzipationshorizont und Modernisierungsfunktion der Arbeiterbewegung • 17 Die feministische Wiederholung der verkürzten Emanzipation • 18 Der deutsche Staatsidealismus als „Erbschaft“ der Arbeiterbewegung und die kapitalistische Erweiterung der Staatsfunktionen • 19 Staatskritik beim jungen Marx: Die Widersprüche des transzendentalen „allgemeinen Willens“ • 20 Der doppelte Marx und die doppelte Bestimmung des Politischen • 21 Die klassensoziologische Verkürzung des Staatsbegriffs bei Marx und Engels • 22 Dreißig Jahre später. Die Reproduktion des verkürzten Staatsbegriffs im „Anti-Dühring“ von Engels • Vorschau auf den zweiten Teil

Elmar Flatschart

Mit Gramsci auf Abwegen

Eine kontextualisierte Kritik „gramscianischer“ Marxismen

1. Die Philosophie der Praxis im historischen Kontext • 1.1 Nachholende Modernisierung in Italien • 1.2 Stellungs- oder Bewegungskrieg? • 1.3 Der Cäsarismus – ein „eingebettetes“ Faschismustheorem • 1.4 Zur kontextualisierten Kritik Gramscis • 2 Polit-Ökonomischer Neogramscianismus • 3 „Postfoundationalistische“ Hegemonietheorie • 4 Unheimliche Kontinuitäten

JustIn Monday

Eine innere Angelegenheit

Über den Staat als unreflektierte Voraussetzung ökonomischer Rationalität im 20. Jahrhundert und seine Rolle in der neoliberalen Theorie

Einleitung: Die kollektive Phantasie von der Omnipotenz des Staates • I. Die Widersprüche des Bewusstseins gegen die Krise • II. Die Widersprüche der volkswirtschaftlichen Statistik • III. Liberalismus, autoritärer Staat und Neoliberalismus: Historische Differenzen • IV. „Preisniveau“, „Kaufkraft“, „Sozialprodukt“ und „Konjunktur“ • V. Die Modifikation des Liberalismus durch den autoritären Staat in der Theorie • Gesetz und Ordnung – das erste zentrale Begriffspaar des Neoliberalismus • Freiheit und Wettbewerb – das zweite zentrale Begriffspaar der neoliberalen Theorie • Die Bändigung der Krise in der Konjunkturforschung

Roland Grimm

Eisenbahn und Staat

Die Eisenbahn als staatskapitalistischer Betrieb • Die Verstaatlichung der deutschen Eisenbahnen im Kaiserreich • Die Deutsche Reichsbahn und die Weimarer Republik • Automobilisierung und Eisenbahn im NS-Staat • Die Deutsche Bundesbahn 1945 bis 1990 • Eisenbahn und Autoverkehr in der DDR • Modell Schweiz? • Der Weg in die Privatisierung • Widersprüche der Bahnprivatisierung • Die Krise blockiert den Börsengang • Ausblick

Hanns-Friedrich von Bosse

Mit Ethik gegen die Krise

Roswitha Scholz

Ohne meinen Alltours sag ich nichts

Postmodern(-männliche) Identität zwischen Differenzierungswahn und vulgärmarxistischer Theorie-Versicherung. Eine Replik auf Kritiken der Wert-Abspaltungstheorie

Einleitung • Der Begriff der Wert-Abspaltung • Gleichursprünglichkeit und „autonomes“ Subjekt • Falsche Historisierung und falsche Ontologisierung • Wert-Abspaltung als Totalitätsbegriff • Nichtidentisches und Wert-Abspaltungslogik • Gesellschaftliches Grundprinzip und Differenzen • Die Absenz des Wert-Abspaltungsbegriffs in der feministischen Theorie • Theorie, Empirie und historische Entwicklung • Sex und Gender • Wert-Abspaltung und Zwangsheterosexualität • Wert-Abspaltung und Kritik der politischen Ökonomie • Verschiedene Ebenen der Analyse und positivistisches Denken • Schlussbemerkung: Postmoderner Zeitgeist in der Krise, links-verqueerte Szene und die Haltlosigkeit einer eklektischen Kritik-Mentalität

