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Portuguese translation: CAPACIDADE DE ACÇÃO – E EM CONCRETO!

Handlungsmacht – und das konkret!

Offener Brief an die InteressentInnen von EXIT! zum Jahreswechsel 2017/18

Es dürfte kein Zufall sein, dass sich die Schwierigkeiten der Regierungsbildung nach der Bundestagswahl am Umgang mit den zentralen sozialen und ökologischen Fragen von Flucht und Klima zeigen. Hier werden die Grenzen eines Regierungshandelns deutlich, das die sozialen und ökologischen Zerstörungsprozesse vom Zerfall von Staaten bis hin zur Zerstörung der Lebensgrundlage mit Mitteln aus der Zauberkiste kapitalistischer Immanenz bewältigen will: mal mehr Markt, dann mal wieder mehr Staat und das in einem immer schnelleren Wechselspiel oder, wenn es sein muss, auch in einem Mix aus beidem. Und in dem ganzen Verwirrspiel soll auch noch Gesicht bzw. Profil gezeigt werden.

Auf die besorgte Nachfrage eines Fernseh-Moderators, ob denn angesichts des uneindeutigen Wahlergebnisses wie in anderen europäischen Ländern nun auch in Deutschland mit politischer Instabilität zu rechnen sei, antwortete einer der Branchen üblichen akademischen Experten: „Auch Deutschland ist jetzt in Europa angekommen.“ Recht hat er, der Herr Professor, weil die politischen Instabilitäten sich auch von Deutschland immer weniger fernhalten lassen. Dass er dennoch nichts begriffen hat, zeigt sich darin, dass er den Krisenzustand als europäische Gleichheit in der Normalität verklärt.

Deutschland war es gelungen, sich auf der Grundlage des rot-grünen Vorzeigeprojekts der Hartz-IV-Reformen und der Deregulierung des Arbeitsmarktes mit dem Ergebnis massenhafter prekärer Beschäftigungsverhältnisse einen Exportvorteil in der Konkurrenz der Krisenländer zu verschaffen. So konnte sich Deutschland als „Auenland“ gerieren - inmitten eines Globus, in dem immer mehr Regionen zum „Grauenland“ werden1. Auch wenn die offiziellen Arbeitslosenzahlen ein Rekordtief erreicht haben und diese Entwicklung als Ausdruck einer „robusten Konjunktur“ gefeiert wird – prekäre Beschäftigungsverhältnisse, wachsende Armut und soziale Unsicherheit für alle „Unrentablen“ werden „positiv“ weg gedacht – zeigt sich spätestens angesichts von Flucht und Migration ebenso wie an den sich zuspitzenden ökologischen Problemlagen, dass eine „robuste Konjunktur“ keine Lösung, sondern Teil des Problems ist. Wachstum durch „robuste Konjunktur“, das gegenüber der logischen und historischen Schranke der Kapitalverwertung ignoranten „Experten“ als Königsweg politischer Stabilität erscheinen mag, wäre mit einem noch größeren Verbrauch an Ressourcen und Emissionen von Schadstoffen verbunden – und das angesichts ökologischer Grenzen der Belastung, die jetzt schon erreicht sind und ihrerseits soziale Verwerfungen produzieren, die Menschen in Flucht und Migration treiben.

