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Zur Kritik der verkürzten Wertkritik


Robert Kurz

SEELENVERKÄUFER

Wie die Kritik der Warengesellschaft selber zur Ware wird

Dabei haben wir es gleichzeitig mit einem allgemeinen gesellschaftlichen Problem zu tun, das nicht nur in der Linken insgesamt eine Rolle spielt, sondern sich auch im ursprünglichen Kontext der Wertkritik auf spezifische Weise reproduziert hat. Das Thema ist hier die Warenform der Kritik an der Warenform selbst – und welche Konsequenzen aus dieser realen Paradoxie zu ziehen sind. Wenn daher die Wiener Zeitschrift „Streifzüge“ zum Gegenstand der Polemik wird, soll dieses Erzeugnis nur als exemplarisch gelten für die innere Bewegung des Widerspruchs von Form und Inhalt kategorialer Kritik. Diese Dialektik steht auch in einem soziologischen, sozialpsychologischen, epistemischen und methodologischen Kontext. Dabei werden einzelne schon in früheren Artikeln oft nur nebenbei erwähnte Momente (der Konflikt ist ja nicht völlig neu) zur Warenförmigkeit radikal wert-abspaltungskritischer Publizistik, zur Form des öffentlichen Agierens und zur Typologie ihrer Charaktere in einen größeren systematischen Zusammenhang gebracht.

Inhaltsübersicht:

Postmoderne Selbstunternehmer und linker Kritikbetrieb

Mit den linken Medien verhält es sich wie mit den linken Individuen. Irgendwann erscheint ihnen ihre einstmals radikal kritische Intention als eine Art Jugendsünde. Der Grund ist immer derselbe: Was sich selbst als Aufstand gegen den Kapitalismus missverstanden hatte, war oft genug nur eine Mischung aus schlechtem Idealismus und pubertärer Militanz. Also die geborene perspektivlose Jugendsünde, von der man insgeheim schon wusste, dass man sie sich später einmal bescheinigen würde. Als dann der erwachsene Kinderglaube erwachte, man habe möglicherweise selbständig zu denken begonnen, war es schon eine Selbstzurichtung durch bürgerliche Vernunft statt eine reflexive Selbstbegründung radikaler Kritik. Irgendwann muss man ja mal eine Familie gründen, in eine Loftwohnung ziehen, an die Rente denken und die linksextremistische Vergangenheit z.B. einen putzigen kleinen Künstler-Pferdeschwanz sein lassen, den man sich als vogelwildes Accessoire eines gewohnheitsmäßig inszenierten Nonkonformismus noch gönnt. Auf diesem Weg gibt es viele Windungen und Wendungen, aber er ist überschaubar und die traditionelle Richtung bekannt: nämlich heim ins Reich der Kuscheltiere, der Lehraufträge, Anwaltskanzleien, runden Geburtstagsfeiern, Vernissagen und respektablen Beerdigungen. Was den individuellen Lebensgeschichten der Linken recht ist, darf den Metamorphosen ihrer Publikationsorgane billig sein. Auch sie werden in der Regel immer ehrbarer, wenn sie nicht rechtzeitig eingehen. Und „ehrbar“ bedeutet in postmodernen Zeiten auch: auf milde Weise meinungstolerant, realitätsbeflissen auf- und abgeklärt.

Dieser Gang der linken Mittelschichtsexistenz in die fade bürgerliche Normalität hat allerdings heute etwas Nostalgisches. War die Metamorphose bis zur fälligen Entpuppung bei den älteren Generationen gebunden an fast bis aufs Datum genau bestimmbare Lebensabschnitte, so glückt dieser reibungslose und rechtzeitige Übergang inzwischen nur noch in relativ wenigen Segmenten der akademischen Berufe. Was sich stattdessen ausbreitet, ist bekanntlich die Prekarisierung. Für die „Generation Praktikum“ fällt der Hang und Drang zum Settlement nicht mehr mit der glorreichen Diplomierung, sondern fast schon mit der Midlifecrisis zusammen. Er nimmt also die Form der Torschlusspanik an, während der Zustand von Kind und Kegel oft schon lange zuvor unter finanziell unmöglichen Bedingungen eingetreten ist. Umso heftiger machen sich dann in diesem späten Stadium die Imaginationen einer fetten Reputation und Erfolgsgeschichte geltend; und sei es als pure Illusion, die für bestimmte Abkömmlinge gesponsert wird von ebenso betagten wie besorgten Vätern und Müttern. Wenn der Zug der traditionellen akademischen Laufbahn bereits verpasst wurde, kennt die oft gerade deswegen erst recht gierig gewordene Phantasie keine Grenzen mehr.

Natürlich ist es kein Zufall, dass diese Befindlichkeit überwiegend als männliche in Erscheinung tritt. Es sind jetzt nicht mehr bloß die üblichen großmäuligen Sturm- und Drang-Jünglinge, die sich genialisch als potentielle, bloß noch nicht erkannte Großliteraten und Menschheitsbeglücker verstehen möchten, sondern immer öfter selber schon leicht ergrauende Väter von patchwork-families, die ihre Perspektivlosigkeit nicht kritisch verarbeiten, sondern unmittelbar emanzipatorisch umdeuten und zum besseren Lebensprinzip erheben möchten.1 Allerdings gelingt ihnen sozial nicht mehr so recht, was Enzensberger noch von der Literatur als Institution sagen konnte: nämlich dass diese es verstanden habe, „die eigene Krisis sich zur Existenzgrundlage zu machen“ (Hans Magnus Enzensberger, Gemeinplätze, die Neueste Literatur betreffend, in: Über Literatur, Frankfurt/Main 2009, 121).

Unter solchen bloß selbstaffirmativ wahrgenommenen Krisenbedingungen halten sich linke Medien, die eigentlich schon längst nichts mehr zu sagen haben, manchmal über ihre gewöhnliche Verfallszeit hinaus. Wenn der Gang des kapitalistischen Fleisches zwar stattgefunden hat, aber nicht zugegeben wird, sehen auch sie aus wie eine alt gewordene Jugendsünde; und dieser Ausdruck einer Pseudo-Boheme mit Augenringen ist fast noch schlimmer als der einer gelungenen Studienratsdarstellung mit Pfeife im Maul. Manchen linksjournalistischen und linkspolitischen Selbstverwertern in spe ist der Inhalt im Grunde bereits gleich-gültig geworden. Sie sind nur noch dabei, weil sie außer ihrer geistigen Würstchenbude nichts haben, womit sie ein wenig „kulturelles Kapital“ (Bourdieu) abstauben können; wenn es schon nicht zu Honoraren reicht.2 Als Bestandteil eines selbstreferentiellen Publikums, das sein eigener Produzent ist, müssen sie umso rattenfängerischer auf dem entsprechenden Meinungsmarkt agieren.

Natürlich gibt es sehr verschiedene Varianten einer subkulturell sich inszenierenden linken yellow press. Gemeinsames Merkmal ist meistens der Bezug auf postmodernistisch aufgemotzte, aber substantiell entleerte und verwelkte Paradigmen eines unwahr gewordenen Denkens aus vergangenen historischen Konstellationen. Gleichzeitig handelt es sich jedoch ebensosehr um die Äußerungen eines höchst aktuellen Sozialcharakters, der Inhalte überhaupt nur instrumentell versteht und dem Selbstreflexion umso fremder bleibt, je mehr er diesen Begriff spazieren führt. Deshalb ist auch eine radikale Kritik auf der Höhe der Entwicklung nicht davor gefeit, von Seelenverkäufern eines erpichten Selbst- und Lebensunternehmertums vereinnahmt zu werden.3 Gerade diese Art der Usurpation war bei der Spaltung der alten Wertkritik im Hintergrund wirksam. Es geht dabei keineswegs nur um kognitive theoretische Inhalte, die in opportunistische und geradezu reaktionäre Ideologiebildung abgeglitten und umgekippt sind, sondern auch um die Form der Darstellung als Inhalt sui generis. Die bis jetzt in gewisser Weise, wenn auch nur noch vage und unentschlossen, unter dem Label der „Wertkritik“ firmierende Wiener Zeitschrift „Streifzüge“ bietet vielfältiges Anschauungsmaterial, um dieses allgemeinere Phänomen im linken Medienwald einer kritischen Analyse zu unterziehen.4

Wertkritik als Warenangebot

In der wert-abspaltungskritischen Publizistik als solcher erscheint das Problem im unausweichlichen Widerspruch von inhaltlicher kategorialer Kritik einerseits und (strukturell „männlicher“) Warenform bzw. Marktvermittlung auch der theoretischen Öffentlichkeit andererseits. Der notwendigerweise immanente Ausgangspunkt zwingt ganz praktisch dazu, den kritischen Inhalt in der äußeren gesellschaftlichen Form des kritisierten Verhältnisses selbst erscheinen zu lassen, also vermittels eines Verlagswesens mit entsprechender Buch- und Zeitschriftenproduktion. Es gibt keine andere Möglichkeit als die bürgerliche Zirkulationssphäre, um die Ideen kategorialer Kritik in Umlauf zu bringen. Der darin angelegte Widerspruch kann nicht durch irgendwelche Tricks oder bloße Umdeutungen übersprungen werden, solange nicht eine gesamtgesellschaftliche Transformationsbewegung das Kapitalverhältnis als Ganzes aufzusprengen beginnt. Deshalb ist es ein schäbiger Moralismus, wenn den VertreterInnen kategorialer Kritik hämisch der Status ihrer Publizistik als „Bezahlgüter“ vorgeworfen und gegen den Inhalt ausgespielt wird, als könnte ausgerechnet diese theoretische Produktion (oder überhaupt die Publikation von Büchern und Zeitschriften) partikularistisch den herrschenden Formzusammenhang allein qua inhaltlichem Anspruch transzendieren und unmittelbar „nach drüben“ in ein Jenseits der Wertvergesellschaftung hier und heute gehen.

Die theoretische und analytische Publizistik radikaler Kritik muss den Widerspruch zu ihrer unter den kapitalistischen Verhältnissen unvermeidlichen Warenform nicht bloß aushalten, sondern vor allem den Inhalt dagegen immunisieren, von dieser Form bis zur Unkenntlichkeit entstellt und aufgesaugt zu werden. Theoretische und kulturelle Inhalte überhaupt, wenn sie als solche ernst genommen werden, behalten eine gewisse Sperrigkeit gegenüber ihrem formalen Status als Gegenstände bürgerlicher Zirkulation. Vor einem halben Jahrhundert hat der junge Habermas, damals Adorno-Schüler und noch nicht vollends zum demokratischen Staatsphilosophen mutiert, in diesem Zusammenhang auf den ursprünglichen Charakter der entstehenden bürgerlichen Öffentlichkeit aufmerksam gemacht, als diese sich noch inhaltlich gegen die vorausgegangene Publizität personaler gesellschaftlicher Repräsentationsverhältnisse durchsetzen musste: „Zwar war die Kommerzialisierung der Kulturgüter einst Voraussetzung für das Räsonnement; es selbst blieb aber grundsätzlich von den Tauschbeziehungen ausgenommen“ (Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Frankfurt/Main 1990, zuerst 1962, S. 252, Hervorheb. Habermas).

In dieser Konstitutionsphase hatte sich daher die bürgerliche Öffentlichkeit bei weitem nicht zu ihrer späteren vollen Kenntlichkeit entwickelt: „Noch gewinnen die Tauschwerte keinen Einfluss auf die Qualität der Güter selbst: bis heute haftet ja dem Geschäft mit Kulturgütern etwas von der Inkompatibilität dieser Art Erzeugnisse mit ihrer Warenform an“ (Habermas, a.a.O., S. 253 f.). Wie in anderer Weise Adorno, sieht dabei auch Habermas das ursprüngliche Verhältnis von Inhalt und Form der aufklärerischen Ideenzirkulation mehr oder weniger als positives Ideal, das seiner „Verwirklichung“ noch harre, weil es im Widerspruch zur dialektischen Fortentwicklung der bürgerlichen Öffentlichkeit stehe. Wenn es sich bei dieser Entwicklung jedoch um eine immanente Notwendigkeit handelt, dann gibt es gar kein positiv „Aufzuhebendes“. Es lag vielmehr schon in der eigenen Logik des ursprünglichen „Räsonnements“, dass die Wertabstraktion und das Abspaltungsverhältnis letztendlich den geistigen Inhalt verschlingen, weil und sofern er ihnen entspricht, also nur in den Anfängen explizit und problematisch werden musste.

Man könnte diesen Prozess auch in der Terminologie der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie ausdrücken: nämlich als Übergang von der „formellen“ zur „reellen Subsumtion“ unter das Kapital nicht nur bei den industriellen, sondern auch bei den kulturellen und theoretischen „Gütern“. Wie die zunächst bloß formelle Subsumtion nicht als idealisierter positiver Aufhebungsgegenstand gegenüber den Übeln der reellen Subsumtion verstanden werden kann, ebensowenig die noch nicht von der androzentrischen Wertabstraktion aufgefressene bürgerliche Aufklärungsöffentlichkeit gegenüber ihrem traurigen Endzustand. Es war ja gerade der wesentliche Inhalt des Aufklärungsdenkens selber, der nichts anderes als die Zielsetzung eben dieses Auffressens philosophisch ausgedrückt hat. Das anfängliche Nicht-Aufgehen jenes Inhalts kapitalistischer Vernunft in ihrer eigenen gesellschaftlichen Form war also selber bloß formal bestimmt und ein verschwindendes Moment ihrer historischen Durchsetzung.

Für die publizistische Öffentlichkeit kategorialer Kritik bedeutet dies, dass sie eine bewusst aufgenommene formelle Subsumtion ihrer Produkte (nämlich deren äußere Warenförmigkeit) nicht als Ansatz einer positiven „Aufhebung“ im Sinne jener „Verwirklichung“ idealisierter Inhalte der Aufklärungsideologie missverstehen darf, sondern im Gegenteil als notwendiges Übel eines Ausgangspunkts negativer Immanenz begreifen muss. Dieser unausweichlichen Immanenz gegenüber wird aber gerade ein ganz anderer Inhalt behauptet, der auf den Bruch mit der Form überhaupt zielt und sich diese Bestimmung nicht vom „stummen Zwang“ eben dieser Form austreiben lässt.

In genau dieser Hinsicht ist bei der Spaltung der alten Wertkritik eine doppelte, gegenläufige Dialektik zu beobachten. Die wert-abspaltungskritische Theorie, wie sie gegenwärtig publizistisch von den EXIT-AutorInnen vertreten wird, lehnt einerseits jede falsche Unmittelbarkeit ab, die so tut, als könnte gerade theoretisch-publizistischen Produkten unabhängig von der sonstigen gesellschaftlichen Reproduktion ihre Warenform direkt und rein äußerlich abgestreift werden; also weit unterhalb des Niveaus einer gesamtgesellschaftlichen Transformationsbewegung. Das hieße nichts anderes, als die theoretische Produktion zum Freizeitvergnügen eines im schlechten Sinne amateurhaften Räsonnements zu degradieren, weil „Kostenlosigkeit“ unter ansonsten kapitalistischen Bedingungen keinen Zeit- und Ressourcenfonds ermöglicht, wie ihn ernsthafte Theoriebildung und deren Zirkulation verlangt.5 Andererseits jedoch impliziert dieselbe Kritik falscher Unmittelbarkeit, dass sich der radikal form- und abspaltungskritische Inhalt jeder reellen Subsumtion grundsätzlich verweigert. Das heißt, dass dieser Inhalt auf keinen Fall „Gesichtspunkten der Absatzstrategie“ (Habermas, a.a.O, 254) untergeordnet werden kann, als würde man tatsächlich eine Markenfirma betreiben. Er muss sich jeder entsprechenden „Präsentation“ als bloß abzusetzende Ware sperren.

Genau umgekehrt verhält es sich bei der „magazinierten Transformationslust“, wie die „Streifzüge“ im Untertitel ihren Impetus selber clownesk bezeichnen. Einerseits wird hier eben jene falsche Unmittelbarkeit gepriesen, wie sie EXIT grundsätzlich kritisiert. Die „Transformation“ soll in den vier Wänden bornierter Szene-Verhältnissen sozusagen auf Wohnküchenniveau (und natürlich im Internet) stattfinden. Theorie wird nicht an der Erklärungskraft ihres Inhalts gemessen, sondern, so der „Streifzüge“-Prediger Lorenz Glatz, an der persönlichen Kompatibilität ihrer TrägerInnen mit den Zuckungen des „gesellschaftliche(n) Alltagsverstand(s)“ (What we do matters, Streifzüge 47/2009) und am demütigen Willen, diese „teilnehmend zu beeinflussen“ (a.a.O.) statt auf ideologiekritische Distanz zu gehen. Unter Berufung auf die Alternativideologin Friederike Habermann stellt Glatz diese Unmittelbarkeitsperspektive ausdrücklich in Gegensatz zur Orientierung auf eine gesamtgesellschaftliche, mit „theoretischer Innovation“ gerüstete „soziale Widerstandsbewegung“ (und damit auf eine ganz andere „teilnehmende Beeinflussung“), wie sie bloß als Ausdruck der „Verzweiflung“ im „Kurz'schen >Schwarzbuch Kapitalismus<“ (a.a.O.) zu werten sei.

In diesem Sinne möchten die „Streifzüge“ damit locken, auch in der Form des publizistischen Organs selbst bereits das „Andere“ zu verkörpern. „Ein Stück weit“ (so die notorisch erzdumme Formulierung einer kleinkarierten Alternative zum einzig richtigen „Ganz oder gar nicht“) sehen sie sich schon unmittelbar jenseits der Warenform; nicht nur durch die Verbreitung geruchsintensiver ideologischer Stallwärme, die ihrem Wesen nach bloße Theaterbühnen-Technik bleibt, sondern auch direkt ökonomisch als „Kostenlosigkeit“ einer kompletten elektronischen Ausgabe, die parallel zum „Bezahlgut“ der Print-Ausgabe sukzessive ins Netz gestellt wird. Diese verlogene Doppelstrategie möchte den Bonus eines vorgeblich gelungenen „Jenseits“ einheimsen, aber gerade dadurch eine Art moralischen Druck erzeugen, dem sehr warenförmigen „Diesseits“ einen Tribut zu zollen. Im Grunde handelt es sich bei der kostenlosen Netz-Ausgabe um eine Art Werbegeschenk, das die Gimpel von Usern dann als Dank für die offerierte „Jenseitigkeit“ letztlich trotzdem bezahlen sollen.6

In Wirklichkeit geht andererseits gerade dieses pseudo-transformatorische Unmittelbarkeits-Postulat mit Elementen einer nicht mehr bloß formellen, sondern auch reellen Subsumtion des „kritischen“ Inhalts unter die Warenform einher. Sowohl die „Vermittlung und Auswahl, Aufmachung und Ausstattung der Werke“ als auch „ihre Erzeugung als solche“ (Habermas, a.a.O., 254) folgt dem Gebot der Konsumentenkultur: „(Schon) sind die Gesetze des Marktes in die Substanz der Werke eingedrungen, sind ihnen als Gestaltungsgesetze immanent geworden“ (ebda).

Unfreiwillig und offensichtlich bewusstlos nimmt die publizistische Produktion eine Fassade an, für die in besseren Zeiten der früheren neuen Linken der Ausdruck „Warenästhetik“ gefunden wurde (vgl. Wolfgang Fritz Haug, Kritik der Warenästhetik, Frankfurt/Main 1972).7 Noch die allerdings nicht mehr begrifflich durchdrungene, sondern eher moralisierende „Kritik der Warenform“ wird in einem sehr weiten Sinne warenförmig aufbereitet als „ästhetische Abstraktion“ und „Technokratie der Sinnlichkeit“ (Haug, a.a.O., 9). Sie nimmt das Gestaltungsprinzip einer „Meinungsgegenständlichkeit“ an8, das sich unter Rekurs auf eine Soziologie der „Präsentation“ schon in den 1960er Jahren genausogut „auf eine politische Partei, eine Filmdiva oder ein Stück Seife“ (Haug, a.a.O., 37) beziehen konnte und als Image ein „psychologischer Tatbestand“ (a.a.O., 35) wird. Dieses „Erscheinungsbild“ (a.a.O., 37) ist es, in dem die Wertform den Inhalt und damit erst recht die noch einmal besonders quer liegende Abspaltungskritik zu verschlingen beginnt.

Der „wertkritische“ billige Jakob

Die „Streifzüge“ dagegen folgen explizit der Technik „des Ankommens und des Sich-angenehm-Machens“ schon in den jeweiligen proklamatorischen Ankündigungen: „(Wir) haben uns wie immer bemüht, eine ansprechende Nummer zu gestalten. In jeder Hinsicht wollen wir uns verbreitern und verbreiten“ (Franz Schandl, EINlauf Wohnen, Editorial Streifzüge 47/2009). Eher sollte uns die Hand verdorren, als dass wir die Produktion kritischer Theorie und Analyse mit dem Versprechen einer „ansprechenden Gestaltung“ einem allein schon dadurch für dumm verkauften Publikum schmackhaft zu machen versuchen. Wie sollte das auch gehen, etwa die Analyse und Kritik eines selbstaffirmativen Mittelschichtsinteresses oder überhaupt von ideologischen Formationen derart zu ästhetisieren, dass das Produkt als Ware „goldig“ gemacht wird, statt eine negatorische Konfrontation auszudrücken?

„Ansprechend“ sein zu wollen, heißt „Gefälligkeit“ der „Präsentation“ zu offerieren, was darauf zielt, dem Inhalt zwecks Kundenfang jede Sperrigkeit zu nehmen und ihn eben direkt mit dem unreflektierten Alltagsverstand kompatibel zu machen. Wie bei Marktunternehmen und politischen Parteien wird die „Verkaufe“ und „Akzeptanz“-Erschleichung zum eigentlichen (Selbst)zweck, und der Inhalt gegenüber seiner Aufmachung zum unwesentlichen Sekundären und Akzidens degradiert. Schon traditionell haben Marktwerbung und politizistische Agitprop das Ziel, sich „in jeder Hinsicht zu verbreitern und zu verbreiten“, ihrem ursprünglichen Gegenstand gegenüber verselbständigt. Der Übergang vom (falschen) „Gebrauchswertversprechen“ zum „vom Warenleib“ abgelösten „Markennamen“ (Haug, a.a.O., 26 ff.) und von der politischen Programmatik kapitalistischer Durchsetzungsgeschichte zur demoskopischen „Markentechnik“ (a.a.O., 39) des Parteienunwesens hat sich in der Nachkriegsgeschichte vollendet und längst auch die theoretische Produktion ergriffen.

Dieser „tendenzielle Zerfall einer literarischen Öffentlichkeit“ (Habermas, a.a.O., 257) ist es, der sich als das Schandlsche Verlangen, „in jeder Hinsicht“ unabhängig vom Konfliktpotential kritischer Reflexion „breit“ zu werden, bewusstlos reproduziert. Der Ausdruck hat allerdings auch etwas unfreiwillig Komisches und erinnert eher an eine bekiffte Comicfigur, die sich per Sprechblase bescheinigt, heute wieder ziemlich „breit“ zu sein. Die explizite Ankündigung, sich „ansprechend“ präsentieren zu wollen, folgt zwar dem warenästhetischen Impuls einer Absatzstrategie für die „Meinungsgegenständlichkeit“; aber sie hat nicht die ausgefeilte, wenn auch längst ausgeleierte Raffinesse der Werbeindustrie. Eine Agentur, die das neueste Modell von BMW warenschön zu offerieren oder eine Wahlkampagne für politische Personage auszutüfteln hat, würde sich nicht hinstellen und sagen: Hallo, wir haben uns um „ansprechende Gestaltung“ bemüht, weil wir uns „verbreitern“ wollen. Sie würde dem potentiellen Konsumenten gerade diese Absicht, die natürlich sowieso vorausgesetzt und bekannt ist, nicht noch einmal extra unter die Nase reiben, sondern sie ihm indirekt und hintenherum als seine eigene Einsicht und Absicht unterzujubeln versuchen.

Aber soviel Aufwand für die „Technik des Ankommens“ können sich die „Streifzüge“ nicht leisten. Ihre Selbstpräsentation erinnert eher an die Ausrufungen eines Bauchladen-Betreibers oder an die Werbezettel eines Tante-Emma-Ladens, etwa nach dem Motto: „Bei Kleinlein kauft man gut und billig“.9 Schon vor fünf Jahren, als die Tendenz zum „Sich-angenehm-Machen“ kenntlich geworden war, hatte Roswitha Scholz formuliert, was es bedeutet, wenn „an das unmittelbare...Bewusstsein...Anschluss gesucht wird“ (Roswitha Scholz, Der Mai ist gekommen, in: Exit 2/2005, 107). Es könne dann nämlich „eine reduktionistische >Wertkritik< gleich wie Seife oder Staubsauger vom postmodernen billigen Jakob verscherbelt werden“ (a.a.O.).