Udo Winkel

Der Geist geistloser Zustände

Sloterdijk u. Co.: Zum intellektuellen Abstieg der postkritischen deutschen Elitedenker

Udo Winkel

Kurt Lenk zum 80. Geburtstag

Ein etwas anderer Vertreter kritischer Theorie

Udo Winkel

Krise und Theologie des Kapitals

Begrifflichkeiten und Begreifen von Realität – Anmerkungen zu neueren einschlägigen Publikationen

 

EDITORIAL

Die Glückwünsche werden allenthalben und bei jeder Gelegenheit verteilt: Die Krise ist vorbei – und das im 20. Jahr des Wiedervereinigung genannten Anschlusses der ostelbischen Gebiete.

Die Krise des globalen Finanzsystems hatte neben einem kurzzeitigen Erschrecken über die Zuverlässigkeit der eigenen Prognosen eine – freilich befristete – Unsicherheit hervorgerufen, ob denn das naturgegebene und folglich ewige System des Weltkapitals etwa doch von der Krankheit des Historischen befallen sein könnte. Interessanterweise war von dieser leichten geistigen Influenza vor allem das Personal des bürgerlichen Feuilletons befallen – es gibt zumindest in Zeiten offen ausgebrochener Krisenprozesse bei den Stichwortgebern der veröffentlichten Meinung offensichtlich eine unterschwellige Ahnung, dass sie sich auf ihre eigene Apologetik im Ernstfall kaum verlassen können. Zumal in den Chefetagen der Banken und des staatlichen Krisenverwaltungsapparats die Feuerlöscher ausgegeben wurden und reichlich zur Anwendung kamen. Die Bundeskanzlerin garantierte – ohne zu wissen, womit – für die privaten Spareinlagen, wohl wissend, dass die Sparwütigkeit der Deutschen zum sofortigen Crash des ganzen Systems führen würde, wenn der sparende Bürger – getrieben von den Horrormeldungen aus dem internationalen Finanzmarkt – etwa über Nacht die Konten abräumen und sich als neue Adresse seiner Sammelleidenschaft Omas Sparstrumpf aussuchen würde. Und das vor der Pleite stehende Bankensystem wurde per staatlichem Schuldenverschiebebahnhof vorläufig saniert. Das Tempo und die binnenlogische Konsequenz lassen darauf schließen, dass man im Finanzministerium, wenn man auf die Ratschläge der Wirtschaftsweisen verzichtet und einen Taschenrechner mit ausreichenden Vorkommastellen nutzt, zumindest auf der Zirkulationsebene noch halbwegs rechnen kann, wenn auch ohne jeden blassen Schimmer, dass in der Krise des Geldes halt nur die des Wertes aufscheint. Wobei es dem Crash ohnehin gleichgültig ist, ob sein Wesen auf den Begriff gebracht wurde – er findet eben statt.

Darin ist sich der Crash mit den meisten deutschen Linken offensichtlich einig. War deren anfängliche Sprachlosigkeit angesichts des Zusammenbrechens der Finanzmärkte noch der Beweis, dass sie mit allem rechneten, nur nicht mit einem Ernstfall, gingen sie anschließend schnell zur – freilich lange eingeübten – Tagesordnung über. Die Spekulanten wurden namhaft gemacht, die Schuldzuweisungen personifiziert und „der Oskar“ rief auf dem Bundesparteitag der LINKEN in Rostock Keynes zum Wirtschaftsweisen seiner Partei aus: „KFW… Damit ist gemeint Keynesianismus, Finanzmarktregulierung und Wirtschaftsregierung auf europäischer Ebene. Das sind die drei Säulen unserer Wirtschaftspolitik.” – „Lasset, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren!“, kann man da nur noch mit Dante Alighieri hinzufügen. Zumindest jegliches Hoffen, dass in parteiförmigen Strukturen und solidarisch-modernen think tanks ein Wissen um das Wesen des warenproduzierenden Patriarchats und seiner inneren Schranke der Verwertung wachsen und daraus mehr als ein linkspragmatisches Krisenmanagement entstehen könnte. Wo die Fragen einer radikalen Kritik erst gar nicht gestellt oder als randständiges Phänomen abgetan werden, können keine Antworten erwartet werden, die eine Überwindung des Kapitalismus im Blick haben.