Man/frau könnten sich amüsiert zurück lehnen angesichts der rund um die Regierung aufgeführten deutschen Rettungsspiele, in denen mal Deutschland, mal die eigene Partei, mal die eigene politische Haut gerettet werden soll, wenn einem/einer angesichts der sich dramatisch verschärfenden Probleme das Lachen nicht im Hals stecken bliebe. Unter dem Titel „Neben uns die Sintflut“2 hat der Soziologe Stephan Lessenich in Erinnerung gerufen, dass der Einverleibung durch kapitalistische In-Wert-Setzung als Grundlage des Wachstums die Auslagerung, die Externalisierung der sozialen und ökologischen Folgen entspricht. Das gilt nicht zuletzt für die koloniale Durchsetzungsgeschichte des Kapitalismus und die mit ihm geschaffenen Externalisierungsstrukturen, die sich auch heute noch auswirken. Lessenich irrt jedoch, wenn er meint, die kapitalistische Expansionslogik sei noch ausbaufähig. Im Gegenteil, die In-Wert-Setzung ist durch Entwertung abgelöst. Aus dem Erweiterungsimperialismus ist ein Krisenimperialismus geworden, der sich nicht in Gestalt einverleibender Eroberung, sondern als Ausgrenzungsimperialismus zeigt3. Vor diesem Hintergrund gewinnt Lessenichs Rede von der Externalisierung erst ihre Dramatik. Zum einen schlagen die zunächst einmal ausgelagerten Folgelasten immer schärfer als sog. Flüchtlings- und Umweltkrisen, als Terroranschläge und Amokläufe von der – wie es in der Dependenztheorie hieß – Peripherie in die Zentren zurück. Davor schützen weder Grenzen noch Militär. Zudem werden Krisenerscheinungen im Innern der sog. Zentren sichtbar in Gestalt wachsender sozialer Spaltungsprozesse verbunden mit der Ausgrenzung der „Unrentablen“, die zugleich unter Kontrolle gehalten werden müssen, sowie den allgegenwärtigen Finanzierungskrisen von maroden Infrastrukturen bis hin zur Krise der vielen noch vertrauten Systeme sozialer Sicherheit. „Neben uns die Sintflut“ gilt nicht nur im Blick auf die Zerstörungs- und Barbarisierungsprozesse, die sich in besonderer Schärfe in den sog. Peripherien abspielen, sondern auch für die Zerfallsprozesse, die innerhalb der sog. Zentren stattfinden und sich nicht an die sog. Peripherie externalisieren lassen.

Um so erstaunlicher will es erscheinen, dass bereits das Wissen um Phänomene der Externalisierung bzw. der sich zuspitzenden Krisenprozesse abgewehrt wird, so dass der Eindruck entsteht, beim Wissen darum handle es sich um ein „Geheimwissen“ von marxistischen Gruppen, entwicklungspolitischen Organisationen und Papst Franziskus“4. Aber auch diejenigen, die scheinbar über den Zugang zu solchem „Geheimwissen“ verfügen, verharren unerschütterlich in der kapitalistischen Immanenz: Linke bleiben dem Klassenkampf und mit ihm der Umverteilung von Geld und Macht treu. Entwicklungspolitische Organisationen wie medico international wollen gegen Angstdiskurs und Ohnmacht nicht „im Wegsehen vom schlechten Bestehenden“, aber mitten in der „wirklichen Bewegung“ (Karl Marx), welche „den jetzigen Zustand aufhebt“, Handlungsmacht zurück gewinnen. Die „wirkliche Bewegung“ ist schnell identifiziert in praktischer Solidarität mit den Geflüchteten, selbstorganisierten Solidarkliniken, Nachbarschaftsnetzwerken begleitet von „alltäglichen Veränderungen der zwischenmenschlichen Beziehungen wie der sie tragenden ethisch moralischen Einstellungen“5. Papst Franziskus kritisiert zwar den „Fetischismus des Geldes“ und die „Diktatur einer Wirtschaft ohne Gesicht und ohne menschliches Ziel“6, sucht aber, weil auch seine Kapitalismuskritik über die Ebene der Zirkulation nicht hinaus kommt, einen Ausweg in einer Ethik, nach der Geld dienen muss statt zu regieren, und Wirtschaft und Finanzleben zurückkehren „zu einer Ethik zugunsten des Menschen“7. So jedenfalls, im Verharren in der kapitalistischen Immanenz, lässt sich der „jetzige Zustand“ nicht aufheben.

