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EXIT! Krise und Kritik der Warengesellschaft

Heft 13, Januar 2016

Inhalt

Editorial 

Zur Erinnerung an Udo Winkel

Offener Brief an die InteressentInnen von EXIT! 

Daniel Cunha:
Das Anthropozän als Fetischismus
Übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Thomas Meyer

Roswitha Scholz
Christoph Kolumbus forever?
Zur Kritik heutiger Landnahme-Theorien vor dem Hintergrund des „Kollaps der Modernisierung“

  1. Einleitung: „Landnahme“ – eine gängige Erklärung der heutigen Krise
  2. Robert Kurz: Prozessierender Widerspruch und Zerfall des Kapitalismus
    1. Grundannahmen
    2. Globalisierung
  3. Klaus Dörre: Die neue Landnahme
    1. Grundannahmen
    2. Globalisierung
  4. Silvia Federici: Ursprüngliche Akkumulation, Reproduktion und Globalisierung
    1. Grundannahmen
    2. Frauen, Reproduktion und Globalisierung
    3. Globalisierung, (Re-)Kolonialisierung und Reproduktion
    4. Die allumfassende Landnahme als Grundprinzip bis heute?
  5. Zwischenresümee
  6. Wert-Abspaltungs-Kritik, Rasse, Klasse, Geschlecht, Globalisierung und der Zerfall des kapitalistischen Patriarchats
    1. Grundannahmen
    2. Kolonialisierung , (Re-)Kolonialisierung, Globalisierung?
    3. Nationale und internationale Krisenverwaltung, das Obsolet-Werden der abstrakten Arbeit, Zerfall der Peripherie und Weltbürgerkrieg
    4. Zum Verhältnis von Wert-Abspaltungs-Kritik, „Rasse“, „Klasse“, Geschlecht, Globalisierung und Landnahme-Theorien
  7. Landnahme-Theorien und Transformationsperspektiven

Gerd Bedszent
Nigeria – vom Ölparadies zum zerbrechenden Staat

  • Instabiler Staat
  • Biafra – ein vergessener Krieg
  • Gescheiterte Modernisierung
  • Siegeszug der Schattenökonomie
  • Von der Ölpest zum Ethno-Gemetzel
  • Fundamentalismus als Krisenreaktion
  • Hassprediger und Banditen
  • Asymmetrischer Krieg
  • Plünderungsökonomie als Teilhabe am Weltmarkt

Robert Kurz
Ausgrenzungsimperialismus und Ausnahmezustand

  1. Vorbemerkung
  2. Die imperiale Apartheid
    1. Eine Welt voller Flüchtlinge
    2. Ausgrenzungsimperialismus: Mauer und Todesstreifen nach freiheitlicher Art
  3. Der globale Ausnahmezustand
    1. Die Logik des Ausnahmezustands
    2. Zur Geschichte des Ausnahmezustands
    3. Der permanente Ausnahmezustand
    4. Das nackte Leben und der gebrochene Wille: Der Ausnahmezustand als verborgener Nomos der Moderne
    5. Die Schreckenshäuser der Betriebswirtschaft: Kapitalismus als geronnener Ausnahmezustand
    6. Die Verflüssigung des Ausnahmezustands als Verflüssigung der Souveränität
    7. Ausbürgernde Einbürgerung und Elendsbürgerlichkeit
    8. Juden und andere „Überflüssige“: die Struktur der einschließenden Ausschließung

Richard Aabromeit
Wert ohne Krise – Krise ohne Wert?
Zur Absenz einer Krisentheorie bei Moishe Postone

  • Die Dialektik von Transformation und Rekonstitution
  • Der schillernde Arbeitsbegriff – und derjenige des Wertes
  • Theorie ohne Empirie?
  • Die alte Crux mit der Wertsubstanz…
  • Fazit

Gerd Bedszent
Planet der Überflüssigen
Zu Mike Davis: Planet der Slums

Richard Aabromeit
Zu Wolfgang Fritz Haug: Das „Kapital“ lesen – aber wie? Materialien