Tatsächlich trifft das Bild vom „wertkritischen“ billigen Jakob den Sachverhalt am besten. Die Korruption und Prostitution des kritischen Inhalts hat etwas vom sozialpsychologischen Erscheinungsbild eines depravierten Warensubjekts, das auf der Straße Kaffee oder seinen Arsch verkaufen muss. So wenig jedoch der wirkliche billige Jakob und überhaupt Zwangslagen dieser Art, in denen Menschen auf entwürdigende Art ihren Lebensunterhalt verdienen müssen, zu deren Denunziation Anlass geben dürfen, so inakzeptabel ist es, dass kritische Theorie „auch der Intention der Akteure nach marktschreierisch zur Ware erhoben werden soll, wenn die eigene Existenz prekär wird und man sich eigene Marktvorteile verspricht“ (Scholz, a.a.O., 107). Das gilt ganz besonders, wenn eine derart usurpierte „Wertkritik“ auch noch mit dem falschen Anspruch unmittelbarer Transzendenz daherkommt, während sie gleichzeitig diesen Inhalt warenästhetisch auf niedrigstem Niveau zurichtet. Das beginnt schon bei der rein formalen „Vielfalt“ der Beiträge bzw. deren Erscheinungsweise.

Mehrfachverwertung

Dass darunter die Qualität leidet, steht außer Frage. Es geht nicht mehr darum, dass ein sachlicher oder künstlerischer Inhalt ausgearbeitet und dann nach seinen eigenen Kriterien publiziert wird, sondern umgekehrt: Die Inhaltsproduktion richtet sich nach den ihr fremden Kriterien des Publikationsbetriebs in seiner marktförmigen Eigendynamik und deren Gesetzlichkeiten. Auch kritische Theoriebildung und Analyse ist diesem Prozess bis zu einem gewissen Grad unterworfen, soweit sie nach Möglichkeit in den größeren Umfang der bürgerlichen Zirkulation eingespeist werden soll. Sie muss dann den zyklischen Zwängen der Frühjahrs- und Herbstsaison, der Literaturmessen, der reisenden Vertreter, des Buchhandels etc. folgen, die historisch überhitzt sind, gerade weil der Betrieb inhaltlich leer läuft und durch sein Eigengewicht die Innovation zu ersticken droht. Wenn man aber solchen Zwängen im größeren publizistischen Raum schon nicht gänzlich ausweichen kann, wäre es angebracht, wenigstens die eigenen Publikationsorgane diesen Momenten reeller Subsumtion unter die Warenform zu entziehen.

Die alte Wertkritik hatte die Eigenständigkeit der Theorie gegenüber dem „manisch-depressiven Zyklus“ der Bewegungsszene mit ihren Kampagnen-Konjunkturen betont. Diesem Postulat ist die wert-abspaltungskritische eigene Inhaltsproduktion von EXIT treu geblieben. Während die Publikation von Büchern in Fremdverlagen und journalistische Kommentare oder Analysen für die Tages- und Wochenpresse notgedrungen in deren Zeithorizont und Darstellungsweise eingebunden sind, gilt dies nicht für die Theorieproduktion der Wert-Abspaltungskritik selbst. Ein eigenes Publikationsorgan ist gerade deshalb unverzichtbar, weil es allein an Kriterien der inhaltlichen Erarbeitung ausgerichtet sein kann und sich weder den sprunghaften Bewegungskonjunkturen noch den zeitgeistigen und kulturindustriellen Marktkonjunkturen andienen muss. Unter den bisherigen Bedingungen von Theoriebildung und Rezeption kann die notwendige Form des entsprechenden Printmediums EXIT nur als relativ umfangreicher Sammelband in einem ungefähr jährlichen Rhythmus erscheinen. Das heißt nicht, dass eine höhere Frequenz grundsätzlich ausgeschlossen ist. Aber eine Umstellung von Erscheinungsweise und womöglich Format müsste aus der Entwicklung der inhaltlichen Produktion selbst heranreifen und würde eine größere Personaldecke von AutorInnen und redaktionellen Kräften auf dem Boden der Wert-Abspaltungskritik erfordern. Auch bei unterschiedlichen Textformaten ist eine keineswegs geringere Qualität anzustreben, die entsprechender Zeitressourcen bedarf.

Genau umgekehrt verhält es sich bei den „Streifzügen“. Der Anspruch, dreimal jährlich im Magazinformat zu erscheinen, ging in gar keiner Weise aus einer inneren Entwicklung des Inhalts und dessen Rezeption hervor, sondern allein aus dem verselbständigten Verkäufer-Gebot, sich „in jeder Hinsicht zu verbreitern und zu verbreiten“. Ablesbar ist dieser Sachverhalt daran, dass nicht eine Inhaltsproduktion ihren eigenen Kriterien gemäß eine Form findet, sondern umgekehrt eine apriorische „leere Form“ (hier quasi natural: ein journalistisches Format) „gefüllt“ werden muss. Gerade darin besteht das allgemeinste Merkmal der reellen Subsumtion bei solchen Erzeugnissen.10 Um sich regelmäßig präsentieren zu können, müssen die „Streifzüge“ nicht nur eine Rückwendung zu den Bewegungs- und Zeitgeist-Konjunkturen vollziehen, um entsprechende „Themen“ weitgehend ohne inhaltliche Konfrontation aufzugreifen. Es geht auch noch um etwas anderes.

Notorisch im akademischen Publikationsbetrieb ist das Phänomen der „Mehrfachverwertung“. Das Postulat „publish or perish“ führt dazu, dass ein und derselbe Artikel mit geringfügigen Variationen und verändertem Titel an verschiedenen Orten veröffentlicht wird, um eine gewisse Omnipräsenz und wissenschaftliche Fließbandproduktion vorzutäuschen. Beliebt sind auch „Textbausteine“, die in demselben Sinne ständig umgruppiert und mit unwesentlichen Zusätzen versehen werden. Zwar kann es durchaus sinnvoll sein, bestimmte neue oder besonders brisante Beiträge, die nach einer Erstpublikation von allen möglichen Medien angefragt werden, notgedrungen in diversen Kurz- oder Langfassungen des ursprünglichen Textes erscheinen zulassen. Das ist aber nur als publizistische Ausnahme inhaltsgemäß. Ganz anders verhält es sich dagegen, wenn diese Vorgehensweise zu einer systematischen wird, die auch sekundäre und überhaupt beliebige Inhalte oder Textformate erfasst, wie es längst eingerissen ist. Dass sich daraus eine ermüdende Redundanz in diversen Fachzeitschriften ergibt, wird als Geschäftsbedingung hingenommen und hat sich zur Gewohnheit entwickelt. Trotzdem müssen die Periodika bemüht sein, wenigstens formal auf Originalbeiträgen zu bestehen, die nicht identisch schon anderswo erschienen sind. Das gilt erst recht für Publikumszeitschriften auf dem „freien“ Meinungsmarkt, die es sich gar nicht leisten können, von einer leicht erkennbaren „Mehrfachverwertung“ zu leben, die nur Konsumenten vergraulen würde.

Die „Streifzüge“ gerieren sich nun einerseits als „magaziniertes“ Periodikum auf diesem Markt; andererseits sind sie kaum in der Lage, ihren Kübel mit wirklichen Originalbeiträgen zu „befüllen“. Kaschieren will man dieses Dilemma durch den „jenseitigen“ Bezug auf die Gratis-Mentalität der User. Die Print-Beiträge erscheinen aber nicht nur gleichzeitig oder zeitversetzt auf ihrer Homepage, sondern sie sind zu erheblichen Teilen auch schon an anderer Stelle publiziert worden; teilweise in der linken Tages- oder Wochenpresse, hauptsächlich aber in diversen Blogs, Mailing-Listen etc. – oft Wochen oder sogar Monate zuvor in längeren Fassungen. Die „Streifzüge“ sind so nichts anderes als der „Readers Digest“ eines bestimmten Spektrums von „Meinungsgegenständlichkeit“. Besäßen sie die inhaltliche Ehrlichkeit, von rechtfertigbaren Ausnahmen abgesehen nur Originalbeiträge zu bringen, könnten sie sich glatt eine oder sogar zwei von drei Ausgaben pro Jahr sparen. Man stelle sich vor, EXIT würde im Interesse einer höheren Frequenz des marktförmigen Erscheinens die meisten Artikel, Kommentare, Interviews etc. der AutorInnen, die schon auf der Homepage und/oder in anderen Printmedien publiziert wurden, zwecks „Befüllung“ der Seiten noch einmal abdrucken.11 Genau diese Publikums- und Abonnenten-Verarschung betreiben die „Streifzüge“ systematisch. So sind sie erst recht genötigt, mit der Technik des „Ankommens“ eine warenästhetische Identifikation zu erzeugen, um die Hohlheit der Publikationsform vergessen zu machen.

Die Abonnenten-Uhr

Im akademischen Bereich funktioniert dieser Modus teilweise, weil die warenförmige Existenz indirekt gewährleistet ist. Die AutorInnen leben nicht von Honoraren für ihre Texte, sondern vom staatlich finanzierten Gehalt qua akademischer Position (auch wenn diese selber vor allem im Mittelbau ebenfalls prekarisiert zu werden droht); sie stellen ihre Texte gratis zur Verfügung, weil sie sich davon „kulturelles Kapital“ für das Erklimmen der wissenschaftlichen Karriere-Leiter erhoffen. Umgekehrt erhalten die Wissenschaftsverlage von den Hochschulen Lizenzgebühren, wenn sie ihre (oft gar nicht mehr gedruckten) Publikationen dort für den (universitär begrenzten) kostenlosen elektronischen Zugriff zur Verfügung stellen. Die warenförmige Reproduktion dieser Publizität lebt also letztlich von staatlicher Subventionierung, die allerdings im Zuge einer verschärften Krise der Staatsfinanzen eingeschnürt werden könnte. Gegenüber dem „freien“ Buch- und Zeitschriftenmarkt handelt es sich nur um einen relativ geschützten publizistischen Raum, dessen Akteure natürlich gar nicht den Anspruch einer Transzendierung der Warenform erheben.

Die oben skizzierte Lebenslüge der „Streifzüge“, ihr Publikationsorgan als unmittelbares „Jenseits“ der Warenform zu offerieren, indem sie es gratis ins Netz stellen, bricht sich offensichtlich an ihrer unausweichlichen Existenz auf dem „freien“ Publikationsmarkt. Dieser Widerspruch erscheint nicht nur grundsätzlich als die Doppelstrategie, sich auf diese Weise für die Mentalität der User „angenehm“ zu machen, um sie gleichzeitig trotzdem abzukassieren. Die Paradoxie des doppelbödigen Marktverhaltens steigert sich vielmehr noch, wenn der in diesem Sinne klammheimlich ausgeübte moralische Druck sich geradezu als kraftmeierisches Marketing äußert: „Streifzüge fordern 300 Abos“ (so mehrfach mit wechselnden Zahlen auf dem „Streifzüge“-Cover in den letzten Jahren). Von wem wird hier „gefordert“ und mit welcher Begründung? In einer seiner platten Wortspielereien zum „Verkaufen“ hatte der „Streifzüge“-Herausgeber geschrieben: „Loswerden hat auch mit Wegkriegen zu tun. Gibt es am Markt viele Wegkrieger (durchaus auch zu lesen als Wegelagerer), ist der Krieg derselben unausweichlich“ (Franz Schandl, Vom Verkaufen, „Streifzüge“ 38/2006). Mit seinem begründungslosen „Fordern“ nimmt das eigene Blatt nun selber die Pose des Wegelagerers ein. Nicht der Inhalt spricht, und nicht den LeserInnen wird die Beurteilung überlassen, ob er abonnierenswert ist. Stattdessen soll das Verb „fordern“ suggerieren, dass hier eine muskelbepackte Kraft auf dem Schauplatz der „Wegkriegerei“ erscheint, der man besser Zugeständnisse macht und einen Tribut zahlt, wenn man nicht der Ausgrenzung aus einer forderungsfähigen Gemeinde verfallen will.

Natürlich ist das eine ziemlich primitive Reklametechnik, um Identifikation mit dem Wegelagerer zu erzeugen. Noch primitiver setzt sich diese Technik fort, wenn die „Streifzüge“ von Zeit zu Zeit ihre „machtvolle“ Forderungshaltung als eine Art Abo-Tachometer darstellen. Die „geforderten“ 300 oder 350 usw. sind noch nicht erreicht, aber auf der „Abonnenten-Uhr“ sind schon 279 verzeichnet. Jetzt soll das Publikum mitfiebern, ob das Ziel in Bälde erreicht wird; ungefähr wie beim Zieleinlauf eines favorisierten Sprinters oder Rennfahrers, den man siegen sehen möchte – hier eben beim agonalen Finish der „Wegkriegerei“. So wird radikale Kritik, ohnehin in vieler Hinsicht längst auf die „Zirkulationsgegenständlichkeit“ reduziert, selber unmittelbar als eine solche buchstäblich ins „Rennen“ geschickt in der Arena der „Meinungsgegenständlichkeit“. Die Form der „Verkaufe“ dementiert den Inhalt (oder entspricht seiner Verkürzung); und dem Publikum wird unversehens der Part von „Fans“ übertragen, die bloß ein Formular auszufüllen brauchen, um ein äußerliches Ziel des Absatzes miterfüllen zu helfen.12

Freche Softies

Die „Streifzüge“ dagegen müssen solche Posen (oder ähnliche, der Gestus kann variieren) auf dem Cover einnehmen, weil gerade keine inhaltliche Einlösung der vorgetäuschten Muskelspiele nachfolgt. Beabsichtigt ist wohl eine spezifische Art der Identifikation: Das Publikum soll die gleichsam als Wrestling-Kämpfer präsentierten Textproduzenten-Darsteller als Idole oder, um ein anderes einschlägiges Bild zu verwenden, als „eigene“ Mannschaft beim Länderspiel erleben; und zwar in der Art nicht bloß von gewöhnlichen Fans, sondern von regelrechten, meist als weiblich konnotierten Groupies (einst von Frank Zappa als „Mannschaftsschlampen“ bezeichnet). Man möchte eine Aura von Überlegenheit, Optimismus und Forschheit bilden, mit der das Publikum sich qua Imponiergehabe in eine Ansammlung von gemeinen Mannschaftsschlampen verwandelt, und sei es auch nur in der eigenen Einbildung. Die Mannschaftszugehörigkeit möge den zu bewerbenden Saftladen meinen und ein entsprechendes „Wir“-Gefühl herauskitzeln, etwa nach dem Motto: „Wir Opel-Manta-Fahrer“, „Wir klugen Köpfe hinter der FAZ“ oder im Stil der Media-Markt-Vulgarität („Ich bin doch nicht blöd! Das ist mein Laden!“).

Natürlich muss der Bauern- oder Kindertrick ob seiner Durchsichtigkeit mit einem Augenzwinkern daherkommen. Ist doch nicht so ernst gemeint; wir meinen sowieso nichts ernst, was wir daherreden. Vor allem besteht die „Streifzüge“-Crew ja großenteils aus erklärten Softies, die normalerweise eher unbeschreiblich weiblich aufzutreten belieben als im Schwarzenegger-Look. Aber ein kleines bisschen „frech“ wird man ja wohl noch sein dürfen. So muss dem falschen Obersoftie Franz Schandl ein entsprechendes Image beim Publikum unterstellt werden, „weil Ihr an seine gspritzt-freche Art so gewöhnt seid“ (Lorenz Glatz, Editorial „Streifzüge“ 38/2006). Trotz Gewöhnung bleibt manches gewöhnungsbedürftig. Das Bild vom leicht gspritzten „frechen Softie“ erinnert an das seit Ewigkeiten kolportierte von der „frechen Frau“. Und beide zusammen wiederum erinnern an „freche“ pubertätsgeschädigte Kids. In allen drei Fällen bedeutet „frech“ so viel wie „nicht für voll zu nehmen“, pseudo-aufmüpfig im Modus eines oberflächlichen Getues, real widerstandslos und sich gleichzeitig formal als „widerständig“ zierend.

Frech im buchstäblichen Sinne wird der Softie nur dann, wenn er seine in Wahrheit weiterhin behauptete männliche Suprematie gegen theoretische Zumutungen von weiblicher Seite aufzuplustern sich genötigt sieht. Die Theorie der geschlechtlichen Abspaltung als Weiterentwicklung der Wertkritik und als Bruch mit einer begriffsimperialistischen hegelianischen Diktion war der androgyn maskierten „Streifzüge“-Besatzung von Anfang an ein Dorn im Auge; zumal sie von einer unliebsamen, weniger soften Frau kam. So durfte beim Cover-Imponiergehabe ein besonders smarter Softie in den Ring geschickt werden: „Bönold dehydriert Wertabspaltung“ („Streifzüge“ 43/2008). Was kann man sich unter dieser halb martialischen, halb rohrverlegungs-technischen Metapher vorstellen? Laut Lexikon ist Dehydrierung die Abspaltung von Wasser aus chemischen Verbindungen. Dehydrierte Menschen sind ausgetrocknet mangels Wasserzufuhr. Fritjof Bönold, der so mit seinem Ansinnen großspurig vorgestellte Autor, soll also die Theorie der geschlechtlichen Abspaltung machtvoll trocken legen. Dass diese Absicht gleichzeitig als „Angebot zur Diskussion“ daherkommt und sich als angeblich „immanente Kritik“ geriert, ist natürlich an sich schon eine Frechheit, wenn auch keine besonders „gspritzte“. Der Inhalt bestätigt die Aufmachung, wenn Bönold dann „frecherweise“ der Abspaltungstheorie genau jene positivistischen, formallogischen und androzentrisch-universalistischen „Wissenschaftskriterien“ als Maßstab ihrer Beurteilung unterschieben will, aus deren Kritik sie gerade hervorgegangen ist; oder wenn er sie unter das Joch des obsolet gewordenen postmodernistischen Denkens führen möchte, von dem sie sich gerade bewusst und begründet distanziert hat.13 Dem Softie-Theoriemonteur ist wahrlich nichts zu schwer.

Menschelnde Selbstdarsteller

Die menschelnde Selbstpräsentation treibt natürlich ihre üppigsten Blüten im Netz, wo noch jede dahingerotzte elektronische Stammtisch-Äußerung physiognomisch-bildhaft unterstrichen wird, als könnte sie dadurch an Gewicht gewinnen. Längst ist thematisiert, dass darüber hinaus ein hemmungsloser Exhibitionismus das Medium bestimmt, indem Teilnehmer sich massenhaft sogar mit Aktfotos oder sonstigen Entäußerungen ihrer physischen Existenz (z.B. im Zustand des Deliriums) der anonymen weltweiten Webgemeinde preisgeben. Diese zwanghafte Selbstentblößung hat etwas Trauriges; sie verweist auf die Not des postmodernen Krisen-Individuums in seinem flexibilisierten Dasein als Gesellschaftsatom. Damit verbunden ist selbstverständlich nicht ein Funke von Widerstand, sondern die gnadenlose Affirmation. Die universelle Selbstentblößung ist die extreme Form einer paradoxen Eigenwerbung von „Lebensunternehmern“ als hoffnungslosen „Anbietern ihrer selbst“. Die Kehrseite bildet natürlich der voyeuristische Bezug darauf: „So wird ein allgemeiner Voyeurismus verstärkt, habitualisiert...“ (Haug, a.a.O., 68). Was in den 1970er Jahren noch eng an einer Instrumentalisierung der Sexualität orientiert war, hat sich im Internet zu einem universellen Zusammenhang von Exhibitionismus und Voyeurismus verbreitert, der eine Präsentation und Betrachtung aller „privaten“ Lebensäußerungen einschließt.

Es ist dieser mediale Zustand, aus dem die besinnungslos alberne Bildpräsentation von AutorInnen bis in den „kritischen“ Publizistik-Betrieb hineingeschwappt ist; und das dürfte erst der Anfang sein. Gerade solche Erscheinungen wären ein Feld für die kritische Analyse eines medial überformten Daseins nicht zuletzt im Bereich der zerfallenden bürgerlichen Öffentlichkeit selbst. Aber es gehört umgekehrt zur Pflege ihrer Alltags- und Unmittelbarkeits-Metaphysik, dass die „Streifzüge“ sich genau desselben Mittels bedienen, um jene Suggestion von Authentizität zu erzeugen, die „jenseits“ des Inhalts einer werbepsychologischen Anmache zuarbeitet. Die Konterfei-Präsentation der Redaktion und der AutorInnen in einer biographischen Rubrik (es fehlen immerhin die Aktfotos, die erst komplette Menschenähnlichkeit beweisen würden) geht dabei nicht einfach mit der akademisch üblichen Vita einher, sondern lässt mit launigen Legenden bei einigen Exponaten den tiefen Einblick in ihre ideologischen Präferenzen zu; etwa in folgender Selbstbeschreibung: „virtuelle Scheinexistenz...und unverschämter Plagiant aus Überzeugung, engagiert sich für die eigenen Begehrlichkeiten“ („Streifzüge“-Homepage). Eine vermutlich zutreffende, aber nicht als Selbstkritik verstandene Einschätzung des eigenen Auftretens.

Gern werden auch die intimen Verhältnisse gelüftet. Außer persönlichen Befindlichkeiten scheint dabei die biologische Fortpflanzung eine Art Qualifikation zu bilden. Die publizistischen Akteure werden häufig mit entsprechenden Attributen vorgestellt: „hat zwei Kinder“, „Hausmann eines lieben Weibes, praktizierender Großvater“, „hat einen erwachsenen Sohn“, „>hauptberuflicher< Vater eines 2-jährigen Sohnes“, „Vater dreier Kinder im Alter von 12, 13 und 21 Jahren“, „vier Kinder, acht Enkel, zwei Omas“ usw („Streifzüge“-Homepage). Das Schandlsche „Verbreitern“ scheint auf ziemlich natürlichem Weg vor sich zu gehen. Leider ist die wert-abspaltungskritische Theoriebildung nicht geneigt, auf diesem Gebiet in den öffentlichen Wettbewerb zu treten. Marx hätte dabei immerhin Chancen gehabt, wenn er auf diese geniale Idee gekommen wäre.

Was man im realen Näheverhältnis eines persönlichen Gesprächs vielleicht äußern kann, wird hier als proklamatorisches „Auftauen“ in die Sphäre einer zwangsläufig anonymen Öffentlichkeit gehoben. Die Macher der „Streifzüge“ bilden sich wohl ein, damit schon „ein Stück weit“ das als „abgehoben“ denunzierte Dasein kritischer Publizistik zu transzendieren und dem Gegenstand der Gesellschaftsform nicht mehr „äußerlich“ gegenüberzutreten, indem sie ihre „konkrete“ biographische Individualität zur Schau stellen und damit dem Publikum ihre gesunde Familienmenschlichkeit offerieren. In Wirklichkeit ist gerade diese öffentlich gemachte Intimität selber eine Abstraktion, weil sie gar nicht lebensweltlich vermittelt sein kann. Es handelt sich um das spontan abstrakte Denken des Alltagsverstands, wie es Hegel karikiert hat.

Das mediale Ausplaudern von familiärem Status, Küchengeheimnissen, Marotten und persönlichen Schicksalen öffentlich agierender Menschen gehört ursprünglich zu den Sujets der yellow-press; im Netzverkehr ist es zur inflationären Erscheinung des paranoiden Self-Marketings im Konkurrenzverhalten einer „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ geworden. Auf der Plattform eines Publikationsorgans handelt es sich eindeutig um eine Facette in der Technik des „Ankommens“, um jene Identifikation mit der Ware qua pseudo-lebensweltlicher Nähe zu erzeugen, wie es längst auch im Werbefernsehen gang und gäbe ist („Das Wetter“ wird „präsentiert“ von Karstadt-Quelle-Versicherungen durch den dialektgefärbten Mund von „konkreten“ Alltagsmenschen wie du und ich; in diesem Fall war es allerdings bereits Ausdruck der Bankrottreife). Wahrscheinlich realisieren es die präsentierten AutorInnen nicht einmal, dass sie auf diese Weise warenästhetisch instrumentalisiert werden; aber vielleicht macht es ihnen auch gar nichts aus, weil sie selber so ticken. Die „Streifzüge“-Macher sind derart menschlich, menschlicher gehts gar nicht mehr; fast schon unmenschlich menschlich.