„Nun stehen wir ja allerdings am Krankenlager des Kapitalismus nicht nur als Diagnostiker, sondern auch – ja, was soll ich da sagen? – als Arzt, der heilen will?, oder als fröhlicher Erbe, der das Ende nicht erwarten kann und am liebsten mit Gift noch etwas nachhelfen möchte? … Wir sind nämlich … dazu verdammt, sowohl Arzt zu sein, der ernsthaft helfen will, und dennoch das Gefühl aufrecht zu erhalten, dass wir Erben sind, die lieber heute als morgen die ganze Hinterlassenschaft des kapitalistischen Systems in Empfang nehmen wollen … Wenn der Patient röchelt, hungern die Massen draußen. Wenn wir das wissen und eine Medizin kennen, selbst wenn wir nicht überzeugt sind, dass sie den Patienten heilt, aber sein Röcheln wenigstens lindert, so daß die Massen draußen wieder mehr zu essen haben, dann geben wir ihm die Medizin und denken im Augenblick nicht so sehr daran, dass wir doch Erben sind und sein baldiges Ende erwarten.“ Es ist hier nicht der Platz, sich mit dem (R)Evolutionsverständnis und der unkritischen Haltung zur Moderne Fritz Tarnows, das nicht erst und schon in den 30er Jahren breiter Konsens in der SPD war, auseinander zu setzen (auch nicht mit der Geschichte der absichtsvollen Verkürzung seiner Rede auf dem SPD-Parteitag 1931, aus der hier zitiert wird). Wohl aber sind zwei Punkte hervor zu heben: Wo Tarnow noch - subjektiv sicherlich ernst gemeint und redlich – zwischen der taktischen, zeitweiligen Rettung des Patienten und der strategisch angelegten Position des „Erben der ganzen Hinterlassenschaft des kapitalistischen Systems“ unterscheiden und letztere zumindest rhetorisch behaupten will, sind unsere heutigen Linken von solcher Unterscheidung frei. Da der „Hunger der Massen draußen“ zumindest im Lande des Exportwelt- oder -vizeweltmeisters kein Hunger mehr unmittelbar vor den Türen eines Parteitages ist, sondern viel weiter „draußen“ stattfindet, kann man sich getrost auf die Entwicklung von Medikamenten zur Gesundung des Patienten konzentrieren. Das Röcheln des Zimmernachbarn kann auf die Dauer eben auf die Nerven gehen. Und da das Ziehen des Steckers an der Beatmungsmaschine in Deutschland gesetzlich nicht erlaubt ist, muss man an solch verbotenes Tun auch keinen Gedanken verschwenden.

Entgegenhalten ließe sich freilich – da wir einmal beim Zitieren sind – Folgendes:

„Die Klassenkampfpazifisten und -humanitarier, die gewollt oder ungewollt, an der Verlangsamung dieses auch sowieso langwierigen, schmerzlichen und krisenhaften Prozesses arbeiten, wären selber entsetzt, wenn sie einsähen, welche Leiden sie dem Proletariat durch die Verlängerung dieses Anschauungsunterrichts aufbürden.“ Ob Tarnow Lukács kennen konnte oder wollte, sei dahin gestellt – heute darf man wissen, was Lukács schon 1920 wusste.