Editorial

„Goldene Zeiten für KrisentheoretikerInnen sind das!“, möchte man meinen, wenn man denn etwas davon hätte, über theoretische Mittel zur Beurteilung der gesellschaftlichen Lage zu verfügen oder gar „es vorher gewusst“ zu haben. Doch letztlich steht man der Gewalt der Verfallsverhältnisse natürlich ähnlich hilflos gegenüber wie alle anderen auch. Die analytische Kraft einer kritischen Theorie der Gesellschaft und die ihr immer schon zugrunde liegende unversöhnliche Absicht zur Umwälzung derselben kann aber vielleicht doch helfen, einen im besten Sinne „realistischen“ Blick auf die Verwerfungen der Gegenwart zu bewahren, einen Blick nämlich, der nicht vom pathischen Ausagieren der zurecht empfundenen Bedrohungs- und Zwangslagen oder den Illusionen verkürzter Bewältigungsstrategien bestimmt ist.

Seit dem Beginn der Hypotheken- und Finanzmarktkrise 2007 ist der Bestand des kapitalistischen Reichtums offenkundig gefährdet, womit der bereits Jahrzehnte währende Prozess seiner Entsubstanzialisierung in aller Deutlichkeit in Erscheinung getreten ist. Die Staaten, so lang sie denn konnten, griffen mehr als üblich und getrieben von nackter Panik ins Marktgeschehen ein, um den schlagartig auftretenden Entwertungsdruck von den eigenen nationalen Kapitalien zu nehmen und auf deren Konkurrenten umzuleiten. Neben den Bankenrettungen zählten in der Bundesrepublik Maßnahmen wie die ausgeweitete Kurzzeitarbeit und die „Abwrackprämie“ zu den Interventionen der Krisenpolitik. Die „faulen Kredite“, in denen der bloß virtuelle Charakter der Akkumulation der vorangegangenen Jahrzehnte in Erscheinung trat, verlagerten sich auf diese Weise in die Staatshaushalte und die Krisenkonkurrenz erwies sich selbst für deren Sieger zumindest in der Europäischen Union als Bumerang. Denn der Entwertungsdruck ließ sich nicht einfach anderswo, an fremdem Kapital vollstrecken, weil dieses durch die erfolgreiche Konkurrenz zu eigenem geworden war (vgl. JustIn Monday in Konkret 4/2015). In Folge der allseitigen, jeden nationalökonomischen Raum übergreifenden, Verflechtungen und Abhängigkeiten der Kapitalien untereinander und der Bedeutung, die Staatsanleihen als Anlagemöglichkeit für überschüssiges Geldkapital seit geraumer Zeit zukommt, mussten im Euro-Währungsraum nun Staatshaushalte „gerettet“ werden wie vorher Banken. Die Staatsschuldenberge in der europäischen Peripherie sind nur die Kehrseite der nun einmal defizitär erzeugten Profite im Zentrum. Der Zwang, sie zu bedienen, steht im offenen Widerspruch zu der schieren Unmöglichkeit, das auch zu tun. Eine dafür erforderliche selbsttragende, nicht kreditgetriebene Akkumulation ist auf dem Stand der Produktivität nicht mehr möglich. Ein Schuldenschnitt hingegen würde den defizitär akkumulierten Reichtum entwerten und die Krise verschärfen.

Die unbarmherzig-kompromisslose Position der deutschen Verhandlungsführer in der letzten „Griechenland-Rettungs-Runde“ im Sommer 2015 war ein Versuch, mit dieser Situation umzugehen, ohne ihre Ausweglosigkeit einsehen zu müssen. Dass ökonomische Argumente gegen die erzwungene Sparpolitik keine Chance hatten, auch bloß zur Kenntnis genommen zu werden, wie Varoufakis nach der Aufgabe seines Ministeramts berichtete, ist nicht allein dem besonders miesen Charakter eines Wolfgang Schäuble geschuldet, sondern eher Anzeichen von Realitätsverleugnung auf deutscher Seite (vgl. wiederum JustIn Monday). Diese jedoch ist, paradox formuliert, in der gegenwärtigen ökonomischen Situation mit ihren Widersprüchen und Aporien auch durchaus realitätsgerecht, solang man verbissen an den Formen der gesellschaftlichen Reproduktion festhalten möchte (was PolitikerInnen schon qua Charaktermaske tun müssen). Es war der Bundesrepublik als dem Sieger innerhalb der europäischen Krisenkonkurrenz zwar bislang möglich, die schlimmsten Folgen der Krise von sich abzuhalten, aber eben nicht, die Akkumulationsbedingungen des eigenen wie auch (als Voraussetzung davon) des gesellschaftlichen Gesamt-, d. h. Weltkapitals wiederherzustellen und dauerhaft zu sichern. Aus der selbstgerechten Überzeugung, doch alles richtig gemacht zu haben und immer fleißig gewesen zu sein, entsprang der für die Bedingungen des eigenen Erfolgs notwendig blinde deutsche Versuch, „den Griechen“ jene eiserne Disziplin aufzuzwingen, welche die deutsche Öffentlichkeit wiederum als Grundlage ihrer eigenen ökonomischen Stellung phantasiert. Man kann jedoch nicht Schulden abbauen und gleichzeitig von einem Defizitkreislauf profitieren wollen. Nicht jedenfalls, ohne noch die einfachste Logik außer Kraft zu setzen.