Angesichts der gesellschaftlichen Krisen- und Katastrophenerfahrungen läge es nahe, die Grenzen kapitalistischer Vergesellschaftung kritisch zu reflektieren, die mit dem prozessierenden Widerspruch des Kapitals als logischer Schranke gesetzt sind und nun auch auf ihre historischen Schranken stoßen. Davor aber schrecken selbst diejenigen zurück, von denen die Phänomene der globalen Katastrophen wahrgenommen werden, und so flüchten sie sich - je nach Bedarf - in Konkretes oder in Allgemeines als schlechtem Abstraktem. Mal sind es konkrete Projekte oder konkrete wirtschaftliche und politische HandlungsträgerInnen als Adressaten von Forderungen, mal sind es allgemeine ethisch-moralische Appelle oder abstrakte Visionen, die Orientierung versprechen. Um jeden Preis vermieden werden soll offensichtlich jedoch die Frage, wie denn die einzelnen Erscheinungen von der Flucht von Menschen über die permanente Verschlechterung der Arbeits- und sozialen Rahmenbedingungen bis hin zu ökologischen Krisenerscheinungen, die uns „im schlechten Bestehenden“ begegnen, mit der Totalität der aufzuhebenden gesellschaftlichen Verhältnisse zu tun haben. Weil diese Frage aus Angst vor lähmender politischer Ohnmacht ignoriert wird, soll das Heil in einem Handeln gesucht werden, das zwischen Projekten, 'Fürbitten' an wirtschaftliche und politische Akteure und ethisch-moralischen Appellen, also Moralpredigten, zwischen „konkret“ und „allgemein“ hin und her springt. Es ist Ausdruck dafür, dass im Rahmen der fortschreitenden Krise immer weniger möglich ist.

Hier zeigt sich, was Robert Kurz bereits zu Beginn des neuen Jahrtausends als „reflexionslose Gesellschaft“ diagnostiziert hatte: „Der reale gesellschaftliche Widerspruch, der in der bisherigen Weise nicht mehr bewältigbar ist, soll einfach aus dem Denken verbannt werden. Das dunkle Ende der modernen Entwicklung wird absurderweise gefeiert als Übergang zu einem „illusionslosen Pragmatismus“. Zusammen mit der Gesellschaftskritik hört das reflexive Denken überhaupt auf.“8

Inzwischen erweist sich jener „illusionslose Pragmatismus“ als gefährliche Illusion. In sich zuspitzenden Krisenprozessen wird es dem auf die Wert-Abspaltungsform vergatterten politischen Handeln immer weniger möglich, zwischen den kapitalistischen Polaritäten von Markt und Staat, Ökonomie und Politik hin und her zu springen. Dem immer schnelleren und chaotischeren Wechselspiel geht die Luft aus. Und dennoch muss gehandelt werden. Und so läuft jener „illusionslose Pragmatismus“, der sich rühmt, auf lästigen Reflexionsballast in Gestalt theoretischen Nachdenkens verzichten zu können, mit innerer Konsequenz auf eine immer autoritärer durchgesetzte Krisenverwaltung hinaus, auf einen „Ausnahmezustand“, der zum Normalzustand wird9. Auf die sich auch ideologisch abzeichnende „dezisionistisch-autoritäre Wende“ des postmodernen Zeitgeistes hatte Roswitha Scholz bereits vor einigen Jahren hingewiesen10.

Aktuell sind vor allem wieder einmal Flüchtlinge von autoritären Verschärfungen in der Krisenverwaltung betroffen. Willig wird von den die Krise verwaltenden Parteien die Forderung der AfD aufgegriffen, Flüchtlinge auch nach Syrien abzuschieben und über ihre Aufnahme mit Assad zu verhandeln, dessen Terrorregime noch vor wenigen Monaten ein Grund war, Krieg zu führen. Natürlich muss vorher die Sicherheitslage geprüft werden – so verlautet es aus der Bundestagsfraktion der CDU/CSU. Dies hinderte jedoch CDU/CSU und SPD nicht daran, bereits darüber zu streiten, ob der Abschiebestopp nach Syrien bis zum 30.6. oder – in der „humanitären“ Variante der SPD – bis zum 31.12. verlängert werden soll11. Zwar hat der Innenminister den Abschiebestopp nach Syrien zunächst einmal bis Ende 2018 verlängert. Wohin die Reise – nicht nur für Syrer – geht, zeigt besagter Streit. Der zum „Normalzustand“ gewordene „Ausnahmezustand“ ist zudem aktuell in der „humanitären Katastrophe“ zu besichtigen, die sich in den Zuständen der Lager für Flüchtlinge auf den Agäisinseln und an anderen Orten verewigt.