Es ist angesichts theoretischer Abstinenz aber keine wirkliche Überraschung mehr, wenn die wichtigsten Ingredienzen des immer wieder angepriesenen Medikamentes sind: Staat, Staat und nochmals Staat. Natürlich ein demokratischer. Einer, der „wirklicher Demokratie“, besser noch „absoluter Demokratie“ unterstellt ist. Man könnte annehmen, dass die Staatsgläubigkeit, d.i. die Vorstellung einer „an sich“ neutralen Instanz, die nur „richtig“ agieren müsse, um ein „vernünftiges Funktionieren des Systems“ zu garantieren, vor allem in Zeiten, da die Krise des Betriebssystems die polierte Oberfläche durchbricht, Konjunktur habe. In der Tat neigen „erfolgreiche“ Wertsubjekte dazu, dem Staat, dessen Funktion letztendlich in der Sicherstellung der Rahmenbedingungen der Selbstverwertung des Werts liegt und dem eben im Sinne der Erhaltung dieser Rahmenbedingungen auch eine Umverteilungsfunktion eines Teils des über Steuern abgeschöpften gesamtgesellschaftlichen Mehrwerts obliegt, eine Absage zu erteilen, weil sie die zur Ruhigstellung der aus der Verwertungsmaschinerie Aussortierten notwendigen Kosten als unerwünschte Solidarität missverstehen. Sobald aber die „Erfolgreichen“ prekär werden oder auch nur eine Ahnung davon am Tellerrand des eigenen Bewusstseins auftaucht, wird „der Staat“, am besten „der Sozialstaat“, der eben noch zu teuer (für das eigene Steuerkonto) war, zur letzten Hoffnung. Diese Konjunktur des Staates ist aber nur eine scheinbar kriseninduzierte.

Wie Robert Kurz in dieser Ausgabe von EXIT! im ersten Teil seiner Thesen zu einer kritischen Staatstheorie „ES RETTET EUCH KEIN LEVIATHAN“ herausarbeitet, war der Staat gleichursprüngliche „Gründungsinstanz“ und zugleich Garant einer gesellschaftliche Totalität erlangenden Inwertsetzung aller menschlichen Lebensäußerungen und ihrer natürlichen Voraussetzungen – der ganze zivilisatorische Fortschritt besteht bei Lichte besehen in der Affirmation und Verinnerlichung der Gewalt- und Zwangsfunktionen des Staates zu „Vernunft“ und „bürgerlichen Tugenden“ und einer damit möglich gewordenen „Abrüstung“ (meint: Verfeinerung und Diversifizierung) seiner Zwangsinstrumente. Von Hobbes über Rousseau bis Kant und Hegel (soweit der hier vorliegende erste Teil) steigt das Staatsverständnis von der unverhüllten, weil zur Ingangsetzung des Kapitalismus notwendigen offenen Zwangsgestalt über einen „freien Willen“ der – freilich bürgerlichen – Subjekte in einem „Gesellschaftsvertrag“ zur Affirmation einer ontologischen Notwendigkeit, die sich Freiheit nennt, bis zum Zusichselbst-Kommen eines Weltgeistes auf, der im preußischen Staat (da war der Staatsdiener Hegel ganz bei sich selbst) seine Vollkommenheit findet. Und ganz en passant wird dabei das Historische des Staates, seine kategoriale Gebundenheit an die Wertvergesellschaftung entsorgt, im gleichen Maße, wie letztere selbst quasi naturwüchsig wird und die ontologischen Weihen empfängt. Die kritische Aufarbeitung der geistesgeschichtlichen Synthesis einer scheinbar gesellschaftlich neutralen „Vermittlungs- und Steuerungsinstanz“ stand nicht nur deshalb auf der Tagesordnung, weil statt einer angezeigten kategorialen Kritik, zu der eine Staatskritik zwangsläufig hinzu gehört, in weiten Teilen der Linken der Staat das System retten und – nun wird es unfreiwillig komisch – als Teil des Systems, das er garantiert und von dem er zugleich „lebt“, dessen Transzendierung vorbereiten soll. Den Teufel mit dem Belzebub austreiben, nennt das der Volksmund. Nein, es steht auch deshalb auf der Tagesordnung, weil „der Staat“ unter den gleichen Linken als stillschweigende Voraussetzung einer „nachkapitalistischen“ Gesellschaft angesehen wird. Darin steckt freilich das Eingeständnis, dass man sich auch einen „Nachkapitalismus“ nur auf der Basis abstrakter Arbeit vorstellen kann – wenn man damit aber den Wert wieder ins Recht setzen (oder gleich darin belassen) muss, ist mit dem damit verbundenen Zwang zur Arbeit, die man ja partout nicht kritisieren will, einem freilich „absolut demokratischen“ Staat die Begründung geliefert. Eine feine Aussicht, die man auch einfach stinkreaktionär nennen könnte.