Die Masche ist allerdings noch steigerungsfähig. Empfohlen sei dem Blatt die Aufmachung einer auch im linken Mediengewerbe üblich gewordenen regelmäßigen „Homestory“ als lebensweltliche Lockerungsübung. Erzählenswert wäre etwa, wie beim Redaktionsschluss die Pizza geschmeckt oder wie sich das Betriebsklima wieder einmal enorm warmherzig gestaltet hat. Auch den biographischen Details könnte noch mehr Rechnung getragen werden. Hobbys machen sich menschlich immer gut: „spielt gern Eisenbahn“, „sammelt Bierdeckel“. Nicht schaden könnte mehr familiäre Ehrlichkeit: „lebt im Konkubinat“ oder „pflegt seit seiner Jugend die serielle Monogamie“. Und warum nicht auch sexuelle Vorlieben mit „tabubrecherischer“ Verve ausplaudern: „mag es französisch“, „sucht eine Domina“ oder „glaubt heute nicht mehr an seine Bisexualität“. Ein traditionell weites Feld für empathischen Zuspruch bilden schließlich Krankheiten und Gebrechen, mit denen man auftrumpfen kann: „leidet an chronischem Sodbrennen“, „hat gerade eine Darmspiegelung hinter sich“ usw.14 Wenn sich ganze Bevölkerungsgruppen in ihrer Alltagsbefindlichkeit mit den „Streifzügen“ identifizieren können, dürfte der „Verbreiterung“ nichts mehr im Wege stehen.

Auch ich unter Promis im Pantheon

In derselben Reihe erlauchter Persönlichkeiten finden wir auch Karl Marx, der wieder mal launig und bloß halb ironisch als „jenseitiger Gastautor“ vorgestellt wird; allerdings unbegreiflicherweise nicht mit seinen persönlichen Befindlichkeiten und familiären Qualifikationen („starker Raucher und Trinker“, „drei Töchter“, „ein unehelicher verschollener Sohn“). Eine solche Unterlassungssünde mag darauf zurückzuführen sein, dass Marx von den „Streifzügen“ inzwischen auch als biographische Unperson und Prototyp eines „lebensfremden“ Theoretikerdaseins entdeckt worden ist (vgl. Franz Schandl, Zur Kritik des Theoretikers, in: „Streifzüge“ 43/2008). So hat eben die Orientierung am „Alltagsverstand“ ihre eigene Dialektik. Aber als Renommierpferd im Stall der prominenten „Gastautoren“ kann man den toten theoretischen Übervater immer noch benutzen. Denn trotz aller vorgeblichen Ironisierung ist es den Blattmachern offensichtlich darum zu tun, auf das eigene Erzeugnis einen Abglanz von Ruhm und Seriosität fallen zu lassen, so schräg und zweifelhaft die inhaltlichen Bezüge auch sein mögen.

Besonders perfide ist dieser Eingemeindungsversuch im Fall von André Gorz. Dieser Promi linker Theorie und Gesellschaftsanalyse hatte sich in seinen letzten Lebensjahren dem wert-abspaltungskritischen Paradigma angenähert. Dummerweise geschah dies durch die Gorzsche Kenntnisnahme ausgerechnet jener „zu vielen“ Bücher und Texte von genau denjenigen ExponentInnen wert-abspaltungskritischer Publizistik, die von Schandl u.Co. durch einen intrigant eingefädelten vereinsformalistischen „Coup“ der eigenen Publikationsbasis beraubt werden sollten (was bekanntlich zur Gründung von EXIT geführt hat). Es war keineswegs nur seiner schwierigen persönlichen Situation geschuldet, dass Gorz nicht mehr versucht hat, selber mit den AutorInnen einer Theoriebildung in Verbindung zu treten, die für ihn nach eigenen Aussagen ein ganz neues Feld eröffnete. Schandl gelang es nämlich, bevor diese Möglichkeit überhaupt hätte manifest werden können, den „Kontakt“ zu „besetzen“ und einen Briefwechsel mit Gorz zu inszenieren, in dem er offensichtlich sich selber als „eigentlichen“ Exponenten und Vermittler auszugeben verstand. Gorz hatte sicherlich keine Ahnung vom Charakter des Konflikts innerhalb der alten Wertkritik, der sich inzwischen Bahn gebrochen hatte. Der wurde ihm nun in der Schandl-Version untergejubelt.

Man muss sich nur vorstellen, wie ein hochbetagter Mensch, seine todkranke Frau pflegend, mit der er schon bald gemeinsam aus dem Leben scheiden sollte, sein Interesse an einer neuen Theorie mit der persönlichen Denunziation von deren bekanntesten AutorInnen (die er niemals persönlich kennengelernt hatte) seitens des „ehrlichen Maklers“ verarbeiten musste. Die Verunsicherung geht aus einem Briefauszug hervor, den Schandl in den „Streifzügen“ zu veröffentlichen die Dreistigkeit besaß: „Habe mich aber endlich auch an Robert Kurz' jüngste Veröffentlichungen herangemacht und meine, dass ich so einiges verpasst habe. >Der Weltordnungskrieg< enthält insbesondere in seinem 2. Kapitel die geradezu geniale Begründung von Zusammenhängen, die den Tausenden von Soziologen, Nationalökonomen, Sozialpsychologen, Polizisten, Psychoanalytikern usw. usw., die sich mit dem >Aufstand der Vorstädte< in Frankreich befassten, verborgen geblieben sind...Anschließend habe ich >Das Weltkapital< in Angriff genommen und finde dort die Klärung einiger Fragen, die ich nicht müde werde auch in meinen Briefen zu stellen. Der Mann (Kurz) ist fantastisch. Schade, dass er verrückt wurde“ (Brief v. 22. Dezember 2005, in: „Streifzüge“ 41/2007).

Einerseits zeigt das übertriebene Lob (die Peinlichkeit liegt allein bei der „Streifzüge“-Publikation eines persönlichen Briefs), wie beeindruckt Gorz in inhaltlicher Hinsicht war. Andererseits musste er diesen inhaltlichen Eindruck offenbar in Beziehung setzen zur vom Alpendoktor Schandl angefertigten und Gorz unterbreiteten „Krankenakte“ des bedauerlicherweise „verrückt“ gewordenen Autors. Dass ihm die Sache nicht ganz geheuer war, geht aus demselben Brief hervor: „Worüber ist eigentlich die krisis-Gruppe auseinandergebrochen? Welche Kritik an welcher seiner Thesen konnte Kurz nicht ertragen?“ (a.a.O.). Ja, welche wohl? Diese inhaltliche, begründete Kritik hat es nicht gegeben, sondern die persönliche Denunziation und der von ödipalen Konkurrenzgefühlen getragene rein formale, usurpatorische „Coup“ waren begleitet von einer zunächst schleichenden Umorientierung nicht nur der Schandlschen „Wertkritik“: weg von der theoretischen Begründung und Auseinandersetzung, weg von der notwendigen Eigenständigkeit kritischer Theoriebildung; hin zur „Pseudo-Aktivität“ (Adorno), netzwerk-opportunistischen Szene-Politik, seicht alternativ-ideologischen Ausrichtung und warenästhetisch aufgemotzten „Verbreiterung“ und „Befüllung“ um jeden Preis. 15 Inhaltlich waren es im Gegensatz zu den Gorz unterschobenen Gründen („Kurz kann Kritik an seinen Thesen nicht ertragen“) gerade umgekehrt die Ansätze einer Kritik der „verrückt“ gewordenen AutorInnen an dieser inzwischen zur Kenntlichkeit gereiften Umorientierung, die (neben der lange Zeit ebenfalls implizit gebliebenen Auseinandersetzung um die Abspaltungstheorie) den Hintergrund des Auseinanderbrechens gebildet hatten. Diese wirklichen Gründe mussten Gorz schleierhaft bleiben, weil sie ihm vorenthalten wurden.

Eine weitere Annäherung von Gorz an die Wert-Abspaltungskritik wäre sicherlich aufgrund der unterschiedlichen Ausgangspunkte vor dem Hintergrund einer ganz anderen Lebens- und Theoriegeschichte nicht spannungslos verlaufen. Aber zu einer möglicherweise interessanten theoretischen Auseinandersetzung ist es nicht mehr gekommen; wiederum nicht allein aufgrund seiner persönlichen Situation. Wie aus den Briefauszügen hervorgeht, wurde Gorz mit Elaboraten aus der „Streifzüge“-Küche bepflastert; da konnten die von den EXIT-AutorInnen thematisierten sperrigen Theorieprobleme (die ihn durchaus interessierten und umtrieben, wie aus den Briefstellen hervorgeht) nur störend wirken. Die Widersprüche wurden glattgebügelt, weil es gar nicht um eine vermittelnde Auseinandersetzung zwischen dem Gorzschen Gedankengut und der Wert-Abspaltungskritik ging, sondern genau umgekehrt um die Auflösung der „Wertkritik“ in eine verkürzt „praxeologische“, lebensreformerische Sozialbastelei, für die Gorz als Galionsfigur gekrallt werden sollte.16

Seine Beschäftigung mit dem neuen theoretischen Paradigma wurde zugeschüttet von dieser Instrumentalisierung; ihm muss es so vorgekommen sein, dass sich hier „junge Leute“ seinem alten Verständnis annähern, was es natürlich erleichterte, die Grundfragen entsprechend zu kanalisieren. Das ging auch, weil Gorz die „Open-Source“-Ideologie Meretzscher Prägung begeistert begrüßte und offenbar nicht nur für völlig kompatibel mit der grundsätzlichen Formkritik, sondern geradezu für deren authentischen Ansatz hielt.17 Dass er die Widersprüche nicht mehr realisieren konnte, geht aus einer seiner letzten brieflichen Äußerungen hervor: „Zur Zeit hatte ich nicht einmal genug Kraft, um täglich die Zeitung zu lesen“ (Brief v. 7. November 2006, a.a.O.). Das inzwischen im EXIT-Zusammenhang thematisierte entscheidende Problem einer Unteilbarkeit der gesellschaftlichen Synthesis, die nicht partikular transformiert werden kann, kam gar nicht zur Sprache. Wie aus den Briefauszügen hervorgeht, war Gorz nach wie vor geneigt, mit der Frage der Waren- und Geldform gesellschaftlicher Reproduktion eher pragmatistisch und partikular „bereichsorientiert“ umzugehen (bis hin zu „Geldreformen“).

Wenn Gorz seine Einlassung auf die neue wert-abspaltungskritische Theorie nicht mehr zu Ende führen konnte, so muss man die Art und Weise, wie er postum nicht nur für die Verbiegung dieses Paradigmas, sondern auch für die niederträchtige Konfliktbearbeitung durch Schandl u.Co. vereinnahmt wurde, als eine Art intellektuelle Leichenfledderei bezeichnen. Er darf nun als weiterer toter „Gastautor“ im Bauchladen-Projekt figurieren; und bei soviel historischer Prominenz kann das Blatt ja gar nicht falsch liegen. Im Zuge der „Verbreiterung“ mag sich noch jeder mehr oder weniger selbstgefällige Schreiber der „Streifzüge“ sagen: Auch ich unter Promis im Pantheon oder in der Walhalla von Koryphäen des Geistes. Und warum nicht noch weitere Größen als postume Mitarbeiter eingemeinden, mit denen zusammen man „textet“; irgendwelche „Stellen“ in den Schriften der Menschheit werden sich schon finden. Vollends Ehrfurcht gebietend wird das Blatt erst, wenn es sich von Aristoteles und Goethe bis zu Martin Luther King und Mutter Teresa den berühmtesten Autorenstamm aller Zeiten hält, der dann auch die eigenen Wenigkeiten nicht mehr ganz so schäbig aussehen lässt.

Das Design ist die Botschaft

Der „faulige Zauber des Warencharakters“ (Walter Benjamin, zit. nach: Haug, a.a.O., 112) beschränkt sich natürlich nicht auf auratische Inszenierungen, sondern muss auch im Produkt selber zum Ausdruck kommen. Die Aura erzeugt identifikatorischen Schein, aber die totale Verpackung hat viele Schichten, bis sich ein Kern zeigt, der vielleicht auch bloß Schein ist. Die Falschheit des „Gebrauchswertversprechens“ enthüllt sich, wenn man nach dem Kauf und der Auswicklung buchstäblich ins Leere greift. Bekannt sind etwa bei Lebensmitteln und Kosmetika die sogenannten Mogelpackungen, die weitaus mehr Produkt versprechen, als sie wirklich enthalten. Diese Art der Mogelei ist noch relativ harmlos gegenüber den Verpackungskünsten bei Geistes- und Kulturwaren der Bewusstseinsindustrie. Hier hat sich der Imperialismus der „leeren Form“ zur vollen Blüte entwickelt.

Eine nochmalige Steigerung erlebt die Verselbständigung und Hypostase der Verpackungsform im Internet. In demselben Maße, wie individuelle Homepages, Blogs, Plattformen etc. aus dem Boden schießen, steigert sich auch die Bedeutung von graphischen, bildhaften und virtuell beweglichen Darstellungselementen. Je platter und ärmer der Inhalt, desto mehr muss die Inszenierung und Selbstinszenierung davon geprägt sein und sich mit technischen Finessen im Web-Design aufrüsten. Was die Warenästhetik grundsätzlich kennzeichnet, hat sich in der Netz-Präsentation zum längst vorhergesagten, nicht mehr überbietbaren Endstadium fortentwickelt: Das Design ist die Botschaft.

Dabei verlagert sich auch das Verständnis von „Innovation“ zunehmend auf diese formale Seite des „Erscheinungsbildes“. Genauer gesagt: Es handelt sich um eine bestimmte Art von Ästhetisierung des Gegenstands, die den Inhalt erst recht zum Uneigentlichen, von vornherein Sekundären degradiert. Die ältere Ästhetisierung der Ware, die ihren Gebrauchswert unwesentlich macht, hat sich bekanntlich längst auch zu einer spezifischen „Ästhetisierung der Politik“ fortentwickelt, wie es Walter Benjamin bereits am Nationalsozialismus und seiner Bewusstseinsmaschine gezeigt hat. Nach 1945 sind Warenästhetik und Ästhetisierung des Politischen zu einem Gesamtkomplex verschmolzen, dessen Übergreifen auf die kulturellen, literarischen, wissenschaftlichen und theoretischen Gegenstände ebenfalls bereits Geschichte ist, aber eben erst im neuen virtuellen Raum seine Apotheose erfährt. Dabei werden individuelle wie kollektive (von Gruppen oder Positionen getragene) Aussagen im Netz demselben Prozess unterworfen, wie er vor Jahrzehnten erst an Mechanismen der damaligen Werbeindustrie im engeren Sinne gezeigt werden konnte: „Ihrem Antrieb nach ist die ästhetische Innovation...wesentlich ästhetische Veraltung, das Neue als solches interessiert sie nicht“ (Haug, a.a.O., 52). Das Neue als solches interessiert deshalb nicht, weil es um keinen neuen Inhalt geht, sondern eben nur um das gewollte Veralten des bisherigen „Erscheinungsbilds“. Auf diese Weise „wälzen regelmäßige ästhetische Innovationen den Gebrauchswert hin und her“; es kommt zu „einer rastlosen ästhetischen Umwälzung“ (a.a.O., 54). Als rein äußerliche Veränderung, als bloße Modelung von Design, soll die ästhetische Innovation „Funktionsträger der Regeneration von Nachfrage“ (ebda) werden.

Die Selbstdarstellung im Netz ist großenteils keine unmittelbare Ware-Geld-Beziehung, aber immer schon Bestandteil jener virtuellen Selbstverwertung im Konkurrenzkampf einer universellen „Ökonomie der Aufmerksamkeit“. Deshalb bildet das Web-Design nicht nur für tatsächlich kommerzielle Anbieter im eigentlichen Sinne, sondern auch für Individuen und Gruppen mit kulturellen, politischen oder theoretischen Labels das Wesen der Aufmerksamkeitserregung, nicht der Inhalt. Die rastlose „ästhetische Innovation“, die immer wieder das bloße Erscheinungsbild umwälzt, heißt hier „Relaunch“. Der Begriff stammt keineswegs zufällig aus dem Marketing. Wörtlich bedeutet er „Neustart“. Laut Wikipedia (dort muss man das ja wissen) geht es dabei im Sinne des Marketings um „die Einführung von direkt auf dem Vorgänger aufbauenden Nachfolgeprodukten, die meist dazu dienen soll, den abschwächenden Absatz im Reifestadium des Produktlebenszyklus zu stabilisieren...oder einem solchen vorzubeugen“ (http://de.wikipedia.org/wiki/Relaunch). Es handle sich, wie es verräterisch heißt, um die „innovationsarme Substitution eines bereits bestehenden Produkts“ (ebda).

Im Netz ist der „Relaunch“ bei den Selbstpräsentationen inflationär geworden. Schwerpunkte sind stets „die Orientierung an neuen technologisch-organisatorischen Aspekten sowie die grundständige Überarbeitung der visuellen Darbietung“ (Wikipedia, a.a.O.). Viele Websites leben bei dürftigem Inhalt, der gar keiner extra Präsentation wert wäre, von der periodischen Umformung des „Webauftritts“ in diesem Sinne. Schon wieder ein „Neustart“, der den User mit neuen Konfigurationen, Symbolleisten oder Anklickmöglichkeiten erfreut, die allesamt nichts mit inhaltlichen Weiterentwicklungen zu tun haben. Es versteht sich von selbst, dass die „Streifzüge“ mit ihrer auf Köderung und Absatz erpichten „Kundenorientierung“ beim „Relaunch“-Unwesen nicht nur begeistert mitmischen, sondern allen Ernstes die jeweilige formale „Überarbeitung des Webauftritts“ richtiggehend zum Feiern freigeben, als hätten sie eine vom Hocker reißende gesellschaftskritische Entdeckung gemacht. Geladen wird zur „Relaunch-Party“ („Streifzüge“-Homepage, 24.3.2009) des Blatts, wo der Prosecco knallen soll, weil die „Homepage www.Streifzuege.org“ wieder mal „ganz neu“ (ebda, 3.4.2009) konfiguriert sei.

Das Design ist aber auch auf der Sprachebene selber die Botschaft. Zwar gehört zur Autorschaft zweifellos die Herausbildung eines persönlichen Sprachstils, der über langjährige publizistische Tätigkeit heranreift und ein besonderes Element der Darstellung von Inhalten bildet. Auch dabei kommt es aber auf das Verhältnis von Form und Inhalt an. Es ist der Inhalt, der eine sprachliche Form finden muss; nicht umgekehrt. Das gilt auch für die stilistischen Mittel von Witz und Ironie, das Aufgreifen von Alltagssprache, Slang-Ausdrücken, „Unworten des Jahres“ etc., die nicht nur für eine polemische Zuspitzung der Argumentation stehen, sondern überhaupt für eine lebendige Sprache, die sich nicht steril in eine klassizistische Ausdrucksweise „auf dem Kothurn“ oder in einen öden und pseudo-sachlichen Wissenschaftsjargon einsperren lässt. Sprache verändert sich historisch, und dieser Tatsache ist Rechnung zu tragen oder sie kann sogar aktiv beeinflusst werden. Die sprachliche Innovation kommt oft weniger aus dem Literaturbetrieb, sondern eher „aus der Gosse“ und aus dem anonymen Sprachwitz der aktuellen Ereignisgeschichte. Natürlich kann man dabei auch danebengreifen. Metaphernsalat und falsche Bilder müssen durch ein sorgfältiges Lektorat korrigiert werden, auch wenn das bei „Deadlines“ nicht immer möglich ist und der eine oder andere schräge Zungenschlag übersehen wird.18 Manche Gegenstände oder Verhaltensweisen im Rahmen des herrschenden Unwesens lassen sich nicht anders darstellen als in saftigen Ausdrücken und „Unflätigkeiten“; aber auch dabei muss man ein Gespür für Treffsicherheit entwickeln, das nicht voraussetzungslos ist.

Marx hat sich häufig dialektischer Wortspiele bedient, die in der Umkehrung von Bedeutungsgehalten auf eine Zuspitzung des Sachverhalts zielen; etwa wenn er Proudhons „Philosophie des Elends“ durch das „Elend der Philosophie“ karikiert, oder wenn er sagt, dass „die Waffe der Kritik“ (der theoretischen Reflexion) nicht die „Kritik der Waffen“ (die praktische und eben auch gewaltsame revolutionäre Umwälzung) ersetzen könne. Das Wortspiel ist hier nicht leer, sondern es setzt eine inhaltliche, meist polemische Konfrontation in Gang, die den sachlichen und/oder argumentativen Widerspruch zum Vorschein bringt. Wenn dagegen zwanghaftes Streben nach sprachlicher „Originalität“ zum Motiv wird, geht dieser Zusammenhang zunehmend verloren. Auch in dieser Hinsicht verschlingt dann der (warenästhetische) Imperialismus der Form das, was gesagt werden soll; oder er motzt inhaltlich hohle und triviale Aussagen rein äußerlich durch einen manierierten Sprachgestus zu einer Bedeutungsschwangerschaft auf, die sie gar nicht haben. Auch die Werbung operiert oft mit Wortspielen; aber dabei geht es erst recht nicht um die inhaltliche Zuspitzung von Gegensätzen in der Sache, sondern um eine leere Konfiguration von Bedeutungsverschiebungen, die einzig und allein der „Aufmerksamkeitserregung“ dienen, um als sprachlicher Gag im Gedächtnis der Betrachter haften zu bleiben und mit der jeweiligen Ware verbunden zu werden.

Bei den „Streifzügen“ sind der „polemische Stil“, die bissige (nicht bloß selbstlegitimatorische) Ironisierung, die „Unflätigkeit“ etc. strengstens verpönt, weil jede inhaltliche Zuspitzung der Absatzstrategie nur schaden könnte. Stattdessen macht sich ein „literarisierender“ (den alten „philosophischen Roman“ oder mehr noch die postmoderne „Philosophie als Lebenshilfe“ imitierender) Sprachgestus breit, der eine leere und effekthascherische „Originalität“ suggeriert, dabei aber die inhaltliche Konfrontation „breimäulig“ (ein beliebter Ausdruck von Marx) verschwiemelt und damit das Design der Aussage verselbständigt. Dafür steht an vorderster Stelle der sprachliche Manierismus des Herausgebers Franz Schandl, der immer wieder einen gewissen Unterhaltungswert unfreiwilliger Komik hat. Das Sprachdesign erinnert dabei nicht nur an die Wortspiele von Werbetextern, sondern mehr noch an eine Art Predigersprache, wie sie seit Billy Graham Elemente der Werbesprache moralistisch oder pseudo-existentialistisch überhöht und gemodelt hat.

Nicht nur bei Schandl werden so reine Null-Aussagen hinsichtlich Sachgehalt, Analyse und Kritik mit einer Art Heideggerschen Aura des Raunens versehen, die existentielle Tiefgründigkeit vortäuschen soll; etwa beim Thema „Wohnen“: „Wenn wir wohnen – was tun wir, was geschieht uns?“ (Franz Schandl, Raum für die meiste Zeit, in: „Streifzüge“ 47/2009). Das klingt bedrohlich, ist aber eine Einleitung eher für das „Wort zum Sonntag“ als für einen Essay radikaler Kritik. Und noch geschwollener geht es über ganze Passagen weiter: „Im Wohnen drückt sich aus ein mächtiges Wo, welches das Wohin immer an das Woher verweisen will“ (a.a.O., Hervorheb. Schandl). Bei soviel Bedeutungsschwere kann man schon mal die Orientierung verlieren. Hoffentlich finden wir wieder heim nach der Lektüre. Aber zum Glück gilt: „Das Wohnen ist einem nahe, nicht fern“ (a.a.O.). Na also, so schwer ist das doch gar nicht: „Wohnen hat etwas von Zurückkommen und Zusichkommen“ (a.a.O.). Freilich sind damit noch nicht alle Orientierungsprobleme gelöst: „Wer nicht zu sich kommt, kann auch nicht zum Anderen kommen“ (Maria Wölflingseder, My Home is my Aura, in: „Streifzüge“ 47/2009). Vielleicht sollte man mal die existentielle Dimension eines Stadtplans ausloten.19

Die Metaphysik der „Alltagsbefindlichkeit“, der man sich „angenehm“ machen und der man mit solchen Sprachblasen offenbar imponieren will, hat womöglich wirklich etwas vom Elend eines hilflos umherirrenden Demenzkranken; nur ist die Assoziation natürlich eine ungewollte. Geklärt wird damit nichts, nicht einmal im Sinne einer „Lebenshilfe“. Der Gestus erinnert eher an den steinalten Witz vom Sozialarbeiter, der, nach dem Weg zum Bahnhof gefragt, antwortet: Weiß ich auch nicht, aber gut, dass wir darüber geredet haben. Wortspiele und Elaborate nach dem Muster von verquasten Menschlichkeits-Predigten, präsidialen Sonntagsreden und sozialpädagogischen Scheinproblematisierungen haben mit inhaltlicher Schärfe der Darstellung nichts zu tun; sie dienen einzig dazu, dem adressierten Alltagsverstand seine falsche Unmittelbarkeit auf eine existential-ontologisch aufgeladene Weise zurückzuspiegeln, um seine Aufmerksamkeit zu ködern. Er soll sich wohl sagen: So isses, aber derart tiefschürfend hätte ich das nicht ausdrücken können.20 Damit sind „vier alle“ durch die „Geworfenheit“ in unsere vier Wände aufgehoben und können uns dem gemütlichen Erschauern über die Abgründigkeit unseres bedeutungsvollen Daseins hingeben.