Doch all das ist lange her, wie es scheint. An die Stelle des regelmäßig von neuem abzuwendenden Kollaps des Weltkapitals ist im öffentlichen Bewusstsein der Deutschen seit Herbst 2015 einstweilen die genauso unvermittelt und daher als plötzlich über uns hereinbrechend wahrgenommene „Flüchtlingskrise“ getreten. Deren schlechte „Bewältigung“ weist eine gewisse Ähnlichkeit mit der Behandlung der europäischen Staatsschuldenkrise auf. Wie alle Staaten den Entwertungsdruck auf die schwächsten Glieder des ökonomischen Zusammenhangs zu externalisieren suchten, so sind sie auch bemüht, die Surplus-Bevölkerung, das bereits entwertete variable Kapital, an ihre Nachbarn weiterzureichen. Es ist jedoch in Folge der Weltwirtschaftskrise die Verkehrung eingetreten, dass mit der faktischen Aufkündigung der Dublin-Verträge, auf deren Grundlage gerade die Bundesrepublik zuvor Flüchtlinge von sich fern und in den Ländern der EU-Außengrenze gehalten hatte, diese nun in großer Zahl ins Zentrum Europas strömen. Verständlicherweise versuchen sie ihr Glück lieber dort, wo die Verwertungsbedingungen und somit die Arbeits- und Lebensverhältnisse (noch) am besten sind.

Als Krise wird der Umfang der globalen Fluchtbewegungen hierzulande nicht deswegen bezeichnet, weil es sich um eine Katastrophe für jede und jeden einzelnen der Flüchtenden handelt oder weil ein Zusammenhang zur kategorialen Krise der Fetischgesellschaft hergestellt werden würde, sondern weil nun schätzungsweise über eine Million der Schutzsuchenden (und damit nur ein Bruchteil der tatsächlich Betroffenen) die deutschen Grenzen überschreiten. Neben den Staatsgrenzen sind damit die viel beklagten „Grenzen der Belastbarkeit“ gemeint. Sie sind bei vielen Deutschen schon erreicht, wenn als fremd wahrgenommene Menschen in ihrem Wohnumfeld auftauchen und daher ganz offensichtlich die „Islamisierung“ droht. Der rassistische Reflex scheint zwar auf den ersten Blick nicht in derselben Weise virulent zu sein wie Anfang der 1990er Jahre. Im Gegenteil, wurden die ankommenden Flüchtlinge nicht mit Jubel und Sachspenden auf deutschen Bahnhöfen willkommen geheißen? Das wurden sie und doch drängte sich schnell der mittlerweile erhärtete Verdacht auf, es handle sich um eine Verschiebungsleistung der „Willkommenskulturschaffenden“, die darin besteht, das doch irgendwie schlechte Gewissen in Bezug auf die Quellen des eigenen prekären Wohlstands und der damit verbunden Lebenschancen mit philanthropischem Aktionismus zu beruhigen, um keinen echten Gedanken an den Zustand der Welt verschwenden zu müssen. Die wohlfeile Geste des Willkommenheißens und das oft wenig koordinierte Abtreten alten Zeugs an Asylsuchende ging nicht mit gesellschaftskritischer Reflexion oder nennenswertem politischen Engagement einher, das konsequenterweise gegen all jene zeitgleich auf einem „Flüchtlingsgipfel“ nach dem anderen im Bund wie in der EU beschlossenen Asylrechtsverschärfungen zu richten gewesen wäre.