Unbelastet von radikaler kategorialer Kritik, gleichzeitig aber unter dem selbst produzierten Erwartungsdruck nach praktikablen „Handlungsanweisungen“ (um nicht wieder von „Medikamenten“ zu sprechen), die im – ebenfalls unkritisch reflektierten – „politischen Raum“ Erfolge zeitigen sollen, wird der Staat nicht als zu hinterfragendes Problem selbst ins Visier genommen; statt dessen erleben in einer quasi „nachholenden Theoretisierung“ längst gescheiterte Handlungsstrategien eine neue „Begründung“, in denen der Staat, richtig erkannt in seiner relativen Selbstständigkeit, aber diese eben hypostasierend, zum Felde der Auseinandersetzung um eine „gute Gesellschaft“ oder – wie bereits in den „Blättern für deutsche und internationale Politik“ annonciert von Robert Misik – für einen „guten Kapitalismus“ wird. Da sich dabei alle Kombattanten mehr oder weniger ungeprüft und eklektizistisch auf Antonio Gramsci berufen, der mit dem ihm zugeschriebenen Begriff der „Zivilgesellschaft“ und dem Auftrag einer zu erlangenden „politischen Hegemonie“ offensichtlich ein ontologisches Betätigungsfeld für alle Szene-Linken begründet hat (was, um Gramsci gerecht zu werden, schon auf Grund seiner „Schaffensbedingungen“ in faschistischer Haft nicht in seiner Absicht gelegen haben dürfte). Erhellend ist dazu der Artikel „MIT GRAMSCI AUF ABWEGEN“ von Elmar Flatschart, der vor allem die von Gramsci als eigener Anspruch gestellte Entwicklung einer „Philosophie der Praxis“ einer historisch-kritischen Untersuchung unterwirft. Eine solche Herangehensweise erscheint einem kritischen Geist als die gebotene und damit selbstverständliche. Sie ist es keineswegs. So kann Elmar Flatschart Gramsci in seiner historischen Leistung würdigen und zugleich in seiner historischen Begrenztheit kritisieren, während in linken Theoriediskursen Gramsci in eigentlich entwürdigender Weise mit ein paar Handzettelzitaten zum Che Guevara für Intellektuelle gemacht wird. Dass die Anrufungen Gramscis, in der sich Staatstheoretiker wie Poulantzas, aber auch Postoperaisten wie Negri und Hardt gern gefallen, denselben enthistorisieren, indem sie seinen dezidiert nationalen Bezugsraum in heutigen Zeiten der kapitalistischen Globalisierung unter den Tisch fallen lassen, erlaubt den schönen Schein, dass Begriffe wie „politische Hegemonie“ weder an konkrete soziale Bedingungen noch an historische Krisenverläufe gebunden seien. Das „Politische“ wird damit zum ontologischen Raum jeglichen kritischen Engagements – und es ist den Gramsci-Usern ziemlich Wurscht, ob Gramsci noch in Zeiten des Fordismus meinte, Hegemonie in einer national definierten Klassengesellschaft verorten zu können (wobei der schon zitierte Lukács allerdings schon 1920 um die „sozialen Abstufungen“ und „Schichten“ innerhalb des Proletariats wusste, die es einer politischen oder auch kulturellen Hegemonie naturgemäß schwer machen müssen). Wichtig erscheint den Epigonen nur, dass mit „Zivilgesellschaft“ und „Hegemonie“ Aufschriften eines Zielbandes gefunden sind, das am Ende jeden Marathon-Laufes flattern darf, auch wenn das Ziel im Nebel bleibt.