Slogan-Politik und Beschäftigungstherapie für die Kundschaft

Kaum überraschend operieren die „Streifzüge“ auch mit diesem Mittel der auf das Warenbewusstsein zugeschnittenen werblichen Psychoindustrie. Dabei werden zunächst einzelne Aussagen kategorialer Kritik aus ihrem Bezugsfeld des inneren Form- und Funktionszusammenhangs kapitalistischer Reproduktion gerissen, um sie isoliert auf Slogans zu reduzieren. Als zentral bei den „Streifzügen“ figuriert dabei der ominöse Satz „Keine Politik ist möglich“, der in Gestalt eines graphisch aufgemachten Fensters oder einer Randleiste ständig wiederholt wird. Für sich genommen ist diese Aussage ohne ihren Begründungszusammenhang nahezu sinnlos, gleichzeitig aber auch nicht abgrenzbar von einer reaktionären, emanzipationsfeindlichen „Antipolitik“, wie sie gerade in Deutschland und Österreich vom späten 19. Jahrhundert bis zum NS durch die affektive Blutsideologie gegen das „westliche“ Verständnis kapitalistischer Staatsbürgerlichkeit propagiert worden war. Wenn die dazu völlig gegensätzliche wert-abspaltungskritische Negation der politischen Funktionssphäre (als andere Seite des Kapitals) deutlich gemacht werden soll, kann dies nur durch die begrifflich-analytische Entfaltung dieser Kritik geschehen. Deshalb verbietet sich in dieser wie in allen anderen Fragen das Herunterbrechen auf einen scheinbar griffigen Slogan für das unmittelbare Bewusstsein. Es geht aber nicht nur um diese schon früher gelegentlich angesprochene Verkürzung der kategorialen Kritik, die einer reaktionären Interpretation zuarbeiten kann. Vielmehr verwandelt sich mit dieser Reduktion auf eine agitatorische Phrase die kategoriale Kritik des Politischen in eine selber politizistische Formel, d.h. sie nimmt unbewusst die Gestalt des vermeintlich kritisierten Gegenstands an.22

Noch mehr verkürzt und entstellt wird der Inhalt kategorialer Kritik, wenn er nicht einmal mehr in der Form einer Satzaussage daherkommt, sondern (abermals nach einem Muster der Werbeindustrie) nur noch einzelnen Wortbrocken unterlegt ist: So tauchen in graphischen Feldern oder Kästen das Label „Streifzüge“ und seine Internetadresse mit den kryptischen Zuordnungen „jenseits“ bzw. „wertlos“ auf. Hier ist endgültig keinerlei Zusammenhang mehr erkennbar; die Wörter haben sozusagen nur noch graphische Aufmerksamkeitsfunktion. Das Phänomen erinnert an mehr oder weniger witzige Aufdrucke auf der Frontseite von T-Shirts, etwa das Partizip „Begnadigt“, oder die Bezeichnung „Kampftrinker“ auf Schirmmützen, wie sie gern von ahnungslosen japanischen Touristen in Andenkenläden gekauft werden. „Jenseits“ und „wertlos“ als werbliche Selbstbezeichnungen signalisieren freilich zum wiederholten Male nur eine höchst unfreiwillige Komik. Inhaltlich wird hier absolut nichts mehr vermittelt, noch nicht einmal in einem aus jedem Begründungszusammenhang gelösten, bloß gestammelten Versuch von Begriffsbestimmung.23

Zu den Vorgehensweisen der Warenästhetik gehört es, Labels und derart zugeordnete, an sich sinnlose wortgraphische Ausdrücke der Kundschaft in gegenständlicher Form auszuhändigen, um diese gewissermaßen als lebende Litfaßsäulen zu missbrauchen. In derselben Manier offerierten die „Streifzüge“ ihrem Publikum jahrelang die Felder „Keine Politik ist möglich“ und „Streifzüge, jenseits, wertlos“ als Klebezettel, die man en gros bestellen konnte. Es verbietet sich, Überlegungen zur Bewusstseinslage von Leuten anzustellen, die solche Zettel an Laternenpfähle, Hydranten oder Toilettenwände kleben und so etwas womöglich für eine Form „wertkritischer Praxis“ halten. Hier ist jeder Vermittlungszusammenhang gelöscht; es geht allein um die abstrakte Absatz-Bewerbung eines völlig anonymen Massenpublikums, die nur noch auf irgendeine Art von „Seife“ verweist. Diese Klebezettel-Inszenierung zielt eindeutig auf eine Beschäftigungstherapie für das imaginierte Fußvolk, dessen infantile Instinkte bedient werden sollen.24

Ihren Ursprung hat die Technik der beschäftigungstherapeutischen Instrumentalisierung vermutlich in der Devotionalien-Industrie des Katholizismus seit dem Ausgang des Mittelalters, wie sie heute noch an Wallfahrtsorten floriert. Auch die alte Sozialdemokratie als Prototyp des modernen Parteienunwesens operierte mit solchen Mitteln eines vergegenständlichten Agitprop-Stils, um die Anhänger zu bewusstlosen Trägern eines identifikatorischen Imperativs zu machen. Erst sekundär, aber folgerichtig ist die einschlägige Mobilisierung der Kundschaft seit dem späten 19. Jahrhundert in die kommerzielle Absatzstrategie eingedrungen. Die Revitalisierung solcher längst von der Werbeindustrie ausgelaugten Mittel, deren Aufmerksamkeitswert in Wahlkämpfen ebenso stumpf geworden ist, ausgerechnet für eine den „Alltagsverstand“ umschmeichelnde Pseudo-“Wertkritik“ ist natürlich ausbaufähig. Zu denken wäre etwa an Nachthemden, Luftballons oder Maßkrüge mit der Aufschrift „Streifzüge, jenseits, wertlos“. Aber anscheinend ist diese Form der Aufmerksamkeits- und Identitätserregung inzwischen eingestellt worden; sicher nicht aus Einsicht in deren Charakter, sondern wegen schlichter Erfolglosigkeit. So schnell und einfach folgt eben aus der Preisgabe der reflexiven Begründung kein unmittelbarer Massenkonsum. Für derart dumm lässt sich offenbar nicht einmal das „Streifzüge“-Publikum verkaufen.

Betroffenheitslyrik als Erbauungsliteratur

Diese Ausrichtung war auch bei den „Streifzügen“ nicht von vornherein gegeben und steht im Gegensatz noch zur alten Wertkritik; sie ist das Resultat jener Umorientierung, wie sie in der Spaltung angelegt war und vor einem halben Jahrzehnt von Roswitha Scholz als Rückfall in das „Betroffenheitspostulat“ (Der Mai ist gekommen, in: EXIT 2/2005) dingfest gemacht worden war: „Gerade in der Krise kann es konkurrenzvermittelt zum Rekurs auf partikulare Standpunkte kommen, die pseudo-konkret und unmittelbarkeits-fetischistisch die eigene Betroffenheit in einer bestimmten objektiven Lage zum Maßstab nehmen“ (a.a.O.). „Konkurrenzvermittelt“ meint, dass die subjektive Situiertheit und deren unmittelbare Selbstdarstellung immer schon durch die sozialen Konkurrenzlagen der gesellschaftlichen Synthesis vermittelt sind. Dieser Zusammenhang wird allerdings durch das persönliche Betroffenheitspostulat gerade ausgeblendet, und zwar je mehr die Konkurrenz als realabstraktes Verhältnis nur noch in einer moralisch veräußerlichten Anprangerung erscheint.

Die inhaltliche Umorientierung und Verkürzung geht einher mit einer entsprechenden Reduktion gesellschaftlicher Sachverhalte auf „existentielle Einzelheiten“, wobei die immanente Vermittlung mit der kapitalistischen Logik nur noch auf dem Beipackzettel als bloße Versicherung thematisiert wird. Irgendwie hat das alles etwas mit Kapitalismus zu tun, daran erinnert man sich dunkel, aber darum geht es nicht mehr so sehr. Die Folie bildet eine journalistische Konzentration auf „Themenhefte“, wie sie mit dem Sujet „Wohnen“ („Streifzüge“ 47/2009) eingeleitet wurde. Natürlich ist es durchaus möglich, bestimmte Sachverhalte als solche zum Gegenstand zu machen, darunter auch die berühmte „Wohnungsfrage“; aber radikale Kritik verlangt dann, diese Gegenstände aus dem inneren Zusammenhang negativer Vergesellschaftung heraus zu entwickeln statt sie in ihrer unmittelbaren Einzelheit zu fixieren.25 Wenn diese Einzelheit den Raum der Thematisierung von gesellschaftlichen Gegenständen dominiert, verflacht und verblasst die kritische Intention; es wird nur noch das So-Sein abgenudelt.26

Bei den „Streifzügen“ führt diese Ausrichtung dazu, sich über die Präsentation personaler Masken hinaus auch inhaltlich auf die Ebene des für sich stehenden Alltagserlebens zu begeben, wie sie dann beim Thema „Wohnen“ einen überproportionalen Platz beansprucht. Das funktioniert nach dem Motto „Wie geht es mir so bei mir daheim“ (im Kapitalismus), wobei die Einklammerung Methode hat und der negative Begriff der gesellschaftlichen Produktions- und Lebensweise eigentlich gestrichen werden könnte. Man hofft damit wohl, im Mainstream des Netzverkehrs mitschwimmen zu können, wo massenhaft Leute der Welt ihre täglichen Küsse und Ergüsse mitteilen, um „Aufmerksamkeit“ für ihr „tolles“ Einzeldasein abzuholen.

Das geht dann so: „Meinereins, zur forschenden und schreibenden Zunft gehörend, bevorzugt so wie Künstler generell als Platz der Inspiration meist die eigenen vier Wände“ (Maria Wöflingseder, My Home is my Aura, in: „Streifzüge“ 47/2009). Was dort stattfinde, sei die „Magie des Augenblicks“ (a.a.O.). Origineller hätte man das nicht ausdrücken können. Diese „Magie“ erzeuge eine gewisse „Unordnung – in meiner Wohnung“ (a.a.O.). Aber immerhin: „Ganz so wie auf dem Foto der Grande Dame der österreichischen Literatur Friederike Mayröcker in ihrer >Wiener Verzettelungswirtschaft<, auf dem sie zwischen Papierbergen zu verschwinden droht, sieht es in meiner noch nicht aus“ (a.a.O.). Wie schön für die „Streifzüge“-Betroffenheitsdame, dass ihre Behausung noch nicht ganz so versaut ist wie die einer richtigen Schriftstellerin. Ein Minimum an Ordnung und Sauberkeit muss schließlich sein, wenn man in der „Breite“ des Volkes mit seiner Befindlichkeit hausieren gehen will. In diesem Sinne lässt sich auch der spiritus rector des ganzen Geschwurbels nicht lumpen: „Wir wohnen hier aber ganz komfortabel...Die Böden sind aus Holz, die Wände sind hoch, zwei funktionstüchtige Kachelöfen gibt es auch noch“ (Franz Schandl, Living room, in: „Streifzüge“ 47/2009). Störend ist vielleicht nur das „Papier, das auf meinen drei Schreibtischen...herumliegt“ (a.a.O.).

Was will uns das alles sagen? Das Betroffenheitspostulat hat hier nicht einmal mehr ein aufs Persönliche reduziertes Potential von Kritik. Die Botschaft heißt eigentlich nur: So übel geht es „uns“ im Kapitalismus eigentlich gar nicht. Es sei denn, man wollte die Tatsache, dass ein Schandl auch auf „drei Schreibtischen“ inhaltlich-theoretisch nichts auf die Reihe kriegt, als das eigentliche gesellschaftlich-historische Verhängnis interpretieren, an dem der Kapitalismus mindestens so schuld ist wie an der Massenverarmung. Ganz naiv macht sich dabei eine Mittelschichts-Gemütlichkeit geltend, die auf der Hoffnung beruht, dass es für „uns“ so schlimm nicht werden kann; es wird „ein primäres Interesse in Bezug auf die eigene Person eingenommen“ (Roswitha Scholz, Der Mai ist gekommen, in: EXIT 2/2005) und es zeigt sich die „Fiktion und Illusion einer postmodernen Normal-Alltags-Existenz“ (a.a.O.). Die Betroffenheitslyrik der „Streifzüge“ trägt alle Züge einer Erbauungsliteratur für die affirmative Selbstbeweihräucherung eben dieser Normalexistenz.

Dabei schrumpft die gesellschaftliche Vermittlung auf einen nur noch implizit erkennbaren Anspruch, der die eingedampfte Kritik an das eigene So-Sein bindet: „Ja, indem wir uns auf unsere ureigene Betroffenheit im Alltag besinnen, sind wir gegenüber >den anderen< ausgesprochen edel und großmütig, wir entmündigen sie nicht, wollen nicht ihre Stellvertreter sein und missbrauchen sie nicht als Phantasma vom revolutionären Subjekt – denn das sind wir jetzt nämlich heimlich, still und leise wieder selber, wäre da noch hinzuzufügen“ (Roswitha Scholz, a.a.O.). Ein Subjekt allerdings, das am liebsten in seiner muffigen Höhle mitsamt der „Magie des Augenblicks“ überwintern und das Unheil „da draußen“ lassen möchte.

Dieses Denken folgt einem sattsam bekannten Impuls, der „das scheinbar >Unmittelbar-Konkrete< gegen das >Abstrakte< auszuspielen versucht“ (Roswitha Scholz, a.a.O.), wie ihn übrigens Moishe Postone als eine Voraussetzung des Antisemitismus (noch bevor dieser explizit in Erscheinung tritt) gekennzeichnet hat. Epistemisch ist die Fixierung der scheinbar „konkreten“ (hier der persönlichen) Einzelheit und „sinnlichen Gewissheit“ jedoch gerade die allerärmste Abstraktion, wie es Hegel schon zu Anfang der „Phänomenologie“ zeigt. Denn dieses „sinnliche“ Einzelne wird dann selber nur abstrakt gefasst, indem das entsprechende Bewusstsein von der wirklichen Vermitteltheit durch das Allgemeine nichts weiß bzw. hier nichts mehr wissen will. So grundsätzlich Hegel zu kritisieren ist, wenn er in und trotz der begrifflichen Vermittlung das Einzelne letztlich dem Diktat des Allgemeinen (der gesellschaftlichen Wertabstraktion) unterwirft und es darin in einer falschen „Versöhnung“ auflöst (wie von Marx und Adorno negativ dargestellt), so wenig wird diese Kritik durch eine bloße Umkehrung geleistet, sondern damit selber auf den Standpunkt der isolierten „Existenz“ vergattert. Die gähnende Lücke zwischen der abstrakten persönlichen Einzelheit und der negativen abstrakten Allgemeinheit des Gesellschaftlichen muss dann eben mit jenem predigerhaften, existential-ontologischen Begriffsmüll gestopft werden: „Reich ist, wer viel Zeit hat, wer viele Freunde und Freuden hat, wer vor allem sich selbst hat“ (Franz Schandl, Reich und gut, in: „Die Brücke“ 153/2010). Außer „drei Schreibtischen“ hat Schandl auch noch „sich selbst“; und das ist eindeutig zu viel. Da kann man nur noch salbungsvoll werden.

Diese Reduktion hat allerdings auch fatale Konsequenzen für die Perspektive der gesellschaftlichen Umwälzung, die dann ebenso auf die ungesellschaftliche Ebene der persönlichen Einzelheit und des unmittelbaren „Alltags“ eingeschrumpft wird. Dafür dient als Folie eine Denunziation der „Abstraktheit von Theorie“, die man auf doppelte Weise bemüht. Einerseits wird (wie im postmodernen Denken) der reale Totalitarismus der Verwertungslogik gleichgesetzt mit einem Totalitarismus der kritischen Theorie als angebliche „ideelle Gewalt des Geistes“ (Franz Schandl, Zur Kritik des Theoretikers, in: „Streifzüge“ 43/2008), also die radikale Kritik des realen Totalitarismus mit diesem in eins gesetzt. Die kritische „Gewalt des Geistes“ erscheint so als bloße Zumutung, die eigene persönliche Lebenswirklichkeit irgendwelchen fernen revolutionären Zielen asketisch aufzuopfern. In dieser Plumpheit stimmt das nicht einmal für den traditionellen Marxismus und seine historischen Bewegungen, sondern nur für den Faschismus und Nationalsozialismus bzw. für religiöse Fundamentalismen. Trotz ihrer Modernisierungsfunktion ging es der traditionellen Linken immer auch um die höchst diesseitigen Lebensbedürfnisse, und zwar auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene; der Widerspruch lag in der ideologischen „Anerkennung“ von abstrakter Arbeit und Verwertungslogik. Die einseitige Zuschreibung jenes „Aufopferungsdiktats“ ist nur eine Schutzbehauptung der „Streifzüge“-Ideologen für die eigene Befindlichkeits-Sülze.

Andererseits muss natürlich die „Person des Theoretikers“, der sich angeblich von „seinen Sinnlichkeiten absentiert“ (Schandl) unmittelbar als Negativfolie für das selber abstrakte „Sinnlichkeits“-Geblöke herhalten. Es wird so getan, als käme „dem Theoretiker“ per se eine nicht bloß „abgehobene“, sondern geradezu ätherische, fleischlose, geschlechtslose, im Grunde unwirkliche Existenz zu, die „den Alltag“ (auch den eigenen) negieren würde. Als „konkreter“ Gegensatz wird ein von Sinnlichkeit strotzendes „richtiges Leben“ beschworen und explizit gegen das bekannte Adornosche Verdikt beansprucht.27 Als hätte ausgerechnet Adorno damit gemeint, im kapitalistisch konstituierten „falschen Leben“ dürfe man bewusst nur freudlos, sauertöpfisch und mit ewig zusammengebissenen Zähnen dahinvegetieren, um ja nicht den Kapitalismus durch „ein bisschen persönliches Glück“ zu legitimieren. So wird gegen die ausgesprochene Unmöglichkeit, in diesen Verhältnissen schadlos zu bleiben, über den vermeintlich ertappten negativen Philosophen brühwarm mitgeteilt: „Adorno wohnt trotzdem“ (Julian Bierwirth, in: „Streifzüge“ 47/2009). Im Wald hat er wahrscheinlich nicht kampiert. Hier haben wir es aber mit einer elementaren Verwechslung zu tun. Wenn Leute ihren Wein trinken, ein gutes Essen kochen, miteinander ins Bett gehen, ihre Wohnung schmücken, einen Garten und Freundschaften pflegen, für die alte Nachbarin einkaufen und sich nicht bei jeder Gelegenheit aufführen wie das letzte Konkurrenzvieh, dann braucht man solche Selbstverständlichkeiten als „Gesellschaftskritiker“ nicht extra zu beschwören. Selbst in Krisenzeiten ist kein Leben mit zwingender Notwendigkeit absolut freudlos und mitleidlos. Nur ist das alles nicht „schon die Revolution“ oder überhaupt „ein erster Schritt“ sogenannter praktischer Kritik und schon gar keine „Widerständigkeit“, sondern nichts als der Versuch, halbwegs „anständig“ durch den Alltag zu kommen. Radikale Kritik fängt nicht da an, sondern erst an der Schwelle gesellschaftlicher Konfrontation in Theorie und Praxis.

Wenn allerdings die Analyse der Verhältnisse zunehmend reduziert wird auf das Problem, wie man sich persönlich so fühlt und wie es einem so geht, dann reduziert sich dementsprechend die Perspektive der gesellschaftlichen Bewegung und Transformation auf die Frage: „Wie mache ich es mir trotz allem ein wenig schön (im Kapitalismus)?“, wobei die Einklammerung dieselbe Funktion hat wie bei der Zustandsbeschreibung.

Eine wirkliche „Kritik des Alltagslebens“ (Lefèbvre), wie sie durchaus notwendig, aber als reflekierte nur durch die Entwicklung aus dem gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang zu gewinnen wäre, findet so gerade nicht statt. Das Postulat der „Streifzüge“ fällt auch in dieser Hinsicht weit hinter schon längst gewonnene Einsichten selbst der früheren kritischen Untersuchungen zurück; ein abermaliges Armutszeugnis für den „wertkritischen“ billigen Jakob. Es gebe, so erfahren wir, „in den herrschenden Verhältnissen...keine glückliche Lösung. Es gibt aber eine bessere als die, die Adorno vorschlägt..., wenn nicht im Ganzen, dann doch im Kleinen“ (Peter Pott, Schöner Wohnen – in der Kommune, in: „Streifzüge 47/2009). Der allen Ernstes fett hingesetzte Titel „Schöner Wohnen“ lässt das Schlimmste ahnen, was sich leider wie so oft bestätigt. Im niedlichen „Kleinen“ begegnen uns nicht solche Dinge wie Hartz IV, soziale Unruhen und Bürgerkrieg, sondern z.B. „ein unwiederholbares Lächeln, ein unwiederholbarer Tanzschritt“ (Pott, a.a.O.). Die Herrgottswinkel-Heimeligkeit der „Magie des Augenblicks“ lässt grüßen.

So vorbereitet, kann es losgehen mit dem Aufmischen des Kapitalismus am ideellen Königssee: „Im vergangenen Jahr schließlich habe ich mir den Traum vom naturverbundenen Leben annähernd erfüllt...Da...entschied ich mich ein Strohhäuschen zu bauen...An meiner Wohnautonomie bastle ich noch weiter: Gerade haben wir einen kleinen Waschtisch gezimmert und das Kompostklo soll jetzt auch dringend fertig werden...Dann und wann queren Wildschweine, Rehe oder unser Dachs die Wiese. Möge der Stress der Zivilisation nie bis zu meiner kleinen Hütte vordringen!“ (Sara Kleyhons, Minimal Housing, in: „Streifzüge“ 47/2009). Wenn dann aus den Wiesen der weiße Nebel wunderbar steiget und in der Dämmerung die Rehlein die kleinen Zehlein falten, wenn sich am Feldrain Fuchs und Hase oder im Stall Ochs und Esel zur Guten Nacht liebevoll gegenseitig ein Argument schenken, dann können auch wir entsinnlichten TheoretikerInnen nur noch andächtig schweigen. Und am Tag geht es weiter mit deftiger Sinnlichkeits-Gaudi und Geselligkeit von zünftigen Gutmenschen, sodass „je nach Witterung, allgemeiner Verfassung und je nach Erfordernis miteinander gekocht, genossen, diskutiert, musiziert, Auto repariert, getanzt, gefeiert, gehausbaut wird...In der besinnlicheren (!) Jahreszeit konzentriert sich das Innenleben um den Kachelofen im Wohnzimmer...Immer klarer wird mir, dass mein verlängertes Wohnzimmer doch eigentlich ein planetares ist – wundervoll!“ (Severin Heilmann, Wundervoll entwohnt, in: „Streifzüge“ 47/2009). Im virtuellen Heimat- und Hirtenmuseum wird ein Genre-Bildchen vorindustrieller Bauernromantik nach dem anderen aufgehängt: „ich lebe mit meiner familie, den freunden und gästen in gehäusen, die in zimmer, säle, kabinette, galerien gegliedert sind und wo dies und jenes möglich ist und geschieht. Die weihnachtsbäume wandern durchs Haus und versammeln um sich die feiernden in verschiedenster umgebung. Im sommer wohnt unsereins so viel als möglich draußen. Da ist alles weit. Im winter zieht man sich auf wenige räume zurück, lebt um die kachelöfen und herde herum“ (aramis, Ortsansässig?, in: „Streifzüge“ 47/2009). Die Kleinschreibung der RAF befasste sich wenigstens noch nicht mit wandernden Weihnachtsbäumen. Damals war allerdings auch der Kachelofen als emanzipatorische Geheimwaffe noch weitgehend unbekannt. Jetzt endlich weiß man's: So einfach kann das kritische Leben in natürlicher, artgerechter Umgebung sein. Aber auch mitten im Moloch der Großstadt ist der heroische kleine Widerstand möglich, gerade weil er von niemandem bemerkt wird: „Ja, dank meiner Liebsten kennen wir sogar etliche Nachbarn...Seit ein paar Jahren lädt sie einfach alle Leute im Juni zu einem Hoffest...Vielleicht ist es schwer zu glauben, aber es gibt da Haarrisse im unwirtlichen Gebirge der Sachlichkeit“ (Lorenz Glatz, Ich habe nie gewohnt, in: „Streifzüge“ 47/2009).