Unter dem Handlungsdruck, den die sich verschärfende Krise auslöst, stört bereits bescheidene Nachdenklichkeit. Gesellschaftskritische Reflexion gilt als überflüssig und wird als abgehobene elitäre Theorie abgewehrt, die an den konkreten Problemen der Menschen vorbeigehe. In aggressivem Antiintellektualismus wird ein Nachdenken denunziert, das versucht, Einzelphänomene - wie begrenzt auch immer - in einem sie überschreitenden gesellschaftlichen Zusammenhang zu begreifen. Reflexion stört die Zuflucht, die angesichts der immanenten Unlösbarkeit der auf die kapitalistischen Gesellschaften zurückschlagenden Problemlagen in autoritär-repressiven Strategien gesucht wird. Das Verschwinden von Reflexion geht über in falsche Unmittelbarkeit. Mit ihrer Hilfe kann die Krise geleugnet, können komplexe Problemlagen konkretisiert und handlungsfetischistisch gebannt werden. Es ist kein Zufall, dass in diesem Konglomerat, in dem Inhaltlichkeit und reflektierendes Nachdenken marginalisiert werden, Pegida, AFD etc. wachsen und gedeihen können. In ihnen artikuliert sich das gesellschaftliche Bedürfnis, komplexe Problemlagen in falscher Unmittelbarkeit auf Schuldige hin zu konkretisieren, die in „den“ Ausländern, „den“ Flüchtlingen, „den“ Bankern, „den“ Politikern schnell gefunden sind. Nicht mehr händelbare Probleme erscheinen lösbar, wenn den vermeintlich Schuldigen das Handwerk gelegt werden kann. Reflexionslose Flucht in falsche Unmittelbarkeit macht zudem die Aktivierung rassistischer, sexistischer, antisemitischer und antiziganistischer Orientierung jederzeit möglich ebenso wie deren Bedienung durch eine Krisenverwaltung, die unter Handlungsdruck steht, aber eingebunden ist in die gesellschaftliche Form. Wenn Schuldige und Verantwortliche identifiziert sind, können Probleme „durch unmittelbares Handeln aus der Welt geschafft werden. Statt der Einsicht, dass es in der Wert-Abspaltungsform keine Lösungen geben kann, wird versucht, die entstehende Ohnmacht handlungsfetischistisch zu bannen.“12

Dies ist eine dem narzisstischen Sozialcharakter nahe liegende Strategie. Sein Bezug zur äußeren Welt der Objekte ist grundlegend gestört. Er kann nicht anders, als sich Objekte einzuverleiben oder sie als bedrohlich abzuwehren bzw. sie zu zerstören13. Objekte und damit auch Inhalte können nur „in unmittelbarem Bezug auf das eigene Selbst wahrgenommen und verarbeitet werden“14. Andernfalls werden sie als kränkende Überforderung oder Bedrohung verleugnet oder aggressiv abgewehrt. Auch von den Lebenssituationen der Individuen her scheint es immer schwerer zu werden, über die Unmittelbarkeit einzelner Phänomene oder Erfahrungen hinaus zu denken. Angesichts wachsender auch individueller Belastungen – nicht zuletzt durch die unabschließbaren Zwänge der Selbstoptimierung und der allgegenwärtigen Gefahr des Scheiterns trotz aller Anstrengung – werden unmittelbare, d.h. reflexionslose Entlastungen gesucht.