Zu den fast schon vergessenen Siegesmeldungen jüngster Zeit gehört die der „Niederlage des Neoliberalismus“. Die vor allem von Attac geblasene Fanfare übertönt, dass mit dem Erklingen der Siegeshymne, die letztendlich auch nur eine Ästhetisierung des Furzes ist, der dem Platzen jeder Blase zwangsläufig folgt, Attac nichts mehr zu sagen weiß. Angesichts eines Neoliberalismus mit keynesianischen Mitteln – oder je nach Lesart eines Keynesianismus im ordoliberalen Gewande – muss man auch bei Attac darüber befinden, ob man den Versuch einer radikalen Gesellschaftskritik noch einmal wagen oder sich in der Bündelung verschiedener Ein-Punkt-Bewegungen gefallen will. Freilich lag dem von Attac angeführten Kampfe gegen den Neoliberalismus schon immer die Verwechselung des Kampfes gegen eine spezielle Ausprägung des Krisenmanagements gegen das nicht erkannte System selbst zu Grunde. Pikant bis paradox wird das erst an dem Punkte, wo wiederum – herzlich willkommen, wir sahen uns heute noch nicht! – auch von Attac der Staat wiederum als Retter in der Not auserkoren wird. Pikant und paradox deshalb, weil wider alle Bekundungen gerade der Liberalismus und seine Neo-Konsorten immer und konsequent von der Existenz eines absolut wirkenden Staates ausgingen und ausgehen – zumindest, wenn es um den Zwang zur Arbeit geht. Und ohne abstrakte Arbeit funktioniert doch der ganze Laden nicht. Und also nicht ohne Staat. Quod erat demonstrandum.

In seinem Text „EINE INNERE ANGELEGENHEIT“ widerspricht JustIn Monday der weit verbreiteten Annahme, der Neoliberalismus sei Propaganda für einer möglichst staatsfreie ökonomischen Sphäre ohne sozialpolitische Rücksichtnahmen. Statt dessen werden in ihm die staatsfixierten Krisenlösungsphantasien, die während der Finanzkrise schlagartig in den Mittelpunkt der Debatte traten, zum Anlass genommen nachzuweisen, dass der moderne Staat auch bei den sich selbst als liberal bezeichnenden Apologeten des Kapitalismus nicht nur die monopolisierte Gewalt zur Aufrechterhaltung der Verkehrsformen ist. Vielmehr ist er im Verlauf des 20. Jahrhunderts auch eine innere Angelegenheit der Subjekte als auch der fetischistischen ökonomischen Formen selbst geworden. Dieser Sachverhalt wurde in der Geschichte von Neo- und Ordoliberalismus teils offen propagiert – was die linke Neoliberalismuskritik weiträumig umgeht – teils erscheint er als Wiederkehr der verdrängten Voraussetzungen der idealisierten gesellschaftlichen Ordnung in diesen selbst – was die Kritik gar nicht erst wahrnimmt.

Eigentlich müsste es doch mit dem Thema Staat genug sein. Aber in Deutschland gibt – besser: gab – es immer noch eine besondere materielle Inkarnation des Staatsbegriffes und dessen, was deutsche „Normalbürger“ damit verbinden: Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit. Insofern war das Staatsunternehmen „Deutsche Reichsbahn“ nicht nur ein Teil notwendiger Infrastruktur, die sowohl die Mobilität und zeitliche Verfügbarkeit des fixen wie und insbesondere des variablen Kapitals sicherte, sondern eine Art moralischer Anstalt des protestantischen Arbeitsethos, ohne den es keinen modernen Kapitalismus gäbe. „Nach der Bahn kannst du deine Uhr stellen“, war – vor langer Zeit – nicht nur eine Tatsache, sondern auch eine Feststellung: Dann kannst auch du pünktlich an deinem Arbeitsplatz sein! Wer nun beklagt, dass die neue, fast schon einmal privatisierte Bahn, diesem Anspruch nicht mehr gerecht werden kann, übersieht, dass im verkündeten, wenn auch noch nicht vollzogenen Verzicht auf diese staatliche Infrastrukturfunktion eine – vom Widerspruch zwischen steigender Staatsquote und sinkender Wertproduktion getriebene – spezifische Erscheinung der zwar angebeteten, aber selbst in die Krise geratenen Staatsform zu verorten ist. Pünktlichkeit wird nur noch den Managern und Flexi-Existenzen abgenötigt, die im ICE von einem Verwertungsort zum anderen pendeln müssen – der „Rest“ der Gesellschaft ist entweder stationär in die Verwertungsmaschinerie eingebunden oder aussortiert – und da muss man ja nicht auch noch reisen.