Angesichts dieses geballten Einsatzes der Alltagsmagie aus dem Arsenal von Lore-und Bergbauern-Romanen bleibt dem Kapitalismus nichts anderes übrig, als – nicht etwa zusammenzubrechen, sondern einfach die Welt für Stubenmusi und Schuhplatteln freizugeben. Wundervoll! Warum nur wünscht „unsereins“ sich angesichts eines derart umwerfend „guten Lebens“ fort in einen zwanzigstöckigen Plattenbau mit garantierter Anonymität – und der freundlichen Gesamtschäferei die Barbaren an den Hals? Vielleicht kann einfach nicht jeder kapitalismusverseuchte Theoriewichser derart herrlich blühende Landschaftsgemälde ertragen. Das persönliche Sich-Einrichten in einem Schöner-Wohnen-und pseudo-rousseauistischen Natürlichkeits- und Befindlichkeits-Kosmos transformiert sich zur Gemeinschaftsideologie pur. Die globalisierte negative Vergesellschaftung wird imaginativ heruntergebrochen auf einen bukolischen Kleinraum; wahlweise, komplementär oder gleichzeitig im virtuellen Downloader-Universum und/oder in subsistenzökonomischen Strohhütten-Projekten. Gegen Adornos Einsicht, dass gegen die fetischistisch vergesellschaftende Gewalt kein Einzelner etwas vermöge, meint man einwenden zu können: „Zwei, drei, vier Menschen, die im Gespräch, im Tanz oder weiß wo sich als >Fahrzeug< zu >schöner bewegtem Sein< erfahren haben..., vermögen durchaus etwas dagegen“ (Pott, a.a.O.). Ausgerechnet die Aussage von Marx und Engels, der Kommunismus sei kein utopisches Projekt, sondern die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt, wird ihrer gesamtgesellschaftlichen Dimension entkleidet und gegen Adornos Verdikt gewendet: „Es gibt im falschen Leben ein richtiges, das das falsche aufhebt“ (Pott, a.a.O.) - auf der Ebene von „zwei, drei, vier Menschen“, die sich ein „schöner bewegtes Sein“ zu organisieren glauben.

Die Potenzen der Vergesellschaftung werden nicht emanzipatorisch gewendet, sondern ignorant im Schein der Unmittelbarkeit ertränkt. Was nicht vorkommt in den bukolischen Gemälden, sind die ökonomischen Zwänge der Subsistenz „neben“ der wirklichen gesellschaftlichen Synthesis und die soziale Kontrolle des Gemeinschaftsterrors. Die uneingestandene Zwanghaftigkeit einer Armut an Vergesellschaftungs-Potenzen entpuppt sich sogleich als Fortsetzung der Arbeitsontologie mit anderen (eher verschärften) Mitteln, indem die „Kraft“ beschworen wird, die „Arbeit heißt, mit der die Gemeinschaft sich als Produktionsapparat setzt“ (Pott, a.a.O.).28 Ein „schöner bewegtes Sein“ kann man sich dabei nur imaginieren, wenn das Ganze als eine Art Hobby-Veranstaltung von einigermaßen betuchten Mittelschichts-Existenzen subventioniert wird: „Dazu müssen sie das Haus allerdings auch haben...Geld macht es möglich...Geld macht nicht glücklich! Doch wo es regiert, ist ohne Geld nichts zu machen. Man muss es haben“ (Pott, a.a.O.). Hinsichtlich der „Wohnungs“-Bukolik wird das z.B. die illegalen Migranten in ihren Löchern als Perspektive besonders erfreuen.

Damit wir uns recht verstehen: Jedem Tierchen ist sein finanzierbares Pläsierchen durchaus zu gönnen, weil es eben nicht um die Verallgemeinerung der Armut, sondern um die gesellschaftliche Freisetzung des konkreten Reichtums geht. Nur haben solche Pläsierchen einer Schöner-Leben-Alltagsorientierung als eine solche liebevoll gepflegte gärtnerische Einzelheit nichts mit radikaler Kritik und der „wirklichen Bewegung“ zu tun, „welche den jetzigen Zustand aufhebt“. „Zwei, drei, vier Menschen“ können an einem Ort durchaus einen Fokus kritischer Theorie und Intervention bilden; aber nur, wenn sich ihre Aktivität auf das negative Ganze der gesellschaftlichen Synthesis bezieht. Wenn sie sich jedoch auf einen selbstreferentiellen Privat-“Kommunismus“ im Kleinen kaprizieren, verfallen sie zwangsläufig der reaktionären Gemeinschaftsideologie, die hinter die Vergesellschaftungs-Potenz zurückfällt und sich ignorant oder nur noch äußerlich moralisierend zu den sozialen Verwerfungen des Krisenkapitalismus verhält.

Die „wirkliche Bewegung“ kann nur eine gesamtgesellschaftliche und transnationale sein, die sich aus der Immanenz der kapitalistischen „Widerspruchsbearbeitung“ heraus an den sozialen Fronten der Krisenverwaltung entwickelt bis zur realen Eingriffsmacht; nur darüber ist eine transzendierende Potenz gegen das unteilbare Ganze der herrschenden gesellschaftlichen Synthesis zu gewinnen. Und nur im Zusammenhang mit einer solchen gesamtgesellschaftlichen Bewegung wird auch das berühmte Alltagsleben auf andere Weise als durch eine kleinkarierte Gemütlichkeits-Romantik oder pseudo-“wertlose“ Vertragsverhältnisse im virtuellen Raum umgewälzt, wie die Geschichte des sozialen Widerstands zeigt. Im „Streifzüge“-Kontext hat sich die „Keimform“-Metapher als Rückfall in alternative Entgesellschaftungs-Phantasien entpuppt, die epistemisch auf die abstrakte „existentielle Einzelheit“ und vermeintliche „sinnliche Gewissheit“ rekurrieren.29 Dieser Reduktionismus kann sich kaum noch die Erhebung auch nur zu einer Einpunkt-Bewegung vorstellen. So wird eher hilflos gefragt: „Ist die Mieterinitiative so abwegig? Könnte man sie nicht einbauen in die Frage nach dem guten Leben?“ (Franz Schandl, Sonderbare Sonderware, in: „Streifzüge 47/2009). Unter Krisenbedingungen wäre aber selbst die Einpunkt-Initiative nur noch durch Einbettung in einen gesamtgesellschaftlich sich organisierenden Widerstand mit realer Eingriffsmacht zu haben. Von der seit 1968er-Zeiten immer wieder aufflackernden Mittelschichts-Ideologie einer „Politik in der ersten Person“, wie sie trotz früherer Kritik bei den „Streifzügen“ unübersehbar gepflegt wird, führt kein Weg dahin. So muss sogar die Einpunkt-Phantasie sofort auf ein alternatives Schöner-Leben-Kleinprojekt heruntergebracht werden: „Welche Wohntypen wären dafür zusätzlich zu inaugurieren?“ (Schandl, a.a.O.). Was bleibt als „Perspektive“, ist wieder mal die existentialistische Phrase: „Nicht nur Häuser gilt es zu besetzen, auch das Leben selbst muss besetzt werden“ (a.a.O.).

Nicht die Hitze der intellektuellen Polemik oder des Straßenkampfes ist es, von der sich diese Austragsbauern der postmodernen Linken antörnen lassen, sondern die schläfrige Wärme des ideellen Kachelofens, an dem man die Zipfelmütze tief über die Augen ziehen, besinnlich vor sich hinfurzen und die Hüttenluft mit schwülstigem Liebesgestank verpesten kann. Wundervoll! Weil derlei Imaginationen die Fluchtreflexe des sich in seiner Einzelheit versteifenden abstrakten Individuums bedienen, dürften sie bestens geeignet sein, das „Mein schöner Garten“-Medium in Umlauf zu bringen.

Zur Metaphysik der gemeinen Verständlichkeit

Diese Bedienung der intellektuellenfeindlichen Affekte und Ressentiments eines Hausmeister- und Unteroffiziers-Bewusstseins im Interesse des „breiten Ankommens“ folgt abermals blind dem Strukturwandel der bürgerlichen Öffentlichkeit: „In dem Maße, in dem Kultur nicht nur ihrer Form, sondern auch dem Inhalt nach zur Ware wird, entäußert sie sich solcher Momente, deren Aufnahme eine gewisse Schulung voraussetzen“ (Habermas, a.a.O., 255). Solche Voraussetzungen sollen gerade nicht geschaffen, sondern negiert und als bloße Zumutung an den bei sich bleibenden Alltagsverstand abgewehrt werden. Es ist die auch dem Inhalt nach zur Ware gemachte Theorie, die schon keine mehr ist und deshalb dem Imperativ unmittelbarer Verständlichkeit unterliegt, nämlich „ohne strenge Voraussetzungen, freilich auch ohne spürbare Folgen rezipiert werden zu können“ (Habermas, a.a.O., 255). Letzten Endes führt das zur „Einziehung aller Transzendenz und Kritik“: Die „Wirksamkeit“ wird erkauft mit einer Reduktion des Gedankens auf die Selbstbestätigung des sich in seinem So-Sein gefallenden Adressaten: „Indem der gesellschaftlich wirksame Geist sich darauf beschränkt, den Menschen nur noch einmal das vor Augen zu stellen, was ohnehin die Bedingung seiner Existenz ausmacht, aber dieses Dasein zugleich als seine eigene Norm proklamiert, werden sie im glaubenslosen Glauben an die pure Existenz befestigt“ (Adorno, zit. Nach: Habermas, a.a.O., 319). Auch für die antiintellektuellen Verständlichkeits-Ideologen der „Streifzüge“ gilt: „Sie ermäßigen...die >Eintrittsbedingungen< psychologisch derart, dass die Literatur selbst auf die Bequemlichkeit und Annehmlichkeit jener Rezeption geringer Voraussetzungen und schwacher Folgen zugeschnitten sein muss“ (a.a.O., 256).

Es ist die „Charaktermaske des Verkäufers“ (Haug, a.a.O., 73), die entsprechende Sprach- und Argumentationstechniken entwickelt hat, indem sie die „Unwissenheit“ des alltagsidiotischen Kunden bestärkt und seinen „Glaube(n) an die eigenen Vorzüge“ (a.a.O., 73) umschmeichelt. Diese Technik ist „die des verstärkenden Echos“, der Verkäufer wirft dem Kunden sein „bestärkendes Spiegelbild zurück“ (a.a.O., 73), in diesem Fall die antiintellektuellen Ressentiments und den Willen, seine existentielle Einzelheit ohne Reflexionszumutungen sich bestätigen zu können. Angesprochen wird nicht ein Bewusstsein, das sich von der kritischen Theorie gerade dadurch faszinieren lässt, dass diese die falsche Gemeinverständlichkeit destruiert, das Unbekannte des scheinbar Bekannten und das Fremde des Eigenen vorführt, sondern im Gegenteil ein Bewusstsein, das sagen können möchte: „Ihr drückt genau das aus, was ich mir auch schon immer gedacht habe“.

Die erheischte Unmittelbarkeit und Voraussetzungslosigkeit des Denkens wie des Verstehens bewegt sich in der Tiefebene der begründungsschwachen oder ganz begründungslosen „Meinungsgegenständlichkeiten“, deren Inhaber ohne eigene Anstrengung des Begriffs bloß gefüttert werden wollen. Der Modus der Theoriesprache wird mit scheelen Blicken bedacht; etwa schon hinsichtlich der berühmten Fremdwörter, worauf es nur eine Antwort gibt: Kauf Dir ein Fremdwörterbuch oder lass die Lektüre bleiben, wenn Du bloß Vorgekautes konsumieren willst. Aber in Wahrheit geht es gar nicht so sehr um eine semantische Unverständlichkeit; die Aussagen kategorialer Kritik etwa sind nur allzu verständlich, aber genau diese Verständlichkeit wird als Zumutung erlebt. Man spielt gern den „Kannitverstan“ und möchte die Sache so zu Tode erklärt bekommen, dass jede Konfrontation ausbleibt und man aufatmend wieder den Hintern genüsslich am Kachelofen wärmen kann.

Wenn es ans begriffliche Bestimmen der Sache geht, gilt also das pädagogische Pauker-Prinzip aus der „Feuerzangenbowle“: „Da stellen wir uns erst einmal janz dumm“. So wird man beim Kasus „Wohnen“ durch den Antitheoretiker ganz und gar leichtverständlich an die Materie herangeführt: „Wohnen könnte man vorerst einmal umschreiben als das regelmäßige Dasein in einer Behausung“ (Franz Schandl, Raum für die meiste Zeit, in: „Streifzüge“ 47/2009). Dieser Gedanke ist derart massiv einleuchtend, dass man darauf erst einmal kommen muss. Nachdem nun die begriffliche Grundlage gelegt ist, fährt die Assistentin der Gemeinverständlichkeit vor dem erstaunten und freudig verstehenden Publikum mit den genaueren Folgebestimmungen fort: „Wo und wie wohnen, ist in der Menschheitsgeschichte eine unausweichliche Frage. Den Menschen ist die Form des Wohnens nicht angeboren...Wohnen bedeutet Schutz und Geborgenheit vor Kälte, Hitze und anderen Witterungseinflüssen...“ (Maria Wölflingseder, Wohnung(slos)-Arbeit(slos), in: „Streifzüge“ 47/2009). Habt Ihr alles brav mitgeschrieben? Dann kann der Chef-Antitheoretiker die erste Stunde im Einführungskurs „Wohnen“ zum Abschluss bringen: „In der Wohnung hat alles seinen Platz, was in der Unmittelbarkeit der Reproduktion vonnöten ist: Kochstellen, Ruhestätten, Esstische, Rückzugsorte, Waschgelegenheiten, Aborte...“ (Franz Schandl, a.a.O.). Haben wir eigentlich einen Abort? Da müsste ich glatt mal nachschauen, falls ich mich nicht auf dem Flur verirre; als entsinnlichter Theoretiker hat man eben auch mit der Wohnungsmaterie so seine Probleme. Die gemeinverständliche Definitions-Kultur der „Streifzüge“ kann hilfreich sein, obwohl – fehlt da nicht noch etwas? Richtig, der Raum für die „drei Schreibtische“ ist abhanden gekommen, aber die gehören ja auch nicht zur „Unmittelbarkeit der Reproduktion“. Danke, verstanden.

Das Betroffenheitspostulat und die Reduktion auf abstrakte Einzelheit und „sinnliche Gewissheit“ erfahren auf diese Weise eine Ergänzung durch die geradezu brüllende Trivialität von Bestimmungen, wie sie schon für die vierte Klasse eine Unterforderung darstellen würden. Aber auch damit lassen sich Zeilen schinden, und da sich geschundene Zeilen nicht wehren können, geht die „Befüllung“ des Heftes munter voran. Es macht nichts, dass die begrifflich einzig ernst zu nehmende Aussage zur „Wohnungsfrage“ hinsichtlich der Kritik der politischen Ökonomie in einem Zitat von Friedrich Engels aus dem Jahr 1872 besteht. Betroffenheitslyrik und Trivialitätshuberei werden ja bestens aufgetakelt durch jene existentialistische Rhetorik, und so scheint Null plus Null plus Null eben doch irgendwie mehr als Null zu ergeben.

Dennoch bleibt auch nach der Auflösung des begrifflich-analytischen Denkens in Unmittelbarkeit und Trivialität noch ein gewisser Stachel, dem die Spitze abgebrochen werden muss. Es ist dies eben die Selbstlegitimation durch Kritik an den herrschenden Verhältnissen, die man nicht einfach ersatzlos streichen kann, weil das denn doch zu auffällig wäre und von einem Publikum nicht goutiert würde, das selber eines Restes dieser Legitimation bedarf. Die epistemische Entschärfung von Begriff und Analyse negativer Vergesellschaftung muss also komplettiert werden durch eine epistemische Entschärfung der in der Darstellung enthaltenen Kritik. Im Verständnis falscher Unmittelbarkeit findet eine phänomenologische Reduktion statt. Gerade das postmoderne Denken hat die Differenz von Wesen und Erscheinung grundsätzlich eingeebnet. Wenn aber der Begriff der Sache epistemisch auf die unmittelbare abstrakte Einzelheit und „sinnliche Gewissheit“ reduziert wird, dann muss die im Begriff enthaltene Kritik epistemisch auf bloße Symptome reduziert werden. Die Trivialisierung der Gegenstände bildet dafür eine funktionale Voraussetzung.

Sowohl Trivialität als auch symptomatische Reduktion folgen aus dem Imperativ der gemeinen Verständlichkeit. Denn die bloßen Symptome der negativen Objektivität können jeder und jede sofort gedankenlos wiedererkennen und ins Alltagsbewusstsein integrieren. Das „Unverständliche“, also das, was man eigentlich nicht verstehen will, besteht ja gerade in der Vermittlung der Erscheinungen mit ihrem nicht unmittelbar erscheinenden Wesen, und damit der Symptome mit ihrem Ursprung in der negativen konkreten Totalität, also in der Bestimmung des Ganzen als Unwesen. Genau das will der Alltagsverstand in seinem So-Sein nicht hören, weil er dann nicht mehr billig davonkommen kann. So ergänzt sich die folgenlose existentialistische Rhetorik aufs schönste mit einer Aufzählung der Symptome, die in ihrer Einzelheit als bewältigbar oder veränderbar suggeriert werden sollen. Beim Thema „Wohnen“ lässt sich die Symptomatik mühelos auflisten: „Wohnungen, wie könnte es im Kapitalismus anders sein, haben einen Preis“ (Franz Schandl, Sonderbare Sonderware, in: „Streifzüge“ 47/2009). Darunter leiden wir natürlich alle „ganz konkret“. Und es tut noch mehr weh: „Ein weiterer Zwang ist jener zum täglichen stundenlangen Pendeln zum Arbeitsplatz mit verheerenden Auswirkungen – von Umweltverschmutzung bis zu Stress und Unfalltod; denn selbst bei schlechtesten Witterungsverhältnissen muss via Autofahrt Leib und Leben riskiert werden“ (Maria Wölflingseder, Wohnungs(los) – Arbeits(slos), in: „Streifzüge“ 47/2009). Kapitalismus ist eben Mord, genau wie Sport. Da bleibt nur noch die treuherzige Feststellung: „Das Wohnen in den Städten heutzutage kommt mir vor wie eine Art Massentierhaltung und ist eigentlich das Gegenteil meiner Vorstellung von Wohnkultur“ (Sara Kleyhons, Minimal Housing, in: „Streifzüge“ 47/2009). Freilaufende Hühner schmecken ja auch besser, und schon haben wir wieder eine Menge von kritischen Fragen geklärt.

Eine weitgehende Reduktion der expliziten Kritik auf Symptome, um dem Postulat gemeiner Verständlichkeit zu genügen, reduziert damit auch den Begriff und das Verständnis der Sache selbst; bloß symptomatische Kritik und kategoriale Affirmation werden zusammengeschlossen. Dabei „vernebeln einem moralisierende Adjektive und Formulierungen die Sicht, indem sie eine Skandalierung suggerieren, die genau besehen aber gar nicht stattfindet, ja, die Skandalierung (auf der bloß empirischen Ebene) schlägt so gesehen geradezu in Entdramatisierung (auf der kategorialen Ebene) um“ (Roswitha Scholz, Der Mai ist gekommen, in: EXIT 2/2005). Sicherlich ist es nicht möglich, etwa in einem journalistischen Text, einer Glosse etc. eine begrifflich-analytische Entfaltung des negativen Ganzen unterzubringen. Aber gerade bei diesen Textformaten besteht die keineswegs leichte Kunst darin, den gesellschaftlichen Zusammenhang aufzuhellen, das Ungenügen des bloß Symptomatischen im Bewusstsein der LeserInnen als Stachel zurückzulassen. Die verbissene und beflissene Reduktion aufs Einzelne und Symptomatische dagegen fixiert dieses Bewusstsein geradezu in seiner Abwehr der kategorialen Kritik.

Gerade weil die Symptome allgemein bekannt sind und daher ihre bloße Beschreibung so überaus verständlich erscheint, ergibt sich daraus keinerlei Spezifikum radikaler Kritik. Im Gegenteil, diese bloßen Erscheinungen des wirklichen Unwesens werden von allen ideologischen Positionen und Parteien gleichermaßen angeprangert, von den Ultraliberalen bis zu den Erzkonservativen, vom Papst bis zu den Neonazis usw. „Für“ die Massenverarmung ist niemand, ebensowenig „für“ das Wohnungselend. Alle wollen nur das Beste und deshalb die Symptome „bekämpfen“, aber eben nach Maßgabe ihrer ideologischen Interpretation und mit ihren Mitteln. Der US-Publizist Kenneth Burke hat 1939 versucht, die Rhetorik Hitlers zu analysieren. Dabei fiel ihm auf, dass Hitler mit seinem Angriff „einseitig auf die Symptome“ von „ökonomischen Konflikten“ und „Schwierigkeiten des Kapitalismus“ zielte; gerade darin habe sich seine Rhetorik als die „eines gewiegten Werbefachmannes“ erwiesen (nach: Gerhard Voigt, Goebbels als Markentechniker, in: Warenästhetik. Beiträge zur Diskussion..., Frankfurt/Main 1975, 231). Die Addition von abstrakter Einzelheit bzw. „sinnlicher Gewissheit“, Betroffenheit, Existenz-Rhetorik, Trivialität und Symptomatik, wie sie von den „Streifzügen“ systematisch betrieben wird, ist in Wahrheit anschlussfähig für beliebige ideologische Positionen, nicht zuletzt für rechte.

Die Buchbinder-Synthese

Sicherlich gibt es immer irgendwelche Differenzen, auch unter Freunden und im Rahmen einer gemeinsamen Position. Dennoch oder gerade deswegen muss man unterscheiden können zwischen verschiedenen Graden von Differenz, zwischen einem Unterschied im Einzelnen bzw. in der Akzentuierung und einem Unterschied ums Ganze, zwischen tolerablen und intolerablen Positionen oder Haltungen, zwischen unbedingt zu klärenden Fragen oder Problemen und solchen, die man mangels Erkenntnis- oder Bearbeitungsfähigkeit erst einmal so stehen lassen muss. Der sogenannte Pluralismus dagegen kennt überhaupt kein Kriterium für die inhaltliche Tragweite von Differenzen mehr.

Diese scheinbare Pluralität ist übrigens ein Resultat der kapitalistischen Durchsetzungsgeschichte: nämlich auf der politischen Ebene in der Entwicklung von Klassen- und Weltanschauungsparteien, die jeweils einen Aspekt oder ein Durchsetzungsmoment der Wertvergesellschaftung absolut setzten und als Wahrheit in „Besitz“ nahmen, bis zu den „Volksparteien“ nach dem Zweiten Weltkrieg, die bei voll durchgesetzter Wertvergesellschaftung kein besonderes inhaltliches Wahrheitsmoment mehr beanspruchen, sondern sowohl in sich als auch untereinander „plural“ sind im Sinne bloßer Modi der Widerspruchsbearbeitung. Allerdings bildet das „stumme Apriori“ der Verwertungsmaschine die anerkannte „Gemeinsamkeit der Demokraten“. Es dürfen sich beliebig viele „Meinungen“ tummeln, Hauptsache sie sind reell unter die Warenform subsumiert. Die volksparteiliche politische Pluralität bildet dann die Folie für eine „weltanschauliche“ Pluralität: Die modernen „Weltanschauungen“ als Analogon zur Religion sind wie diese zu einer Angelegenheit der „Privatmeinung“ abgesunken, eben weil die zugrunde liegende Logik der Reproduktionsweise zum Alltag geworden und damit verinnerlicht ist. Ohne die geringste Reflexion des gesellschaftlich-historischen Zusammenhangs wird nun jeder theoretische, kulturelle und eben auch vermeintlich kritische Gedanke bzw. jede entsprechende Äußerung diesem allgemeinen Pluralismus vor dem stummen Hintergrund der Eindimensionalität von Warenform bzw. Verwertung einverleibt und unter das dazugehörige abstrakt-allgemeine „Toleranzgebot“ gestellt. Im postmodernen Virtualismus hat sich dieses Toleranzgebot von „Meinungsgegenständlichkeiten“, wie eingangs schon angedeutet, bis zur expliziten Beliebigkeit gesteigert.