Auch wenn die moralische Entrüstung immer wieder groß ist, wenn ein paar Dutzend oder Hundert auf einmal sterben (oder auch ein einzelnes Kind), ob im Mittelmeer oder in den LKWs der „Schlepper“: Solang keine legalen Einreisemöglichkeiten geschaffen werden, sondern der Todesstreifen an den EU-Grenzen beständig ausgedehnt wird, muss unterstellt werden, dass die Bevölkerungsmehrheit in Deutschland und Europa insgeheim froh ist über jeden und jede, der oder die es nicht in die EU schafft und mit seiner oder ihrer bloßen Anwesenheit daran erinnert, wie leicht es in dieser Gesellschaft, zumal in deren Krise, letztlich ist, auf die schutz- und buchstäblich wertlose leibliche Existenz des „nackten Lebens“ zurückgeworfen zu werden.

Mit der „Willkommenskultur“ des Sommers 2015, die ohnehin schon von Brandanschlägen auf meist noch unbewohnte Asylbewerberunterkünfte und dem Aufstieg von AfD und „Pegida“ überschattet wurde (ohne dass jemand eine „Rassismus-“ oder „Nazikrise“ verkündet hätte), hat die Bundesrepublik eine außenpolitische Imagekampagne gefahren, die nach den Griechenland-Verhandlungen auch dringend nötig war. Doch das letzte Wort der Flüchtlingspolitik heißt auch hier: draußen halten, einsperren, abschieben. Den vorläufigen Gipfel dieser Bemühungen stellen die von der CSU ins Spiel gebrachten „Transitzonen“ an den Bundesgrenzen dar, in denen „offensichtlich unbegründete“ Asylgesuche, wie es hieß, sofort abgelehnt werden sollen. Auch hier glänzt die deutsche Politik durch unbestechliche Logik, läuft die Forderung doch auf das offen artikulierte Vorhaben hinaus, Asylanträge zu „prüfen“, bevor sie gestellt werden können oder wohl eher abzulehnen, ehe sie geprüft worden sind. Obendrein sind es dieselben PolitikerInnen, die beständig den Überwachungsstaat ausbauen mit der Begründung, das Internet dürfe „kein rechtsfreier Raum“ sein, die nun rechtsfreie Räume für Flüchtlinge schaffen und damit noch einmal die Logik des Ausnahmezustands bestätigen, in welchen der moderne Staat in der Krise von selbst überzugehen droht und dem die zur Flucht gezwungenen Überflüssigen in aller Welt schon immer ausgesetzt sind (auch die Hartz-Gesetze hierzulande tragen schon Züge einer „legalisierten Entrechtung“ der Betroffenen, wie man es vielleicht nennen könnte).

Vorgeführt wird damit wieder nur, was potenziell allen droht, wenn der gesellschaftliche Zerfallsprozess nicht emanzipatorisch gewendet wird. Ging es in der Politik während der Aufstiegsgeschichte des warenproduzierenden Patriarchats zeitweilig noch darum, Reichtum und Rechte an bislang benachteiligte Gruppen zu verteilen, kann es heute in der Form des Politischen nur noch den (im besten Fall „demokratisch“ geführten) Streit darum geben, wer im Vollzug der historischen Tendenz als nächstes entrechtet und enteignet wird. Je weniger den Verhältnissen scheinbar mit theoretischen Mitteln beizukommen ist, desto dringlicher ist doch eine kategoriale Kritik an ihnen, möchte man sich nicht letztlich affirmativ an diesem Streit beteiligen, wie es Teile der Linke allenthalben tun. In dem Maße, wie die Verfalls- und Verwilderungsformen kapitalistisch-patriarchaler Vergesellschaftung immer unübersichtlicher werden, muss Gesellschaftskritik zwar vielschichtig sein und etwa auch die „subjektive Seite“, die ideologische Verarbeitung der Krisenprozesse beleuchten. Aber erst recht muss sie, schon allein als Voraussetzung dafür, den Begriff jener gebrochenen Totalität entfalten, die kraft ihrer eigenen destruktiven Dynamik zugrunde geht. Einen kleinen Beitrag dazu möchten unter dem Schwerpunkt „Landnahme und Ausgrenzungsterror“ die Beiträge dieses Hefts leisten.

(Abstracts siehe hier)