Der Artikel „EISENBAHN UND STAAT“ von Roland Grimm verfolgt die Entwicklung der Eisenbahn in Deutschland von der Verstaatlichung im Kaiserreich bis zur angestrebten Privatisierung. Nachdem sich ein privatkapitalistischer Betrieb als schlicht nicht praktikabel herausgestellt hatte, wurde die Bahn in ein staatskapitalistisches Monopol überführt. Als solches wurde sie einerseits dazu verpflichtet, rentabel zu arbeiten, andererseits aber auch als Teil der staatlichen Infrastruktur Aufgaben zu erfüllen, die aber deswegen nicht profitabel sein können. So waren es auch insbesondere militärstrategische Zielsetzungen, die zur Verstaatlichung der Bahn im Deutschen Reich geführt hatten. Während die Eisenbahn zunächst als industrielles Fortbewegungsmittel konkurrenzlos dastand, wurde seit der Weltwirtschaftskrise Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts der Autoverkehr gezielt vom Staat gefördert. An diesem Kurs wird, allen sozialen Problemen und ökologischen Schäden zum Trotz, unbeirrt festgehalten – wie die jüngsten Konjunkturprogramme zeigen.

Kein Sarrazin, kein Sarkozy, kein Sloterdijk in diesem Editorial? Nicht einmal die 5,00 € Zuschlag für alle Hartz-IV-Empfänger? Zum Letzeren darf ich noch einmal zitieren: „Auf dem Höhepunkt der Aufregung um Sarrazin hat das Bundeskabinett – darunter dessen Kritiker – dieser Menschengruppe (in der Migranten andererseits immer noch eine Minderheit darstellen) das Elterngeld, die Einzahlung in die Rentenversicherung, die Heizkostenbeihilfe und den Zuschuss beim Übergang von ALG I zu ALG II gestrichen. In der Hauptsache blieb man sich mit Sarrazin einig. Das Spektakel diente unter anderem der Ablenkung“. Das stammt zwar von Georg Fülberth und stand auch noch in der jüngsten Ausgabe von KONKRET, aber ich könnte (und wöllte) dem nicht widersprechen, denn die Heuchelei der staatlichen Krisenverwalter hat Methode. Allerdings hat die causa Sarrazin noch andere, weit beunruhigendere Aspekte. Der rasante Aufstieg der Ergüsse Sarrazins zum Bestseller und das wohlige Aufstöhnen der Biertischrunden und ihrer medialen Anstifter, nun endlich über einen honorigen Tabu-Brecher zu verfügen, macht nur zu deutlich, wie im krisenhaften Verfall der Wertform der dünne zivilisatorische Lack der „Zivilgesellschaft“ abblättert und die Konkurrenzsubjekte bereit sind, auf den nächst Schwächeren drauf zu schlagen; nunmehr auch ganz ungeniert assistiert und befeuert durch die sich nicht länger zierende Politik, die damit Fremdenfeindlichkeit als durch Sarrazin geadelten Begründungszusammenhang ihrer sozialen Streichorgien verfügbar machen kann.

Es kann nicht überraschen, wie schnell die politischen Eliten ihrer Krisenverwaltung nun auch eine erweiterte ideologische Basis geben – nur scheinbar geben sie erst im Nachgang der erzürnten Volksseele nach. Der Diskurs zur gesellschaftlichen Lastenverteilung der Systemkrise hat im großbürgerlichen Feuilleton und in den staatstragenden philosophischen Quartetten ausgeprägte Vorläufer. In der sogenannten Sloterdijk-Debatte wird deutlich, dass die Konservativen wieder einmal das realistischere Selbstbild haben als alle romantischen Sozialstaatsjünger. Sloterdijk liefert nur das postmoderne Vokabular für den systemimmanenten Sozialdarwinismus. Genauer hat sich die Debatte Udo Winkel angeschaut und in seinem Text „DER GEIST GEISTLOSER ZUSTÄNDE“ kommentiert.

Wie sich die angeblich überwundene Krise jetzt unerkannt in anderer Gestalt Bahn bricht, kann jeder im Lokalteil seiner Zeitung nachlesen, nämlich als Schließung von Theatern, Museen, Jugendbegegnungsstätten, Schwimmbädern usw. usf. Wie die ethisch begründete Empörung über solche Zustände funktioniert und welcher antiemanzipatorische Kern sich in der Moralisierung objektiver Krisenphänomene verbirgt, kann man im Text „MIT ETHIK GEGEN DIE KRISE“ von Hanns-Friedrich von Bosse lesen.