Für eine genauere Untersuchung dieses Zusammenhangs ist hier nicht der Ort. Es genügt der Verweis auf die Geschichte der Pluralismus-Forderung und der damit verbundenen Sperre gegen jede inhaltliche Konfliktformulierung, Auseinandersetzung und vor allem Zuspitzung; eine Sperre, die wiederum der „Charaktermaske des Verkäufers“ entspricht, der keine potentielle Kundschaft verprellen will.30 Publizistisch und medial läuft das darauf hinaus, dass sogar die anspruchslose bloße Flegelei etc. („Trash“) noch eher erlaubt ist als die wirkliche inhaltliche Konfrontation und als ein Kampf um die Wahrheit, die es ja laut postmodernistischem Denken sowieso gar nicht gibt bzw. die eine bloße Inszenierungs- und Verhandlungssache sein soll.

Noch zu Zeiten der früheren Neuen Linken wurde der voraussetzungsvolle, aber folgenlose publizistische Pluralismus als „Buchbinder-Synthese“ verspottet: Nicht nur unterschiedliche, sondern völlig gegensätzliche, unvereinbare und alle Grade von Differenz durchlaufende oder überschreitende Texte dürfen und sollen nahezu beziehungslos im Rahmen einer unbestimmten „Meinungstoleranz“ nebeneinander stehen; zusammengefasst allein durch den Umschlag oder den Einband. Dem postmodernen Bewusstsein erscheint das nicht als unverschämte Abwertung des kritischen Denkens und als Gleichgültigkeit, sondern eben als jene jederzeit zu beanspruchende „freie Auswahl“ im Gedanken-Supermarkt, wo man vor den Regalen ein bisschen meditieren und sich den Einkaufswagen voll laden kann.

Der verkäuferische Imperativ des „Verbreiterns und Verbreitens“ hat bei den „Streifzügen“ als zunächst schleichender und schließlich offener Meinungspluralismus im Sinne postmoderner Beliebigkeit seinen letzten Ausdruck gefunden. Dabei geht es nicht etwa um die Diskussion neuer Fragestellungen und nicht um eine Weiterentwicklung des wertkritischen bzw. wert-abspaltungskritischen Denkens, was zu unterschiedlichen Auffassungen oder Akzentsetzungen führen könnte. Den Kampf des Neuen gegen das Alte gibt es sicherlich auch innerhalb einer bestimmten gesellschaftskritischen Position, wie etwa die Entwicklung der Wert-Abspaltungskritik gegenüber der alten Wertkritik gezeigt hat. Dann findet man eben entweder zu einer neuen Synthese oder es kommt zur Trennung; es mag auch Fälle geben, in denen zwei Argumentationsstränge nebeneinander herlaufen, weil sie dieselbe Sache unter verschiedenen Aspekten betrachten und sich nicht unbedingt gegenseitig ausschließen. Immer aber muss die Differenz ausgewiesen sein. Der Pluralismus ist das genaue Gegenteil davon; sein Wesen besteht gerade darin, völlig unausgewiesene Differenzen apriori und unreflektiert gelten zu lassen und alles mit allem für vereinbar zu halten. Publizistisch äußert sich dieses Postulat in jener nur noch äußerlichen „Buchbinder-Synthese“.

Die „Streifzüge“ haben das Meinungs-Toleranzlertum schon relativ frühzeitig an einem besonders „harten“ Gegenstand erprobt, nämlich am Zusammenhang von Antisemitismus und Nahost-Konflikt. So durfte ein kaum verdruckster und wenig verschämter Israelhasser seiner einschlägigen Befindlichkeit Luft machen, indem er bestimmte, eigentlich auf die allgemeine gesellschaftliche Form bezogene Statements der Wertkritik unmittelbar auf den Judenstaat projizierte: „Für den westlichen Menschen liegt das >Existenzrecht Israels< auf einer Linie mit dem rechtsstaatlichen System, an das er angepasst ist und das dem Buchstaben nach auch seine eigene Existenz garantiert. In seinen Augen verlangt der Westen von den Palästinensern (und den islamischen Ländern) >nichts weiter< als die Einhaltung jener auf das vereinzelte Individuum zugeschnittenen elementaren Grundregeln des Zusammenlebens“ (Peter Klein, Mentale Überlegenheit und militärische Kraft. Anmerkungen zum Nahostkonflikt, in: „Streifzüge“ 37/2006). Die Kritik an der bürgerlichen Rechtsform wird hier auf perfide Weise in eins gesetzt mit der Kritik an Israel bzw. der Judenstaat wird sozusagen zur Repräsentanz der bürgerlichen Form überhaupt gemacht und damit das Existenzrecht Israels unter Anführungszeichen gestellt. Indem nämlich der Westen den „israelischen Rechtsstandpunkt“ vertrete (a.a.O.), mache er die kapitalistische Form als solche gegen die muslimische Welt geltend (als wäre diese außerhalb davon).

Damit wird natürlich Israel auch auf der weltpolitischen Oberfläche unter „den Westen“ subsumiert bzw. sogar zum exemplarischen Stellvertreter „westlicher Prinzipien“ ernannt, also der Doppelcharakter des Judenstaats negiert und der Zusammenhang von dessen Existenz mit dem globalen Antisemitismus ignoriert. Also fällt für Klein der Konflikt Israels mit dem Islamismus unmittelbar zusammen mit der westlichen Position im Weltordnungskrieg: „Der Kurzsche Weltordnungskrieg scheint wirklich begonnen zu haben. Allerdings wäre das gerade kein Argument dafür, dass man sich zur Abschätzung der weiteren Entwicklung ausgerechnet an den von den staatlichen Akteuren vorgegebenen Konfliktlinien zu orientieren hat“ (a.a.O.). Dieser Seitenhieb zielt genau auf die in dem Buch „Weltordnungskrieg“ vorgenommene Begründung, warum die Existenz Israels quer liegt zu den Fronten des globalen Krisenimperialismus. Im Gegensatz dazu soll bei Klein jede Verteidigung Israels eine „Orientierung an den von den staatlichen Akteuren vorgegebenen Konfliktlinien“ darstellen. Umgekehrt erscheinen dann die Feinde Israels in einem günstigeren Licht; sie mögen vielleicht ein wenig irrational agieren, sind aber fast schon irgendwie auf dem richtigen Weg, weil sie angeblich mit der kapitalistischen Wert- und Rechtsform „nicht zurechtkommen oder sie gar ablehnen“ (a.a.O.), und deswegen würden sie ganz zu Unrecht als „irgendwie...böse oder verrückt“ (a.a.O.) dargestellt. Der antisemitische Islamismus gilt nicht mehr als barbarische postmoderne Krisenideologie auf dem Boden des Weltkapitals, sondern wird (mit unübersehbarer Nähe zu einem kruden „Antiimperialismus“) augenzwinkernd zu einer Art „Widerstand“ geadelt.

In jedem islamistischen Israelfeind steckt ein guter Kern; diese Botschaft darf dann zwei „Streifzüge“-Ausgaben später mit „existentialistischer“ Schlagseite nachgereicht werden. Die „ideologische Begründung des Terrors“ (vor allem der antiisraelischen Selbstmordattentäter) sei unwichtig, und darauf das Augenmerk zu legen, komme einer „Entsorgung der existenziellen Dimension des Problems“ gleich (Peter Klein, Existenz und Terror, in: „Streifzüge“ 39/2007). „Flüchtlingslager oder eine hohe Kindersterblichkeit“ (a.a.O.) werden als die materielle Grundlage dieser „Dimension“ angenommen, als ginge ausgerechnet daraus die Ideologie antisemitischer Selbstmordattentäter und ihrer betuchten Hintermänner in den islamischen Eliten hervor, denen Armut und Kindersterblichkeit am Arsch vorbei gehen. Die „Kämpfer gegen Israel“ erscheinen geradezu als tragische Helden, die „kein Funktionalismus mehr einfangen kann“ und „die sich lieber selbst in die Luft sprengen, als im Zustand des Elends, der Erniedrigung und der Hoffnungslosigkeit weiterzuleben“ (a.a.O.). Wie im Heidegger-verseuchten postmodernen Denken soll Ideologiekritik entsorgt werden: „Den ideologischen Nebel beiseite schieben und die existentielle Situation zur Sprache bringen, darum geht es“ (a.a.O.). Dass der „ideologische Nebel“ sich als bewusste Verarbeitungsform der Widersprüche zu einer mörderischen Macht verdichten kann und Ideologiekritik überhaupt einen unverzichtbaren Bestandteil der kategorialen Kritik am kapitalistischen Formzusammenhang bildet, ist glücklich vergessen oder hat nie zu dieser Sorte „Wertkritik“ gehört.31 Die Ideologiekritik muss natürlich vor allem deswegen gedeckelt werden, weil die „existentialistische“ Wende samt der damit verbundenen, eher schon offenen als klammheimlichen Sympathie mit Antisemitismus und Israelfeindlichkeit selber im höchsten Grade ideologisch ist; und zwar auf eine besonders ekelhafte Weise (zur Kritik vgl. Claus Peter Ortlieb, Das Selbstmordattentat als emanzipatorischer Akt?).

Angesichts von derartigen Ergüssen der Israelfeindlichkeit entstand für die „Streifzüge“ im Namen des Pluralismus ein gewisser Bedarf an „Ausgewogenheit“ der Meinungen. So durfte dann im Rahmen der „Buchbinder-Synthese“ ein dezidierter Israelfreund in aller Bescheidenheit seine gegenteilige Meinung zum Ausdruck bringen. In trauter Nachbarschaft mit der Kleinschen verständnisvollen Thematisierung der „existentiellen Situation“ von israelfeindlichen Terroristen hieß es da: „Quicklebendig...ist die...Vorstellung vom bösartigen Israel, das – obwohl doch so klein – einen ungeheuren, undurchschaubaren Einfluss auf die Weltpolitik ausübt, selbst die Weltmacht USA stark beeinflusst, wenn nicht gar steuert...sowie Kriege anzettelt“ (Lothar Galow-Bergemann, Wegsehen oder Solidarität mit Israel? Civilization of Clash und antisemitischer Vernichtungswahn, in: „Streifzüge“ 39/2007). Angeprangert wird zu Recht eine antiisraelische Position, die überhaupt nicht erwähnt, „dass das iranische Regime den Holocaust leugnet, zur Vernichtung Israels aufruft und nach Atomwaffen strebt“ (a.a.O.).

Nimmt man die Nachbarschaft im selben „Streifzüge“-Heft zur Kenntnis, erscheint allerdings die Polemik in einem etwas eigenartigen Licht: „Nicht zuletzt in der politischen Linken sind traditionell ganze Legebatterien damit beschäftigt, solche faulen Eier in die Welt zu setzen“ (a.a.O.). Galow-Bergemann tut so, als würde er das besonders faule Ei, das genau neben seinen Artikel gelegt wurde und zum Himmel stinkt, gar nicht riechen. Wenn er sich dagegen wendet, „die Selbstmordattentäter...zu >armen verzweifelten Menschen< zu verharmlosen“ (a.a.O.), dann reibt man sich die Augen, weil eben dies einige Seiten zuvor ausdrücklich proklamiert wird, ohne dass es ihn zu stören scheint. Es fragt sich, was unter solchen „stumm“ bleibenden Umständen folgende Conclusio eigentlich noch sagt: „Eine Position, die nicht Partei im >Kampf der Kulturen<, sondern gegen ihn sein will, schließt entschiedene Kritik an Antisemitismus, Antizionismus und islamischem Fundamentalismus sowie Solidarität mit Israel notwendig ein“ (a.a.O., Hervorheb. Galow-Bergemann). Diese Aussage ist richtig, aber sie wird völlig unverbindlich und ist keinen Pfifferling mehr wert, wenn sie in den Kontext eines Pluralismus gestellt wird, der auch das genaue Gegenteil erlaubt. Dann könnte der Autor seinen Text auch gleich in der „Jungen Freiheit“ unterbringen.

Für das Verkäufer-Gebot, ein möglichst großes Meinungsspektrum zu bedienen, ist der Inhalt so scheißegal, dass sogar ein derart schreiender feindlicher Gegensatz friedlich im selben Nest koexistieren kann.32 Galow-Bergemann merkt nicht einmal, dass durch diese liebende Berührung sein eigenes Ei genauso faul wird wie das andere. Die Koinzidenz der Gegensätze mag sogar als Utopie der allgemeinen Versöhnung ausgegeben werden. Ist es nicht rührend, zu sehen, wie nach dem Vorbild des Paradieses bei den Zeugen Jehovas der Wolf in aller Nettigkeit beim Lamm liegt und der Israelfeind beim Israelfreund, wie das existentielle „Verständnis“ für den Antisemitismus konform geht mit der „entschiedenen Kritik am Antisemitismus“? Drushba, Freude, Eierkuchen allenthalben. Liebe deinen nächsten Holocaust-Leugner wie dich selbst; „anything goes“.

Beim bloßen Meinungspluralismus in einzelnen brisanten Fragen kann das Gebot der „freien Auswahl“ freilich immer noch nicht stehen bleiben; der Pluralität muss auch geradezu eine epistemische Weihe verliehen werden. Soweit überhaupt noch (und immer weniger oder undeutlicher, wenn man das alberne Papperl „wertlos“ abzieht) von „Wertkritik“ die Rede ist, soll damit kein distinkter theoretischer Anspruch mehr verbunden sein. Der ganze Ansatz wird seines Gehalts einer historischen Transformation des Marxismus entkleidet, um nur noch irgendeine unter hundert blühenden Blumen abgeben zu dürfen, die sich im „Streifzüge“-Blumenstrauß versammeln. An die Stelle der kritischen Reflexion tritt ein Pragmatismus der alternativen Alltagshuberei, für die alle Theorien gleichermaßen „irgendwie“ ein wenig richtig und ein wenig falsch sind. Auch die Theorie als solche verschwindet in der bloßen „Meinungsgegenständlichkeit“. Deshalb braucht man sich nicht mehr durch die Anstrengung des Begriffs um Kohärenz zu bemühen, sondern kann vermeintlich von allen Blumen ein wenig Nektar naschen.

So favorisiert der „Streifzüge“-Liebesprediger, wiederum unter Berufung auf die Alternativ-Ideologin Friederike Habermann, eine „Theorie, die sich bei den teilweise recht inkompatiblen Herangehensweisen von Leuten wie Gramsci, Althusser, Foucault, Derrida, Hall, Laclau, Mouffe, Butler und vieler anderer aus deren disparaten Umkreisen bedient (!)...“ (Lorenz Glatz, What we do matters, in: „Streifzüge“ 47/2009). Inkompatibel hin oder disparat her, ist doch alles Jacke wie Hose. Die sekundären Anti-TheoretikerInnen rühren eine Art Pichelsteiner für ihre unmittelbaren Legitimationsbedürfnisse zusammen, ohne sich groß um einen inneren Zusammenhang zu kümmern. Dieser billige Eintopf soll dann das „Eigentliche“ und „Taugliche“ sein, während die dafür schamlos benutzten Theorien nur den Stellenwert von äußeren Zutaten haben. Das Programm gipfelt in der Behauptung, dass „ein kritischer Eklektizismus durchaus angebracht sei“ (a.a.O.). Damit ist das entscheidende Stichwort geliefert. Wo der Eklektizismus anfängt und sogar bewusst propagiert wird, hört jedes kritische Denken auf.

Der Eklektizismus ist weder eine Theorie noch eine Methode, sondern eine Verhöhnung der begrifflichen Reflexion überhaupt. In der Aversion gegen jede über die Unmittelbarkeit hinausweisende theoretische und analytische Kohärenz möchte er apriori den theoretischen Streit und damit die intellektuelle Polemik liquidieren, um sich selbst aus der Schusslinie zu nehmen, obwohl auf ihn zuallererst das Feuer zu eröffnen wäre, weil er mit dem konträren Gehalt von Positionen der Reflexion auch die negative Objektivität des Ganzen und seiner inneren Widersprüche verleugnet. Der theoretische Konflikt, wenn er nicht bloß der Imagepflege dient, sondern objektive Gründe hat, ist keine Streithanselei, kein Ausdruck von Überheblichkeit oder Egomanie und kein pathologisches Verhalten, sondern eine Notwendigkeit, solange sich die Gesellschaft in einer Subjekt-Objekt-Dialektik bewegt. Der Streit ist historisch bedingt (etwa hinsichtlich des Arbeiterbewegungsmarxismus oder des Postmodernismus) und sozial verwurzelt (etwa hinsichtlich der affirmativen Mittelschichts-Interessen), also keineswegs willkürlich. Der Eklektizismus dagegen streicht die historische und soziale Verortung durch, um die Theorien als gleichrangige, gleich-gültige und plurale Geistesphänomene zu nehmen, von denen man sich beliebige Scheiben abschneiden kann.

Jede Theorie, die diesen Namen verdient und historischen Einfluss gewonnen hat oder damit beginnt, solchen Einfluss zu erlangen, stellt ihrem Wesen nach den Versuch dar, ein gesellschaftlich-historisches Ganzes, eine konkrete Totalität, zu ihrer Zeit in Gedanken zu erfassen. Eine neue Theorie tritt per definitionem zum Kampf um die „Diskurshegemonie“ an, sonst braucht sie erst gar nicht formuliert zu werden; selbst wenn sich ihre Bedeutung erst in einem nicht verfügbaren historischen Prozess herausstellt. Das gilt auch und gerade dann, wenn sie sich der Begrenztheit und historischen Bedingtheit allen Denkens (damit auch ihres eigenen) bewusst ist.33 Daraus folgt aber eben kein eklektischer Agnostizismus, sondern die umso bewusstere Reflexion der konkreten Totalität in ihrer historischen Verortung. Das eklektische Denken, das schon keines mehr ist, negiert den Begriff und Anspruch von Theorie überhaupt; es missachtet und missbraucht alle Theorien gleichermaßen, indem es sie äußerlich vom Standpunkt des bornierten Alltagspraktikers aus der Froschperspektive beäugt und beschnüffelt, um sie im Namen eines primitiven Utilitarismus auf unmittelbare „Brauchbarkeit“ für dessen Zwecke zu prüfen. Es handelt sich um die gewaltsame Unterwerfung der Theorie unter einen nicht- und antitheoretischen Standpunkt, also um ihre brutale Zurechtstutzung, statt sie als solche mit der gesellschaftlichen Praxis zu vermitteln. Das ist ungefähr so sinnvoll, wie mit einem iPhone einen Nagel in die Wand zu schlagen.

Mit dem Einschwenken auf ein explizites Programm des Eklektizismus geben die „Streifzüge“ nicht nur jeden theoretischen Anspruch preis, sondern damit auch jeden distinkten Standpunkt auf, der zum Streit führen könnte. Die historisch ortlos und wesenlos gemachte „Wertkritik“, was immer sie jemals darunter verstanden haben, ist für sie nicht mehr eine Position, die sie selbst vertreten, sondern eine Wurst unter vielen Würsten an der theoretischen Theke, von denen man sich einen Aufschnitt abwiegen lässt. Der theoretische Streit wird begraben, weil es nicht mehr um die historische Transformation radikaler Kritik geht, sondern um ihre Einschläferung. Damit hat sich die Verselbständigung der Form gegenüber dem Inhalt, der „Verkaufe“ gegenüber der Sache erfüllt. Es geht den „Streifzügen“ nicht mehr darum, „etwas“ (eine bestimmte Sache, einen Inhalt) „zu verbreitern und zu verbreiten“, sondern nur noch „sich“ selber, egal mit welchem Inhalt, weil sie nur noch „sich“ und sonst gar nichts mehr haben. Sie wollen offenbar zum ideellen Gesamt-“Readers-Digest“ der abgetakelten Linken avancieren; wahrscheinlicher ist allerdings früher oder später ihre Selbstauflösung in ein entsprechendes Zusammenlegungs-Projekt des Eklektizismus ohne Biss und ohne Zukunft.

Das Karaoke-Prinzip

Aber einigermaßen fundierte Beiträge, die selbst bei kleineren Formaten einen Hintergrund in der Durchdringung der Sache haben, sind eben beim derzeitigen Stand von wertkritischer (bei EXIT wert-abspaltungskritischer) Theoriebildung und Rezeption relativ dünn gesät. Damit allein könnte die „magazinierte Transformationslust“ nicht zur „Befüllung“ und „Verbreiterung“ gelangen. So muss zur eigenen symptomatischen Verflachung und Simplifizierung des Angebots ein Appell an das selbstreferentielle Publikum hinzutreten, sich mit noch flacheren eigenen Elaboraten direkt an der Blattmacherei zu beteiligen.

Dem Anschein nach wird hier der ewige vulgärdemokratische Impuls der Linken bemüht: Gut ist alles, was irgendwie „von unten“ kommt, nach „Selbsttätigkeit“ aussieht und „basisdemokratisch“ gedeutet werden kann. Außer acht bleibt, dass emanzipatorische Selbsttätigkeit keineswegs voraussetzungslos und erst durch Vermittlung hindurch zu erlangen ist.34 Es hat eben nichts mit Emanzipation zu tun, wenn der unreflektierte Alltagsverstand, wie er steht und geht, allerhand von sich daheim erzählt oder seine unmittelbare „Meinungsbefindlichkeit“ mehr oder weniger assoziativ geltend macht; meistens mit Ideologie bis zum Anschlag gesättigt. Dieser durchschnittliche Zustand des Bloggerunwesens gehört längst zum Erscheinungsbild des inzwischen verallgemeinerten virtuellen Appendix von bürgerlichen Medien, die sich damit Kundschaft und Werbeflächen im Netz ergattern wollen. Das Phänomen ist grundsätzlich Bestandteil der warenästhetischen „Meinungsgegenständlichkeit“ und bildet nur die Verlängerung einschlägiger Pseudo-Teilhabe in den älteren Medien, etwa durch telefonische Meinungsabfrage im Dudelfunk.

Die Tendenz zur Betroffenheitslyrik und „Verständlichkeits“-Episteme konnte es schon ahnen lassen, dass die mediale Zirkustruppe der „Streifzüge“ auch auf diesem Dampfer anheuern würde. So soll das Publikum mit einem „an alle“ gerichteten „CALL FOR PAPERS“ geleimt werden. Darin heißt es verräterisch: „Ob wir alle Zusendungen veröffentlichen können, wissen wir natürlich nicht, sollte der Aufsatz aber nicht gänzlich verunglückt (!) sein, kommt er zumindest auf unsere Homepage“ (www.streifzuege.org/i_call_45-2009.html). Man kann es nicht anders nennen: So etwas ist schlicht eine Beleidigung sowohl der potentiellen AutorInnen als auch des Publikums. Wer etwas zu sagen hat und weiß, dass es voraussetzungsvoll ist, überhaupt wer sich nicht zum medialen Kasper machen will, kann sich von einem derartigen Appell nur abgestoßen fühlen.35 Es gehört schon eine Portion Unverfrorenheit dazu, auf diese Weise Leute ködern zu wollen. Eine Redaktion, die sich ernsthaft um AutorInnen bemüht, hat die Aufgabe, Texte zu betreuen und eben zu redigieren, die so wenig wie ihre Urheber vom Himmel fallen. Es bedarf einer Zeit der Annäherung und des Eindringens in die kritische Reflexion, aber auch in das handwerkliche know-how, bis zumutbare Texte entstehen können. Sicherlich gelingt es mangels Zeitressourcen nicht immer, diesen Anspruch in jeder Hinsicht durchzuhalten; aber er muss erhoben werden. Zwischen einer „Buchbindersynthese“, die sich aus allen ideologischen Ecken bedienen will, und einem vulgär-empiristischen Betroffenheitspostulat unter dem „Verbreiterungs“-Imperativ bleibt dafür von vornherein kein Platz.