Diese Zusammenhänge helfen verstehen, warum Menschen so allergisch ignorierend oder aggressiv abwehrend auf anstrengende, komplexe Analysen reagieren. Sie werden als ohnmächtig machend erlebt und versperren einen Ausweg in die falsche Unmittelbarkeit von Konkretismus und Handlungsfetischismus, zumal theoretische Reflexion in der Krise auf die Grenzen des immanent Machbaren stößt und nicht mehr auf eine neue Stufe in einem ständigen Entwicklungsprozess hoffen kann.

Durch die Krise in ihren Handlungsmöglichkeiten blockiert sind nicht nur Individuen und PolitikerInnen, sondern auch soziale Bewegungen, die sich bisweilen sogar Alternativen zum Kapitalismus als Ziel gesetzt haben. Auch ihre Handlungsoptionen bleiben auf die kapitalistische Immanenz vergattert. Statt ihre eigene Handlungsohnmacht im Formzusammenhang kapitalistischer Immanenz zu reflektieren und zu einer radikalen Kapitalismuskritik vorzustoßen, scheint ihr höchstes Ziel in der Beteiligung an der Krisenverwaltung zu liegen oder Alternativen zu kreieren, ohne durch das Purgatorium einer radikalen Kritik der gesellschaftlichen Form hindurch gegangen zu sein. So werden einzelne Facetten aus dem Ganzen der Verhältnisse in der Illusion heraus gebrochen, über eine Nische eine Alternative schaffen zu können. So bleibt es bei Regiogeld, bei Tauschringen und Umsonstläden, bei Grundeinkommen auf Elendsniveau, bei solidarischer und Gemeinwohl-Ökonomie, die nicht an die Form kapitalistischer Vergesellschaftung rühren. Dabei soll die humanitäre Bedeutung solidarischer Krisenbewältigung gegen barbarisierende Verwilderung im Kampf aller gegen alle keineswegs unterschätzt werden. Aus ihnen gehen aber keine gesamtgesellschaftlichen Alternativen zu der Barbarisierung hervor, die der kapitalistischen Vergesellschaftung inne wohnt.

Wenn die Krisenprozesse nicht weiter in Barbarisierung treiben sollen, kann es um nicht weniger gehen, als „den jetzigen Zustand aufzuheben“. Handlungsmacht dazu lässt sich nicht ohne Erkenntnis und Negation dessen gewinnen, was diesen Zustand als gesellschaftlichen Formzusammenhang konstituiert, nämlich Wert und Abspaltung, und nicht ohne die Auseinandersetzung mit der damit vermittelten, aber auch mit einer Eigendynamik verbundenen Ebene der Ideologieproduktion sowie der kulturell-symbolischen und der sozial-psychischen Ebene. Angesichts dieses Zusammenhangs führt auch die Proklamation eines Primats der Praxis vor der Theorie in die Irre, setzt doch die Praxis ebenso wie das Subjekt als ihr Träger immer schon den „aufzuhebenden Zustand“ unreflektiert voraus.

Nötig ist eine Reflexion, die Distanz zum Zustand einer in der kapitalistischen Form geschlossenen Gesellschaft gewinnen kann15. Dies setzt einen epistemologischen Bruch mit der Form und dem für sie charakteristischen Denken in den Polaritäten von Kapital und Arbeit, Markt und Staat, aber auch denen von Subjekt und Objekt, Theorie und Praxis voraus. Statt theoretische Erkenntnis eindimensional von der Praxis her und auf Praxis hin zu instrumentalisieren, käme es darauf an, theoretische Reflexion als eigenständiges Moment sozialer Emanzipation zu begreifen. Als bloßes Instrument der Praxis muss sie innerhalb der Grenzen bleiben, die mit der Form kapitalistischer Verhältnisse gesetzt sind. In diesem Gefängnis wird sie – so wie im Mittelalter einmal die Philosophie als „Magd der Theologie“ verstanden wurde – „zum Aschenputtel un- und vorwissenschaftlicher Prämissen und Lebensformen, denen sie als Legitimationsmagd zu dienen hat“16.