Aufgespart habe ich mir den Verweis auf den Text „OHNE MEINEN ALLTOURS SAG ICH NICHTS“ von Roswitha Scholz, eine Replik auf Kritiken der Wert-Abspaltungstheorie. Nicht, weil ich das Abspaltungs-Theorem sowieso als nachbehandelbares Thema sähe. Sondern aus anderem Grunde: Erstens liefert Roswitha Scholz in Auseinandersetzung mit ihren Kritikern eine gedrängte, nichts desto trotz sehr eingängige Zusammenfassung der Wert-Abspaltung selbst. Wem das banal erscheint, prüfe seinen eigenen Theorieansatz auf eine ursprüngliche und nicht nachträglich implementierte Einbindung der geschlechtlichen Konstitution der warenproduzierenden Moderne. Im Übrigen wäre ich hier apodiktischer als Roswitha Scholz: Nur so lange ich W = c + v + m in ihrer – auf dieser Ebene unvermeidlichen – Abstraktion belasse, lässt sich ein geschlechtsneutraler Wertbegriff daraus ableiten. Sobald ich v nach seinem Wesen befrage – nämlich Wertausdruck des Reproduktionsaufwandes der Arbeitskraft zu sein – ist es mit der Geschlechtsneutralität von W vorbei. Denn die Größe von v konstituiert sich nur in erster Linie nach den quantifizierbaren, also in Geld ausdrückbaren Reproduktionskosten der Arbeitskraft. In die von Marx schon hervorgehobenen historisch und kulturell bedingten Momente, die die Größe von v bestimmen, sind aber alle Momente der jeweils historische bedingten Form der Abspaltung schon eingebunden. Da gibt es also nichts, was man erst einmal – um der Abstraktion willen – „beiseite“ lassen könnte, um es dann im Nachhinein in das ganze Gedankengebäude einzufügen – die geschlechtliche Definition steckt auch hier schon im Begriff.

Viel wichtiger ist mir aber in Roswitha Scholz Text ihr erkenntnistheoretischer Ansatz, der die Wert-Abspaltungskritik zwischen Selbstbehauptung und selbstkritischer Zurücknahme verortet wissen will und uns daraus ein – an Adorno angelehntes – „konstellatives Denken“ abverlangt, das mit einem positivistischen, androzentrischen Theorieverständnis nichts gemein haben kann. Während an diesem Punkt MANN vor allem etwas zu lernen hat, bleibt zu hoffen, dass der Appell von Roswitha Scholz an andere kritische Wissenschaften, sich in eine Konstellation einer radikal-kritischen Gesellschaftsanalyse einzubringen, nicht ungehört verhallt.

Und was ist nun mit dem „Ende der Krise“? Die eigenen Statistiken strafen die Jubilare Lügen. Die großen Erfolge bestehen darin, dass – mit Mühen – die Produktionsstände von 2007 wieder erreicht werden. Wer freilich nur vom „Wachstum“ lebt, mag sich bis zum nächsten Crash um die reale Wertsubstanz nicht kümmern. Das hatte man bisher – mangels Begriff – ja auch nicht getan. So dümpelt diese Gesellschaft dem nächsten Absturz entgegen, der diesmal wohl gleich – und das wäre konsequent – auf staatlicher Ebene angesiedelt sein dürfte. Zwischendurch – und damit wäre ich beim Anfang – durften sich die Eliten noch bei Rotkäppchen Brut und Kaviar, pardon, bei Thüringer Rostbratwurst mit Blattgold (so angeboten in Berlin) eine Heim-Ins-Reich-Feier leisten. Aber das ist eine unvermeidbare und längere Geschichte für EXIT! 8.

Das vorliegende Heft schließt mit zwei weiteren Kommentaren von Udo Winkel: „KURT LENK ZUM 80. GEBURTSTAG“ und „KRISE UND THEOLOGIE DES KAPITALS“.