Was die „Streifzüge“ hier betreiben und von der unmittelbaren Pseudo-Teilhabe des bürgerlichen Meinungsbetriebs abgeschaut haben, kann man als „Karaoke-Prinzip“ bezeichnen. Dieses vor rund 40 Jahren in Japan aufgekommene Phänomen besteht bekanntlich darin, dass Instrumentalversionen bekannter Schlager abgespielt werden und sich alle, die lustig sind, im dazugehörigen Gesang versuchen dürfen. Nicht nur pubertierende Kids werden davon angezogen, sondern auch an Minderwertigkeitskomplexen leidende oder von postmoderner Schamlosigkeit getriebene ältere Semester, Hausfrauen im Kaffeerausch, angesoffene Geschäftsleute zu vorgerückter Stunde und überhaupt Profilneurotiker der untersten Schublade aus allen Schichten der Gesellschaft. Karaoke-Bars, in Tokio so häufig wie Teehäuser und Massagesalons, haben sich längst über die ganze Welt verbreitet. Beliebt bei den Animateuren ist Karaoke auch als Party-Gag in Ferienclubs. Karaoke war ein Vorläufer der erbärmlichen Selbstdarstellungs- und Selbstentblößungs-Inflation im virtuellen Raum und wirkt dort weiter. Das Internet eignet sich natürlich ganz besonders für Solo-Auftritte vor dem anonymen Weltpublikum. So albern die Sache auch offensichtlich ist, so unwiderstehlich scheint die Verlockung zu sein, sich wie ein „Star“ auf offener Bühne oder zumindest wie ein Simulacrum desselben aufführen zu können.

Es ist sehr zweifelhaft, ob bei der großen Konkurrenz in allen medialen Sphären die „Streifzüge“ mit ihrem speziellen Karaoke-Angebot eine größere Anziehungskraft zu entfalten vermögen. Was vielleicht noch fehlt, ist die Kombination mit der Abonnenten-Werbung, etwa so: Wer das Blatt abonniert, darf unzensiert einen „nicht gänzlich verunglückten“ Text veröffentlichen; wer das Abo auch bezahlt, ist mit zwei derartigen Eigenprodukten dabei; und wer weitere Abonnenten wirbt, bekommt das Recht zugesprochen, sogar „gänzlich verunglückte“ Kreationen hemmungslos zu publizieren. Wenn auf diese Weise doch noch der Klingelbeutel gefüllt wird, kann man das Ganze vielleicht sogar als „emanzipatorische“ Massenpraxis einer öffentlichen Meinungspisserei dem Selbstlauf überlassen, ohne selber noch mehr tun zu müssen, als die Mäuse zu zählen. Welche Wohltat, wenn dann wenigstens der Wiener Chefkritiker „des Theoretikers“ das siech machende „Texten“ endgültig einstellen und sein lebensmüde gewordenes Hirn zur wohlverdienten ewigen Ruhe betten darf.

Leise erhebt sich die Frage, an welchen Persönlichkeitstyp oder Sozialcharakter dieses Karaoke-Angebot eigentlich gerichtet ist. Auch darauf geben die „Streifzüge“ eine ebenso eindeutige wie offenherzige Antwort: „wenn du glaubst ein genie zu sein oder zumindest php oder layout kenntnisse hast, vertriebsmultiplikatorIn bist, besondere talente aufweist, auch nur meinst eine brillante intelligenz zu besitzen, schreib an redaktion@streifzuege.org“ (www.streifzuege.org/a_geniesuche.html). Kein Wunder, wenn sich auf eine solche Offerte hauptsächlich Leute melden, die sich einzig und allein „für die eigenen Begehrlichkeiten engagieren“. Wiederum kann die halbe Ironisierung kein Alibi abgeben. Denn derartige Adressaten betreiben längst schon eine Selbstironisierung, die gar nicht ironisch gemeint ist, sondern bloß die Tatsache zum Geschäftsmodell macht, dass man nichts und niemanden, am allerwenigsten sich selbst ernst nehmen kann, aber trotzdem oder gerade deswegen in die Charts einer „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ kommen will. Es ist ganz eindeutig ein Appell an das narzisstische postmoderne Bewusstsein eines depravierten Zerfallssubjekts der Mittelschichten, wie es sich überwiegend bei nur habituell „soften“ Männern äußert, die sich immer schon für „Genies“ halten müssen, weil sie außer ihrer einschlägigen „Begehrlichkeit“ (sprich: Geltungssucht) nichts vorzuweisen haben. Es sind gerade solche Leute, über deren Charakter Adorno schon frühzeitig mit Recht bemerkte, dass es eine Unverschämtheit sei, wenn sie „Ich“ sagen.36 In postmodernen Zeiten hat diese Grundhaltung Massencharakter angenommen.

Was die „Begehrlichkeit“ vor allem wecken könnte, ist die Aussicht, ohne große Vermittlungs-Anstrengung auch mit gedanklichen Entäußerungen, die ein einziger durchgehender Grammatikfehler sind, zum Zuge zu kommen. Außerdem könnte es sein, dass man dem bloß virtuellen Ort doch insgeheim ob seines inflationären Charakters nicht die volle Reputationsfähigkeit zutraut und es als Kitzel erlebt, „sich gedruckt zu sehen“. Die Typologie dieses Begehrens könnte eingeteilt werden in Möchtegerns und Abgehalfterte. Die Möchtegerns stammen natürlich aus der Blogger- und Mailinglisten-Szene, deren Manifestanten sich bislang auf den einschlägigen Karaoke-Feldern ausgetobt haben; nicht zuletzt bei den online-Ausgaben der bürgerlichen und inzwischen auch der linken Presse. Ihnen bietet die „Geniesuche“ der „Streifzüge“ eine zusätzliche Gelegenheit zum Drauflosplaudern.

Bei den Abgehalfterten dagegen handelt es sich eher um ältere publizistische Existenzen der 1990er Jahre, die sich zusammen mit dem damaligen Zeitgeist erschöpft und den Zenit ihrer Aussagefähigkeit längst überschritten haben. Ihre meist postmodernen Themen wiederholen sich im Leerlauf; sie haben nichts Neues mehr zu bieten. Deshalb sind sie zum Auslaufmodell geworden und haben es zunehmend schwerer, Publikationsorte zu finden. Das heißt nicht, dass der mediale Betrieb zu neuen Ufern aufgebrochen wäre; nur die Konkurrenz ist größer geworden und stellt sich in veränderten kulturellen Recycling-Konstellationen dar, die den oberflächlich „kritischen“ Duktus der Abgehalfterten als irgendwie altmodisch erscheinen lassen. Wie alternde Schlagersänger, die von ihrem Metier nicht lassen können, landen sie so zusammen mit den virtuell geschulten jüngeren Möchtegerns an der Karaoke-Bar der „Streifzüge“ und nehmen jene warenästhetische Präsentationsform in Kauf, die sie teilweise früher schon weniger kritisieren als vielmehr bloß umdeuten und umbesetzen wollten. Zu helfen ist ihnen nicht mehr.

„Aneignung“ als scheinautonome Originalitäts- und Geltungssucht

Das gilt gerade für die weitere Theoriebildung und Publizistik. Es ist nicht allein dem spezifischen Charakter bürgerlicher Öffentlichkeit geschuldet, sondern liegt in der Sache selbst, dass die Herausbildung von AutorInnen kritischer Theorie, Analyse und (auch journalistischer) Intervention nicht mit einer abstrakten Absichtserklärung von „Meinungsinhabern“ einsetzt. Vielmehr kann sie sich nur durch einen lebensgeschichtlichen Prozess entwickeln, in dem die Wut über die Verhältnisse und die Teilnahme an gesellschaftskritischer Aktivität aus sich heraus in einer bestimmten historischen Situation zur Notwendigkeit einer transformatorischen Theoriebildung und Analyse führt, die überhaupt nur aus einem Sich-Einlassen auf die Sache ohne äußere Erfolgs- und „Selbstverwirklichungs“-Kriterien entstehen kann. Selbst im institutionellen Wissenschaftsbetrieb mit seinem inhärenten Karrierismus wird übrigens kaum jemand durch bloßes Bluffertum reüssieren, ohne sich einem Erkenntnisgegenstand hinzugeben und bis zu einem gewissen Grad das schiere persönliche Fortkommenwollen zu vergessen. Das alles ist gerade nicht die Angelegenheit von narzisstischen postmodernen Schnellspritzern. Für sie stellt sich die Wertkritik (oder was sie dafür halten) als eine „Fundsache“ dar, die man zum „start-up“ einer Selbstinszenierung machen kann, weil sie als Sujet noch relativ unverbraucht erscheint. Es geht dann nicht um theoretische Aneignung im Sinne eines Sich-Einlassens auf die Sache, also um deren Unterstützung und Weiterentwicklung, sondern um „Aneignung“ eben als eine Art Usurpation, als Griff nach einer an sich gleich-gültigen „Meinungsgegenständlichkeit“.

Damit verbunden ist eine dumpfe Originalitätssucht, wobei die „Besetzer“ des Meinungsgegenstands von sich auf andere schließen. Die Wert-Abspaltungskritik als neues Paradigma konnte aber gar nicht aus einem subjektiven Streben nach „Originalität“ entstehen, sondern sie ist das unvollständige Produkt eines langjährigen Sich-Hinauskämpfens aus dem traditionellen Marxismus im Kontext der früheren neuen Linken und ihrer Verfallsgeschichte, dessen Kriterium allein die objektive historische Situation bzw. deren dramatische Veränderung sein konnte. Dass diese Innovation persönliche Träger hat, ist weder wegzuwischen noch als autoritärer Gefolgschafts-Imperativ misszuverstehen. Es geht nicht um „Autoritätsansprüche“, für die es außerhalb des akademischen Betriebs sowieso keinen institutionellen Rahmen gibt, sondern um unabweisbare Begründungsansprüche.37 Wenn das wert-abspaltungskritische Paradigma einen objektiven historischen Stellenwert in der Transformation radikaler Gesellschaftskritik hat, dann kann es weder durch einen äußerlichen Willen zur „Originalität“ übergipfelt und „überboten“ noch „ausgeschlachtet“, sondern nur weiterentwickelt werden.

Wer sich ernsthaft darauf einlässt und zu dieser Weiterentwicklung beitragen will, wird den bereits vorliegenden Fundus nicht als Steinbruch für Selbstbestätigungs- und Karriereprojekte verwenden, sondern sich in einem Feld der Auseinandersetzung verorten. Denn natürlich ist die neue Theoriebildung umstritten und muss sich gegen die rest- und postmarxistischen Positionen behaupten, wie sie als ideelle Residuen der vergangenen Epoche weiterwirken. Der Bezug auf die Wert-Abspaltungstheorie muss also im Auseinandersetzungsfeld unzweideutig offengelegt werden; und es ist genau zu belegen, worauf man aufbaut, worin eine Erweiterung des Gegenstandsbereichs besteht und in welcher Weise sich Ansätze einer weitergehenden Begriffsbildung in die „Sache“ einordnen. Dass dazu gehört, die Referenzen anzugeben und sauber zu zitieren, sollte eine Selbstverständlichkeit sein; es handelt sich keineswegs um eine Angelegenheit „bürgerlicher Eigentumsverhältnisse“, sondern um ein Erfordernis der Kritik selbst, wenn sie eine ausreichende Kohärenz aufweisen und nachvollziehbar sein soll.38

Hier ist nun eine eigenartige Dialektik in der usurpatorischen Rezeption wirksam. Einerseits kann der als Set von „Meinungsgegenständlichkeit“ besetzte theoretische Korpus nicht in seiner Eigenqualität anerkannt werden. Dessen ursprüngliche Träger werden nicht als Repräsentanten eines Inhalts wahrgenommen, auf den man sich positiv „teilnehmend“ bezieht, sondern unter dem Diktat eines leeren „Autonomie“-Imperativs mehr oder weniger bewusst als „Konkurrenz“ in einem eher ödipalen Bezug. Der Begriff von „Autonomie“ speist sich dabei nicht aus einem vorgeblichen „Selberdenken“, das sich inhaltlich begründen müsste, sondern aus einem begründungslosen Affekt der postmodernen „Selbstsouveränität“ vor allem Inhalt. Die Rezeption von AutorInnen fällt also fast schon zusammen mit dem Ressentiment gegen sie. Dieser Bezug ist pseudo-antiautoritär, weil er sich gar nicht gegen benennbare autoritäre Strukturen oder Ansprüche richtet, sondern schon die Vorgabe jenes theoretischen Korpus an sich als „autoritäre“ Position und Verletzung der eigenen „Selbstsouveränität“ erlebt.39

Diese personale Seite wird erst sekundär inhaltlich besetzt. Annäherung ist dann identisch mit Abstoßung. So arbeitet man sich nicht in die Wert-Abspaltungskritik hinein, um dazu selbständig etwas beizutragen, sondern man arbeitet sich daran ab, um schon auf halber Höhe der Rezeption irgendetwas zu finden, was man dagegen vorbringen könnte. Da die schein-autonome Originalitätssucht an der Objektivität der Inhalte vorbeigeht, diese ignoriert oder sogar negiert, sie aber dennoch existiert, kann man sich nur als „originell“ inszenieren, indem man auf dieselbe (in Wahrheit letztlich unselbständige) Weise Elemente anderer, gegensätzlicher Theoriebildungen äußerlich aufgreift, um diese mit dem Gestus der Kritik an den oberflächlich usurpierten theoretischen Korpus heranzutragen. Das „Abarbeiten“ läuft also darauf hinaus, die Wert-Abspaltungskritik nicht an gesellschaftlichen Gegenständen im Feld der Auseinandersetzung weiterzuentwickeln, sondern sie begrifflich aufzuweichen und aufzulösen, damit aber die Innovation zu negieren.40

Andererseits bildet aber ja eben dieser theoretische Korpus den Ausgangspunkt oder einen wesentlichen Bestandteil der Inszenierung. Der usurpatorische Charakter schlägt sich dabei insofern nieder, als zunehmend die Referenzen nicht mehr angegeben und übernommene Inhalte nicht mehr zitiert werden, wobei es sich oft nur um Versatzstücke handelt.41 Auch hier haben wir es mit einer allgemeinen gesellschaftlichen Erscheinung zu tun. Das hemmungslose Plagiieren ist zur Mode geworden. Noch der erbärmlichste Stümper kann sich im Rahmen einer intellektuellen Plünderungsökonomie mit fremden Federn als origineller, reflektierter Denker und Schreiber spreizen. Die postmoderne Ideologie der „Intertextualität“, in der vorgeblich „die Autorschaft verschwindet“, bildet nur die letzte Etappe im Zerfall bürgerlicher Öffentlichkeit. Diese löst sich aber eben nicht bloß in eine anonyme Masse von hybriden „Meinungsgegenständlichkeiten“ auf, sondern die Plagiatoren, die ja keineswegs „jenseits“ bürgerlicher Subjektivität operieren, wollen gerade ihr gestörtes EGO mit den geklauten Inhalten in Szene setzen, um auf Kosten anderer sozusagen mit Namen und Adresse „Ruhm“ und gegebenenfalls Geld abzustauben.

Die wirklichen individuellen Inhaltsproduzenten „verschwinden“ nicht, sondern sie sollen intellektuell enteignet und weggeschubst werden, um der hohlen, getürkten und ergaunerten Semi-Prominenz von Plagiatoren Platz zu machen, wie sie von einem verkommenen Literatur- und Kulturbetrieb gepusht wird. Diese „Freiheit“ der intellektuellen und kulturellen Plünderung von Inhalten, die mit wirklichem geistigen Aufwand und Lebenskosten produziert wurden, hat nichts mit dem altsozialistischen Pathos der „Kollektivität“ zu tun, aber viel mit dem kollektiven Instinkt von monadisierten Selbstverwertungs-Subjekten, die ohne inhaltliche Verantwortlichkeit bloß alles abgrasen wollen, was ihnen als Weide geeignet erscheint. Der einzige Trost ist, dass sie oft nicht einmal richtig abschreiben können. Es geht dabei aber nicht allein um die Missachtung von Individualität und Persönlichkeit, sondern vor allem um die Zerstörung der Inhalte selbst, die nicht mehr in einem ausgewiesenen Kontext erscheinen, sondern beliebig zerpflückt und verhackstückt werden.

Das Karaoke-Prinzip der „Streifzüge“ verspricht die warenästhetisch aufgemachte Synthese dieses Syndroms hinsichtlich der „Wertkritik“. Diese wird nicht nur verflacht und in falscher Unmittelbarkeit pseudo-lebensweltlich heruntergebrochen, sondern auch zum Dorado gemacht für „unverschämte Plagianten aus Überzeugung“, wie es geradezu programmatisch in der personalen Vorstellung der Redaktion heißt. Es wird so getan, als sei der theoretische Fundus aus dem assoziativen Bandwurm einer Mailinglisten-Debatte heraus entstanden und beliebig ausschlachtbar, ohne sich um ausgewiesene Begründung kümmern zu müssen. Einen Hintergrund bildet jene gleichfalls bei den „Streifzügen“ beheimatete „Open-Source“-Ideologie, die sich anmaßte, Theoriebildung könne nach dem Muster von Software-Entwicklung vollzogen werden. Dieser längst kläglich gescheiterte Versuch mündet nun in die Propaganda des ebenso hemmungs- wie zusammenhanglosen „Abschreibens“ als „Emanzipationsprinzip“, das sich einzig mit einem formalistischen, inhaltsfreien Verweis auf juristisches „Eigentum“ legitimiert (und insofern die Reduktion des Kapitalverhältnisses auf zirkulative Privateigentumsverhältnisse mit dem Vulgärmarxismus teilt). Inhaltlich stellt sich die Synthese von theoretischer Auflösung und Plagiatorentum als genau jene Episteme eines besinnungslosen Eklektizismus dar, wie ihn die „Streifzüge“ als „theoretisches“ Erlösungsmodell für ihre ziellose Alltagshuberei propagieren.42 Das Feld der inhaltlichen Auseinandersetzung wird so vernebelt und zum Tummelplatz von originalitätssüchtigen Selbstdarstellern ihrer Schein-Autonomie gemacht, die einen unappetitlichen zusammengeklauten Mischmasch absondern.

Der Idiotenklick

Das technische Bedienungselement für die Sintflut von Entäußerungen des bürgerlichen „Alltagsverstands“ in seinem Zerfall bildet die sogenannte „Kommentarfunktion“. Ist diese einmal installiert, können sich jede und jeder unmittelbar in die jeweilige Netzplattform einschalten und zu allen dort publizierten Texten ungeprüft ihren Senf zugeben. Es ist die Potenzierung des Karaoke-Prinzips und eine schauerliche Apotheose der „meinungsgegenständlichen“ Basisdemokratie. Magisch angezogen werden von dieser technischen Möglichkeit Dauerschwätzer, Stammtisch-Räsoneure, Wichtigtuer, neurotische Charaktere, Querulanten und Obskuranten jeglicher Couleur. Die hat es zwar schon früher gegeben, aber sie wussten nichts voneinander bzw. sie hatten noch nicht die Gelegenheit, derart massiert und permanent aufzutreten. Indem die „Streifzüge“ nun diese Bedienungsfunktion durchgehend in ihrer Web-Plattform eingerichtet haben, geben sie diese für das allgemeine Räsonnement ohne jeden inhaltlichen Anspruch frei, um so den höchsten Grad der Selbstreferentialität zu erreichen: Würstchen von Würstchen für Würstchen.

Der schon kurz angesprochene rein assoziative Charakter dieser Entäußerungen erzeugt inhaltlich belanglose Meinungsketten, wie man bei einem Blick in die öden Kommentar-Anhänge zu beliebigen Texten in den virtuellen Ausgaben der bürgerlichen und linken Medien leicht feststellen kann. Mit Fug und Recht ist die Kommentarfunktion als der universelle „Idiotenklick“ zu bezeichnen; es handelt sich nach dem schon länger andauernden Zerfallsstadium sozusagen um das Verwesungsstadium der bürgerlichen Öffentlichkeit. Auf diese Weise wird kein bestimmter Inhalt diskutiert (was dessen Kenntnis in einem größeren Zusammenhang voraussetzen würde), geschweige denn reflektiert weiterentwickelt, sondern mit einzelnen Aussagen als Anknüpfungs- und Abstoßungspunkt aus dem Bauch heraus hingeschmiert, was einem dazu von einem völlig äußerlichen Standpunkt aus gerade einfällt. Die haltlosen Assoziationsketten verlieren dabei in aller Regel den Bezug auf den ursprünglichen Text, um nach dem Muster der „stillen Post“ ohne Kohärenz und inneren Aufbau ganz woanders anzugelangen, bis sich der jeweilige „Thread“ nach einigen wenigen oder auch nach 30 bis 40 spontanen und in der Regel gänzlich unausgearbeiteten Entäußerungstrümmern erschöpft hat.

Während das Karaoke-Prinzip in seiner oben skizzierten Form als „Call for papers“ noch rein formal das Minimum eines inhaltlichen, wenn auch oberflächlichen Sicheinlassens bedingt (immerhin muss man sich mit einem geschlossenen eigenen Text exponieren und diesen einer Redaktion übergeben), wird der leere Formalismus bei der Kommentarfunktion ins Extrem gesteigert: Jede inhaltliche Voraussetzung und Verantwortlichkeit selbst minimalsten Grades ist von vornherein gelöscht und damit der absoluten Beliebigkeit Tür und Tor geöffnet. So können nicht nur zufällige Surfer-Existenzen, Weltverbesserer und Schwadroneure aus Überzeugung, sondern auch reaktionäre, rechtspopulistische, neoliberale oder sonstige Meinungsinhaber den jeweiligen virtuellen Raum bis zum Erbrechen „befüllen“.

Bei den größeren bürgerlichen Medien bildet die Kommentarfunktion die Spielwiese für eine „Community“ von notorischen Plappermäulern mit Geltungsdrang, die sich darin begeistert tummeln, aber in Wirklichkeit natürlich nicht ernst genommen werden und das im Grunde auch gar nicht wollen. Um die schlimmsten Auswüchse in Grenzen zu halten, leistet man sich einen Redaktionsposten für die „Community-Verwaltung“, wie es bezeichnenderweise heißt. Gebraucht wird diese Spielwiese einer Pseudo-Teilhabe an der Meinungsproduktion allein deswegen, um „Einschaltquoten“ zu erzielen, die das „Community“-Feld interessant machen für kommerzielle Inserate. Damit soll das rückläufige Volumen von Anzeigen und Werbebeilagen in der eigentlichen Print-Ausgabe ausgeglichen werden.

Etwas anders verhält es sich bei linken Medien, wenn sie sich der „Kommentar-Community“ öffnen. Hier ist es meist das halbe Eingeständnis, dass man sich als gedrucktes Periodikum schon gar nicht mehr halten kann. Bei den „Streifzügen“ wäre es nur folgerichtig, wenn sie auf der Printebene die betroffenheitsideologische Erbauungsliteratur etwa durch Preisausschreiben (für eine abgasfreies Elektro-Auto reicht es natürlich nicht, aber 1 Kilo „Streifzüge“-Nummern tut es auch als Hauptgewinn), „kritische“ Kreuzworträtsel oder Horoskope ergänzen würden, um sich wirklich für den „allerbreitesten“ Alltagsverstand „angenehm“ zu machen. Demokratischer ginge es nicht mehr. Aber so weit muss es gar nicht kommen, wenn die Installierung der elektronischen Kommentarfunktion ohnehin den Weg öffnet, um das Projekt gänzlich in den virtuellen Raum zu verflüchtigen, wo es ja auch hingehört.

Als integrierte Karaoke- und Community-Plattform, die das Gutenberg-Universum glücklich verlassen hat, ließe sich sogar die „diesseitige“ Finanzierungsfrage einfacher lösen als durch mühsam inszenierte identifikatorische Abo-Werbung. Man könnte sich einerseits unzweideutig im kostenlosen „Jenseits“ verorten und andererseits dieses „Jenseits“ mit kleinen, ein paar Kröten bringenden Werbeflächen „befüllen“; vielleicht nicht gerade für Agenturen von VW oder Siemens, aber immerhin für Anbieter von Duftwässern, vielversprechenden Kasino-Geldanlagen in Kenia oder der berühmten Penisverlängerung. Und das käme ja durchaus der Bedürfnisstruktur des postmodernen Softie-Publikums entgegen. Dummerweise prangt unter allzu vielen Betroffenheits- und Karaoke-Produkten noch der Hinweis „0 Kommentare“. Aber es werden sich doch hoffentlich Anreize finden, um eine draufloskommentierende „Community“ zu bilden, die ein werbeträchtiges Volumen erreicht.

Der „wertkritische“ Kleinbürger als Gesamtkunstwerk

Gerade indem die „Streifzüge“ den Inhalt in seiner warenästhetischen Darbietung, im Diktat des „Verbreiterns und Verbreitens“ und in einer unmittelbarkeits-fetischistischen wie eklektizistischen Episteme ersäuft haben, erscheint ihr Aufgehen in der hohlen Präsentationsform als Gegenwert vom „Geld des Geistes“; allerdings in seiner lumpigsten Pfennigmünze. Der Höllenfürst würde bei dieser ambulanten „Seelenverkoofe“ nicht einmal Sixpence locker machen. Und in jeder besseren Werbeagentur müsste diese Crew wegen schwerer Kreativitätsverweigerung hochkantig gefeuert werden. Dieser Zusammenhang kann schließlich auch zur genaueren Bestimmung des sozialen und ideologischen Orts führen, an dem das hier behandelte Syndrom angesiedelt ist.