„Dass Theorie ihre Selbständigkeit zurückgewinnt, ist das Interesse von Praxis selbst“, heißt es in Adornos „Negativer Dialektik“17. Hintergrund dieser Feststellung ist die Einsicht, dass in der geforderten Einheit von Theorie und Praxis die Theorie unterlag und „ein Stück der Politik“ wurde, „aus der sie hinausführen sollte; ausgeliefert der Macht“18. Eine andere Praxis ist nur möglich, wenn theoretische Reflexion aus ihrer funktionalen Unterwerfung unter eine von den Verhältnissen schon determinierte Praxis heraustreten und eigenes Gewicht gewinnen kann. Genau dies ist im Interesse sozialer Emanzipation, weil es Möglichkeiten eröffnet, die Grenzen zu erkennen und zu negieren, die der Praxis durch die kapitalistische Vergesellschaftung gesetzt sind. Ohne solche Erkenntnis kann die „Praxis, die immerzu verändern will, nicht verändert werden“19.

Auch aus einer Theorie als eigenständigem Element emanzipatorischer Praxis kann kein Königsweg zur Überwindung des Kapitalismus abgeleitet, gar ein Modell entwickelt werden, das dann „umzusetzen“ wäre. Theorie kann emanzipatorische Praxis nicht ersetzten. Nur in einer sozialen Bewegung, die über die von der kapitalistischen Form gesetzten Grenzen negierend hinausgreift, sind Wege zur Überwindung des Kapitalismus möglich. In diesem Sinne wäre es im Rahmen sozialer Bewegungen wichtig, auf im Kapitalismus unerfüllbaren Forderungen zu bestehen und dafür zu kämpfen. Dazu gehört der Kampf um die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse ebenso wie der gegen Billiglohn und prekäre Arbeitsverhältnisse und für öffentliche Dienste, kurz: alles, was angesichts des stofflichen Reichtums und dem Stand der Produktivkräfte möglich ist, aber an dem Zwang scheitert, dass stofflicher Reichtum im Kapitalismus nur als abstrakter Reichtum darstellbar ist und Bedeutung haben kann20. In diesem Sinne wäre eine „andere Welt möglich“, aber eben nur im Bruch mit der kapitalistischen Form abstrakten Reichtums. Nötig wäre eine Orientierung auf die Lebensbedürfnisse von Menschen und die Güter, die dazu nötig sind. Entsprechende Forderungen müssten darum wissen und deutlich machen, dass sie keineswegs aus einer Situation „jenseits der Wert- und Abspaltungsform“ erhoben werden, aber die Notwendigkeit ihrer Überwindung anzeigen und den Anspruch darauf anmelden. Dieser Anspruch wäre jedoch bereits dann dementiert, wenn im Interesse von „Vermittlung“ und „Mobilisierungsfähigkeit“ die zu überwindenden Grenzen der kapitalistischen Gesellschaftsform nicht mehr thematisiert werden dürften. Dagegen hätte theoretische Reflexion Einspruch zu erheben; denn „keine Theorie darf agitatorischer Schlichtheit zuliebe gegen den objektiv erreichten Erkenntnisstand sich dumm stellen. Sie muss ihn reflektieren und weiter treiben. Die Einheit von Theorie und Praxis war nicht als Konzession an die Denkschwäche gemeint, die Ausgeburt repressiver Gesellschaft ist.“21