Wie es die Bauchladen-Metapher schon angedeutet hat: Bei den „Streifzügen“ haben wir es mit einer Art geistiger Klitsche zu tun, die ihre eigene Klitschenmentalität zum Gegenstand der Missionierung machen möchte.43 Die „alternative“ Schöner-Wohnen-Betroffenheit ist ja auch mit Klitschenprojekten angereichert, wie sie im Kontext einer vorgeblich „solidarischen Ökonomie“ an der wirklichen gesellschaftlichen Synthesis vorbei geheckt werden sollen im Kleinraum von bloßen Surrogaten des „Warentauschs“, ohne die gesellschaftlichen Bedingungen der „auf dem Wert beruhenden Produktionsweise“ anzutasten; egal ob ärmlich subsistenzökonomisch oder mittels formaler „Vertragsverhältnisse“ auf der virtuellen Ebene. Im klassischen Sinne kann man das Verlangen als ein zutiefst kleinbürgerliches bezeichnen. Allerdings ist die Kleinbürgerlichkeit auch nicht mehr das, was sie einmal war. Die Differenz des Arbeiterbewegungsmarxismus zur Ideologie von selbstwirtschaftenden Kleinproduzenten ist längst historisch gegenstandslos geworden. Dennoch haben sich wesentliche Elemente der kleinbürgerlichen Haltung und Ideologiebildung auf veränderter sozialer Basis in der kapitalistischen Entwicklung erhalten und fortgepflanzt, die eine Sperre für die wert-abspaltungskritische Zielsetzung eines Bruchs mit der sozial übergreifenden kapitalistischen Synthesis bilden.

Diese Problematik kann in doppelter Weise gefasst werden. Zum einen haben sich im 20. Jahrhundert mit fortschreitender kapitalistischer Vergesellschaftung und Verwissenschaftlichung sogenannte neue Mittelschichten herausgebildet, die nicht mehr auf eigenen materiellen Produktionsmitteln beruhen, sondern auf dem „Humankapital“ höherer Qualifikationen (vgl. dazu ausführlich Roswitha Scholz, Überflüssig sein und „Mittelschichtsangst“, in: Exit 5/2008). Ein Großteil der damit verbundenen Funktionen ist sachlich notwendig, aber kapitalistisch unproduktiv (im Sinne der realen Mehrwertproduktion). Deshalb geht die Expansion der neuen Mittelschichten ebenso wie die Expansion des konstanten Kapitals (bei relativer und schließlich absoluter Verminderung des variablen, real Mehrwert produzierenden Kapitals) mit einer entsprechenden Expansion des Kreditsystems einher, die inzwischen bekanntlich an historische Grenzen stößt.

Zum andern aber hat sich im Zuge der damit verbundenen historischen Krise auch ganz unabhängig von der spezifischen Lage oder Qualifikation im Reproduktionsprozess eine sozial übergreifende abstrakte Individualisierung neuen Grades entwickelt, die das einzelne Gesellschaftsatom direkt und nicht mehr durch soziale Milieus oder Organisationsformen gefiltert auf das „automatische Subjekt“ der Verwertung bezieht. Daraus erwächst eine allgemeine Mentalität, die man als virtuelle Kleinbürgerlichkeit bezeichnen könnte. Auch unabhängig vom spezifischen Humankapital der qualifizierten neuen Mittelschichten sind die Individuen schlechthin in die Situation von „Selbstverwertern“ oder „Lebensunternehmern“ gestellt; schon mit ihrem nackten Leib und Leben. Jeder seine eigene Klitsche auf zwei Beinen. Das ist zwar einerseits eine Ideologie der Arbeits- und Krisenverwaltung bzw. ihres Mittelschichts-Personals; andererseits entspricht eine solche Haltung auch dem Erleben und Denken der aus allen Sicherheiten entwurzelten Massen bis in die wachsende neue Unterschicht hinein.

Die beiden Momente der neuen Kleinbürgerlichkeit müssen in Beziehung gesetzt und in ihrer wechselseitigen Bedingtheit gesehen werden. Die Mittelschichten des qualifizierten (insbesondere des akademischen) Humankapitals sind von Entwertung und Absturz bedroht, weil ihnen ihre Alimentierung aus der schrumpfenden realen Mehrwertmasse wegzubrechen beginnt. Damit ist das gesamte Kultur- und Wissensaggregat in seiner gesellschaftlichen Dimension einer wachsenden Depravierung ausgeliefert. Dabei reagieren große Teile der neuen Mittelschichten spontan selbstaffirmativ im kapitalistischen Sinne; d.h. sie verteidigen ihre relativ privilegierten Positionen als qualifiziertes Humankapital mit „Ansprüchen“ gegen die Herausgefallenen und neuen Unterschichten etc. Dieser Diskurs wird aber auch deshalb hegemonial, weil er gleichzeitig an die atomisierte Selbstverwurstungs-Mentalität in allen Schichten und Gruppen anknüpfen kann. Die sozialdarwinistische Ausgrenzungs-Ideologie ist eine allgemeine; es geht nur darum, wer im einzelnen ausgegrenzt werden soll und ob man selber als Individuum verschont bleiben bzw. sich herausziehen kann gegen die „anderen“. Die relativ vermasste Intelligentsia des depravierten Humankapitals liefert die diversen gegensätzlichen Schlagworte und Ideologien für die Lagen und Verlaufsformen der sozialen Vernichtungskonkurrenz, in der sie noch einmal eine besondere Stellung einnimmt.44

Vor diesem Hintergrund ist es natürlich völlig klar, dass die „Kleinbürgerlichkeit“ nicht mehr vom „Standpunkt des Proletariats“ mit seiner schwieligen, Hammer und Sichel schwingenden Faust denunziert werden kann. Weder sind primär Differenzen hinsichtlich der juristischen Eigentumsformen geltend zu machen noch ist die abstrakte Arbeit in ihrer groben Form gegen die qualifizierten Funktionen auszuspielen. Die neuen Mittelschichten bilden nur in anderer Weise selber Agenten der abstrakten Arbeit und sind der Form nach zu erheblichen Teilen lohnabhängig. Aber der Begriff „kleinbürgerlich“ ist dennoch als Schimpfwort ganz zu Unrecht nahezu ausgestorben. Diese Denunziation ist vielmehr mit neuem Gehalt zu füllen und als solche notwendig, um die radikale Kritik der Wert-Abspaltungsverhältnisse weitertreiben zu können. Der „Standpunkt“ dafür ist nicht der eines anderen sozialen Subjekts im kapitalistischen Immanenzgefüge, sondern der Standpunkt der Kritik dieses funktionalen Gefüges selbst, dessen immanenter Ausgangspunkt nicht mehr die Affirmation einer bestimmten Lage in den „objektiven Daseinsformen“ sein kann, sondern die Erfahrung der Unerträglichkeit und Nichtswürdigkeit dieses Form- und Funktionszusammenhangs als solchen.

Aber gerade diese Einsicht wird versperrt und verschüttet durch die doppelte neue Kleinbürgerlichkeit im engeren Sinne des von Depravierung bedrohten und seine eigene Wertförmigkeit verteidigenden qualifizierten Humankapitals (bis hin zur bildungsbürgerlichen Pantomime) ebenso wie im weiteren Sinne des sozial übergreifenden Selbstverwertungs-Subjekts aller Klassen und Schichten überhaupt. Die „Streifzüge“ bieten sowohl in ihrer formalen Herangehens- und Präsentationsweise als auch in ihrer Unmittelbarkeits- und Betroffenheitsideologie eine Plattform, um die negative Erfahrung kapitalistischer Synthesis und deren Krise regressiv zu verarbeiten und die verschwindenden Restbestände einer verkürzten „Wertkritik“ für die haltlose neo-kleinbürgerliche Projektemacherei von uneingestandenen „Selbstverwertern“ zu instrumentalisieren. Damit dementiert sich natürlich auch die Kritik am Selbstverwertungs-Zustand des postmodernen Krisensubjekts, wie sie zumindest früher noch gelegentlich auch in den „Streifzügen“ formuliert worden war; allerdings damals schon in einer eher äußerlich moralisierenden, lediglich feuilletonistisch herausgeputzten Weise. Tatsächlich gehen in der warenästhetischen Aufbereitung das Mittelschichts-Interesse und der Mittelschichts-Habitus mit der allgemeinen Selbstverwertungs-Mentalität ebenso gut zusammen wie der postmoderne Virtualismus mit der subsistenzökonomischen Selbstausbeutung und die digitale Technofreak-Phantasie mit der vor sich hin käsenden Bergbauernromantik. Das sind nur verschiedene Facetten und sich wechselseitig durchdringende Ausdrucksformen desselben neo-kleinbürgerlichen Sozialcharakters.

Das vorgebliche „Jenseits“ mitten im beschissenen kapitalistischen „Alltag“ und das gegen Adorno gerichtete „positive Denken“ von „Ansätzen“ eines richtigen Lebens im falschen entpuppt sich als Imagination einer veritablen Spießer-Idylle. Die gesellschaftliche Vernichtungskonkurrenz soll nicht durch soziale Konfrontation mit der Krisenverwaltung und eine Ideologiekritik des dazugehörigen Alltagsverstands konterkariert, sondern bloß aus den eigenen Gartenlauben herausgehalten werden. Der soziale Kitsch von „Geschenkökonomie“, „Allmende“ etc., der vormoderne Reproduktionsmomente theoretisch unbegründet idealisiert und auf die Situation des Krisenkapitalismus projiziert, wird mit dem Habitus und den heuchlerischen „guten“ Umgangsformen der Mittelschichts-Sozialisation amalgamiert (Polemikverbot, soziale Kontrolle als „Wärmegebot“, Selbstpädagogisierung usw.). Pate steht dabei eine allgemeine bürgerliche Zirkulationsideologie, die sich nicht nur in jenem Versuch äußert, angeblich „wertfreie“ Surrogate des Warentauschs auf der unmittelbaren Beziehungsebene zu installieren, sondern auch in der zwanghaften Habitualisierung von zirkulativen wechselseitigen „Anerkennungsverhältnissen“, deren Inhaltsfreiheit auf den unüberwundenen Imperativ des „automatischen Subjekts“ in der wirklichen gesellschaftlichen Synthesis verweist.

Das ganze Syndrom bildet eine spezifische Variante von ideologischen Reaktionen der neuen Mittelschichten auf den Krisenprozess. Indirekt ist deshalb auch ein sozialer Ausgrenzungs-Impuls wirksam, der alles abstößt, was nicht in dieser Zurechtlegung von neo-kleinbürgerlichen Pseudo-Emanzipationspotenzen aufgeht. Für die Masse der neuen Unterschichten, die von vornherein mit diesem habituellen Konstrukt inkompatibel ist (ohne dass es deswegen die besseren Menschen wären; auch diesem „anderen“ Alltagsverstand gegenüber ist Ideologiekritik angebracht), steht vor der imaginierten alternativideologischen Spießer-Idylle der abstürzenden Mittelschichts-Existenzen das Ladenschild: „Wir müssen leider draußen bleiben“.45

Es ist kein Zufall, dass in diesem Syndrom gerade die Theorie der geschlechtlichen Abspaltung keinen Platz hat. Im Wert-Abspaltungsverhältnis ist historisch den Frauen ein Part zugewiesen, der auf bestimmte Weise die Ingredienzen der „Streifzüge“-Ideologie enthält. Die alte Arbeiterbewegung hatte im Zug ihres Kampfes um bloße (letztlich ebenfalls zirkulative) „Anerkennung“ als kapitalistisches Funktionssubjekt das bürgerliche Geschlechterverhältnis reproduziert. Die „Widerständigkeit“ von Frauen bezog sich aber nur zum Teil auf diesen begrifflich nicht erfassten „blinden Fleck“ der sozialen Wahrnehmung. Vielmehr standen die Arbeiterfrauen gerade dadurch, dass sie das unerkannte Abspaltungsverhältnis an sich selber exekutierten, im Verdacht, ein Hemmschuh für den gesellschaftlichen Anerkennungskampf zu sein, weil sie ihrer Sozialisation gemäß geneigt schienen, die kleinfamiliale Reproduktion gegen die „großen“ gesellschaftlichen Anerkennungsfragen auszuspielen. Da aber der wirkliche Zusammenhang unreflektiert blieb, konnte der darin enthaltende Widerspruch auch nicht überwunden werden, sondern pflanzte sich in der historischen Entwicklung des Arbeiterbewegungsmarxismus fort.

Es fällt auf, dass die Zuschreibungen an die „Weiblichkeit“ im Abspaltungsverhältnis eine gewisse strukturelle Analogie zur sozialen Position der „Kleinbürgerlichkeit“ aufweisen, obwohl es sich um ganz verschiedene Ebenen der Reproduktion handelt. Die Analogie besteht in der Fixierung auf Unmittelbarkeit, existentielle Einzelheit, kleinräumige Näheverhältnisse etc.; hier in Bezug auf die familiale Reproduktion, dort in Bezug auf die eigene Klitsche bzw. das kleine Humankapital. Solange das Abspaltungsverhältnis nicht als solches bewusst reflektiert und kritisiert wird, bleibt den Frauen der quasi-kleinbürgerliche, unmittelbarkeitsfixierte Part zugewiesen und reproduziert sich durch alle Klassen und Schichten und durch alle Entwicklungsstadien und Modifikationen hindurch; selbst dann noch, wenn Frauen in der Qualifikation gleichgezogen haben und sich formal als „gleichberechtigt“ wähnen. Wie von selbst werden ihnen entsprechende Positionen untergeschoben, die stets auch von bestimmten Frauen lebensweltliche Akzeptanz erfahren; so die Haltung des Misstrauens gegen die Thematisierung gesamtgesellschaftlicher Zusammenhänge und gegen die begrifflichen Abstraktionen, des Sich-Einrichtens in einer überschaubaren Heimeligkeit und des Auslebens von Bemutterungsfunktionen. In der wirklichen gesellschaftlichen Reproduktion läuft das auf ein positives „Annehmen“ der „doppelten Vergesellschaftung“ (Regina Becker-Schmidt) von Frauen hinaus, selbst wenn sie dadurch unter Krisenbedingungen in die Lage der für alles im affirmativen Sinne Reproduktionsnotwendige zuständigen „eierlegenden Wollmilchsau“ gebracht werden. Solange der Feminismus noch Biss hatte, wurde diese Haltung in der einschlägigen Theoriebildung auch dort, wo diese nicht bis zum Begriff der Wert-Abspaltung vordringen konnte, mit dem Begriff der „Mittäterinnen“ denunziert. Seit der Feminismus in vermeintlich egalitären postmodernen Befindlichkeiten seinen Impetus verloren hat, ist das Problem lange Zeit aus dem Fokus der Aufmerksamkeit gerückt und wird erst in jüngster Zeit wieder geltend gemacht. Eine oberflächliche „Anerkennung“ der Geschlechterfrage bleibt aber folgenlos, solange die gesellschaftlichen Grundlagen nicht reflektiert werden.

Vor diesem Hintergrund findet im Rahmen der neo-kleinbürgerlichen Alternativprojekte auf Klitschen-Niveau eine eigentümliche Neukonfiguration des Abspaltungsverhältnisses statt, wobei die Mittelschichts-Sozialisation bei Männern wie Frauen eine Rolle spielt. Einerseits wird die abgespaltene „Weiblichkeit“ wiederum eingebettet in die falsche Unmittelbarkeits-Utopie und den damit verbundenen ganzen Krampf von „Geschenkökonomie“, „Allmende“, „Natürlichkeit“, Liebesduselei und Kachelofen-Romantik, um daraus eine ideologische „Heimat“ gerade auch für Frauen zu basteln. Das Abspaltungsverhältnis wird nicht kritisiert, sondern auf einen positiv idealisierten „Bereich“ reduziert, in dem sich das „eigentliche Leben“ abspielen soll. In diesem Sinne dürfen sich die Frauen eine „Wertschätzung“ abholen, die sie (ähnlich wie im konservativen Krisendiskurs) gerade auf ihren Status fixiert; und zwar mit verschärftem Anforderungsprofil. Anders ist es gar nicht möglich, wenn das „Alternative“ an der gesellschaftlichen Synthesis vorbei (die eben auch androzentrisch besetzt ist) im „heimeligen“ Näheverhältnis praktisch gemacht werden soll.

Andererseits soll aber dieses „richtige Leben im falschen“ nicht mehr der Weiblichkeit vorbehalten sein. Das idealisierte lebensweltliche „Diesseits“ der ausgeblendeten kapitalistischen Synthesis wird nun auch von „hausfrauisierten“ Softie-Männern der Mittelschicht besetzt, die eine ideologische Nestwärme im Gehäuse von „Kinder, Küche, Copyleft“ (Roswitha Scholz, Der Mai ist gekommen, a.a.O.) spüren möchten. Gerade in diesem Gehäuse reproduziert sich dann das Abspaltungsverhältnis auf spezifische Weise. Die liebesduseligen Alternativmänner rekonstituieren dabei sofort ihre geschlechtliche Suprematie, indem sie die „Kreativabteilung“ und (soweit man noch davon sprechen kann) die „theoretische Begriffsbestimmung“ des ganzen Treibens übernehmen, während die Frauen in diesen Zusammenhängen wieder eher fürs „nur konkrete Konkrete“ zuständig sind. Frauen mit eigenen theoretischen Ansprüchen und insbesondere publizistisch in Erscheinung getretene Theoretikerinnen bleiben in der Regel extern und sind nur genehm, soweit sie das Konstrukt zu legitimieren scheinen. In diese ideologische Idyllisierung passt die Theorie und Kritik des Abspaltungsverhältnisses wie die Faust aufs Auge und muss irgendwie unschädlich gemacht werden.46

Komplettiert wird das Gesamtsyndrom der neuen linken Kleinbürgerei durch eine quasi-philosophische Einkleidung, die bei den „Streifzügen“ schon fast den Charakter einer Travestie annimmt. Wie bereits angesprochen wird der abstrakte Begriff des „Lebens“ bedeutungsschwer raunend überstrapaziert; eine Computeranalyse würde wohl ergeben, dass „Leben“ ein inflationär gebrauchtes Substantiv ist, wie sich an beliebigen „Streifzüge“-Texten mittlerweile zeigen lässt: „Wir wollen nicht den Mangel an Leben prolongieren, sondern die Welt verändern und das Leben neu erfinden. Dies ist von einer gewissen hedonistischen Berechnung nicht zu trennen. Irgendwann ist der Augenblick da, in dem die Leidenschaft und das Bewusstsein, dass eine andere Welt möglich ist, wieder zu wachsen beginnen. Nicht aufgrund der Not der Unterdrückten, sondern aufgrund unseres unwiderstehlichen Verlangens nach Leben“ (Ricky Trang, Die Spezialisten des Überlebens, in: „Streifzüge“ 47/2009). Wie bei Schandl handelt es sich einerseits um eine „tiefgründelnde“ Phrasendrescherei. Aber andererseits hat diese Inflation des „Läbens“ durchaus Methode (vgl. auch den Slogan der gemeinschaftsideologischen Alternativbewegung: „Hast du heute schon gelebt?“). Das gilt auch für die damit zusammenhängende heideggernde „Existenz“-Phraseologie.

Rekurriert wird damit auf jene als „Vitalismus“ oder „Lebensphilosophie“ bezeichnete Strömung, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus dem Historismus entwickelt hatte, im frühen 20. Jahrhundert von der „Wissenssoziologie“ (Mannheim, Scheler u.a.) aufgegriffen worden war und in den Existentialismus Heideggers mündete. Es handelt sich um einen Strang, der von einer zur Marxschen diametral entgegengesetzten Hegel-Kritik ausgegangen war, vermittelt durch die Vulgarisierung des Denkens von Schopenhauer, Kierkegaard und Nietzsche. Alle reaktionären, irrationalistischen, ontologisierenden Ideen bis hin zum NS haben aus dieser Quelle geschöpft. Über die postmodernen Theorien, die sich zentral auf Nietzsche und Heidegger, nicht mehr auf Marx stützen, ist dieses zutiefst affirmative, anti-emanzipatorische Gedankengut in die Linke eingedrungen. Es ist hier nicht der Ort, diesen Zusammenhang näher zu beleuchten.47 Aber es springt in die Augen, dass die „Streifzüge“ reichlich in solch trüben Gewässern fischen. Der über eine vitalistisch-existentialistische bloße Rhetorik eingesickerte Bezug ist freilich so wenig ausgewiesen wie alle anderen Ingredienzen des eklektizistischen Programms. Die „Streifzüge“ sind auch in dieser Hinsicht durch nichts hindurchgegangen, sie kennen wahrscheinlich die einschlägige Geistesgeschichte nur vom Hörensagen. Aber umso schlimmer ist es, wenn ausgerechnet eine sich auflösende Pseudo-Wertkritik zum Trendsetter der reaktionären Mystifikation und des „Jargons der Eigentlichkeit“ in einer Linken wird, die sich zunehmend explizit als Mittelschichtsbewegung versteht und gerade deshalb mit vitalistischen und existentialistischen Ideologemen aufgeladen werden kann.

Dieser Gesamtkomplex kann sich unter dem Gesichtspunkt der „Verbreiterung“ in alle möglichen Richtungen und Personagen ausdifferenzieren, die jeweils einen Aspekt des Syndroms verkörpern und Elemente aller Erscheinungsformen, Entäußerungen oder Entkübelungen des petit bourgeois aus den letzten 200 Jahren enthalten dürfen. Genommen und warenästhetisch eingemeindet wird sowieso alles unter dem formalen Dach der Buchbinder-Synthese; mögliche Widersprüche werden platt gemacht und verschwiemelt gemäß dem „geschenkökonomischen Liebesgebot“. Schließlich „wollen wir im Grunde alle dasselbe“; und in gewisser Weise stimmt das ja auch bei dieser Mischpoke. Das Spektrum der „Streifzüge“-Freunde reicht dabei vom alternativen Waldschrat auf Komposthaufenbasis über die lebensunternehmerische, Schreikrampf-Literatur produzierende „virtuelle Scheinexistenz“ bis zum gemäßigt antisemitischen Landarzt mit existentialistischen Allüren. Ein Publikum und eine Trägerschaft also, die wir garantiert nicht haben wollen. Wenn das „Wertkritik“ sein soll, dann sind wir Feinde der Wertkritik. Vom ideellen Gesamtmief der neuen Kleinbürgerei muss sich kritische Theorie kompromisslos abstoßen.48 Mit diesen Leuten gibt es nichts mehr zu „diskutieren“.

Deshalb zum Schluss ein vielleicht überraschender Vorschlag zur Güte. Es kann ja sein, dass es immer noch etliche an „Wertkritik“ interessierte Leute gibt, die nicht so recht wissen, wohin sie eigentlich gehören. Für die Wert-Abspaltungskritik ist es ein Reibungsverlust, wenn sie als falsche Adresse angelaufen wird und sich in ihrem eigenen Feld mit Bedürfnissen, habituellen Äußerungen und neo-kleinbürgerlichen Ideologemen herumschlagen muss, die eigentlich besser bei den „Streifzügen“ aufgehoben wären. Umgekehrt geht so der „magazinierten Transformationslust“ womöglich ein Teil ihres angestammten Publikums durch die Lappen, sodass sie jener „Breite“ zu ermangeln droht, die ja durchaus im warenästhetisch zugerichteten gesellschaftlichen Dasein der Selbstverkäufer und ihrer alternativideologischen Wurmfortsätze angelegt ist. Es sei den „Streifzügen“ daher ebenso wie allen übrigen Bewohnern des virtuellen Raums gestattet, diesen Text (natürlich nur ungekürzt und mit Quellenangabe) auf ihren Websites zu publizieren, damit allen klar wird, wie unmenschlich und unmöglich die „lebensfeindlichen Checker“ einer ebenso abgehobenen wie wenig netten Theoriebildung sind. Sie könnten damit einen enormen Reklame-Effekt für sich erzielen. Die Wiedererkennung der eigenen Identität und die damit hervorgerufene Entrüstung wird ihnen die entsprechenden Leute sicherlich in Scharen zutreiben. So wäre beiden Seiten gedient, wenn zusammenwächst, was zusammengehört.

 

Anmerkungen




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