Gegen die Denkschwäche in einer Gesellschaft, die sich weigert, die ihr eigene Zerstörungsdynamik zur reflektieren und die immanenten Grenzen ihrer Handlungsfähigkeit mit verschärfter Repression zu kompensieren sucht, macht EXIT! die theoretische Reflexion stark – im Wissen darum, dass sie allein einen Ausweg aus barbarisierenden Verhältnissen nicht ermöglichen kann und dennoch dafür eine unverzichtbare Voraussetzung ist. Mit der Wert-Abspaltungskritik steht eine Theorie zur Verfügung, die Konkretes und Allgemeines, gesellschaftliche Phänomene und gesellschaftliche Totalität in ihrer Vermittlung zu begreifen sucht, ohne in falsche Unmittelbarkeit oder schlechte Abstraktheit zu fliehen. Weil diese Reflexionsform in einer „reflexionslosen Gesellschaft“ um so wichtiger wird und für Menschen auffindbar sein soll, die sich dem Druck der Reflexionslosigkeit nicht beugen wollen, bitten wir auch in diesem Jahr darum, unser Projekt auch finanziell abzusichern, und bedanken uns bei allen, die uns in der Analyse der Krise und in der „Kritik der Warengesellschaft“ mit Interesse und materieller Unterstützung begleiten.

Herbert Böttcher für Vorstand und Redaktion von EXIT!


1 Vgl. Stefan Grünewald, Zwischen Auenland und Grauenland, in: Kölner Stadt-Anzeiger vom 28.4.2017.

2 Stephan Lessenich, Neben uns die Sintflut. Die Externalisierung und ihr Preis, München 4/2017.

3 Vgl. Robert Kurz, Weltordnungskrieg. Das Ende der Souveränität und die Wandlungen des Imperiums im Zeitalter der Globalisierung, Bad Honnef 2003.

4 Stephan Lessenich, a.a.O., 23.

5 Vgl. Thomas Seibert, Stiftungssymposium: Vom Kampf um eine Einwanderungs- und Postwachstumsgesellschaft, in: medico international, rundschreiben 2/16, 41–43.

6 Papst Franziskus, Die Freude des Evangeliums. Das Apostolische Schreiben „Evangelii Gaudium“ über die Verkündigung des Evangeliums in der Welt von heute, Freiburg 2013, 97 (Nr. 55).

7 Ebd., 100 (Nr. 57).

8 Robert Kurz, Das Ende der Theorie. Auf dem Weg zur reflexionslosen Gesellschaft, Berlin 2013, in: ders., Weltkrise und Ignoranz, a.a.O., 60-67. 66.

9 Vgl. u.a. Giorgio Agamben, Ausnahmezustand, Frankfurt am Main 4/2014.

10 Vgl. Roswitha Scholz, Die Rückkehr des Jorge. Anmerkungen zur „Christianisierung“ des autoritären Zeitgeistes und dessen dezisionistisch-autoritären Wende, in: EXIT! Krise und Kritik der Warengesellschaft, Nr. 3, 2006, 157–175.

11 Vgl. Kölner Stadt-Anzeiger vom 1.12.2017.

12 Leni Wissen, Die sozialpsychologische Matrix des bürgerlichen Subjekts in der Krise. Eine Lesart der freud’schen Psychoanalyse aus wert-abspaltungskritischer Sicht, in: EXIT! Krise und Kritik der Warengesellschaft, Nr. 14, 29–49, 31.

13 Vgl. ebd.

14 Ebd.

15 Vgl. Robert Kurz, Grau ist des Lebens goldner Baum und grün die Theorie, in: EXIT! Krise und Kritik der Warengesellschaft, Nr. 4, 2007, 15–106.

16 Robert Kurz, Auf der Suche nach dem verlorenen sozialistischen Ziel, in: Initiative Marxistische Kritik 1988, 9–99, 11.

17 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, in: Gesammelte Schriften, hgg. von Rolf Tiedemann, Bd. 6, Frankfurt am Main 2003, 146 f.

18 Ebd., 146.

19 Ebd., 147.

20 Vgl. Claus Peter Ortlieb, Ein Widerspruch von Stoff und Form, in: EXIT! Krise und Kritik der Warengesellschaft, Nr. 6, 2009, 23–54.

21 Ebd., 206.




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