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Manfred Sohn


Manfred Sohn

Bruch des Völkerrechts!!!

„Bruch des Völkerrechts“, lässt die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (FAZ) am 23. August auf ihrer Titelseite den ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko laut rufen, als ein russischer Hilfskonvoi die Grenze passierte, um Hilfsmittel in die von ukrainischen Truppen belagerte Stadt Luhansk zu bringen.

Als Bruch des Völkerrechts beklagen in anderen Medien Gutmenschen die Versuche Israels, durch Luftangriffe und Kommandounternehmen Raketenstellungen im Gaza-Streifen zu zerstören, die ihre Städte unter Feuer nehmen.

„Bruch des Völkerrechts“ also ist das mit drei Ausrufezeichen versehene Begleitgewinsel des zunehmenden Gemetzels, das sich vor unseren Augen östlich und südlich des noch ruhigen europäischen Zentrums abspielt.

Diejenigen, die wechselseitig mit diesem Ruf auf den Lippen gegeneinander ziehen, jagen allesamt einem Gespenst nach. Es gibt kein Völkerrecht mehr. Es ist entstanden mit der Herausbildung bürgerlicher Nationalstaaten und ihrem Versuch, die Grundlagen ihrer innerstaatlichen Rechtsverhältnisse auf die Beziehungen untereinander zu übertragen. Das höchste Maß ihrer verbindlichen schriftlichen Fixierung erreichte es in der Zeit der Herausforderung des Kapitalismus durch die sich selbst als sozialistische Alternative definierenden Staaten, die nach der Oktoberrevolution in Russland 1917 entstanden. Sie versuchten, den etablierten Mächten ihre eigene Melodie vorzuspielen. Zeitweise schien es selbst manchem Linken so, als sei ein einheitliches internationales Rechtssystem im Entstehen. Vor unseren Augen zerreißt dieser Schleier der Illusionen und hinter ihm wird eine noch hässlichere Fratze als das Erlöschen allein des „Völkerrechts“ deutlich: Mit ihm zuerst zerbröselt das bürgerliche Rechtssystem überhaupt.

Robert Kurz schrieb völlig zu Recht schon 2003 vom „Zusammenbruch des Völkerrechts“ und verwies auf den Sündenfall des NATO-Angriffs auf Jugoslawien: „Der demokratische Gesamtimperialismus verzichtete auf das Mandat der UNO und erkannte schon damit seine eigenen Prinzipien nicht mehr an.“1

Diejenigen, die – vor allem auf der Illusionslinken – den Niedergang des Völkerrechts bejammern, übersehen sowohl dessen geschichtliche Genese als auch seine geschichtliche Begrenztheit. Es war und ist in seinen klagend eingeforderten Restkrümeln an den bürgerlichen Nationalstaat gebunden. Aber der bürgerliche Nationalstaat ist in Auflösung begriffen. In seiner aufsteigenden, expansiven Phase hat der Kapitalismus nationale, souveräne Staaten gebildet, oder – nach gründlicher Zerstörung vorkapitalistischer Strukturen – Kolonien oder abhängige Schein-Staaten in der kapitalistischen Peripherie gegründet. Von dieser alten Staatenwelt des 20. Jahrhunderts ist immer weniger übrig geblieben und es wird im Laufe des 21. Und 22. Jahrhunderts nichts mehr übrig bleiben. Es gibt keinen Staat Afghanistan mehr, es gibt keinen Staat Irak mehr, es gibt keinen Staat Ukraine. Es gibt an ihrer Stelle an der Peripherie der kapitalistischen Zentren sich ausbreitende staatenlose Gebiete, die von Banden, mafiösen Gebilden und Warlords beherrscht werden. Der Zerfall des bürgerlichen Nationalstaats aber greift wie mit Polypenarmen bereits auch in die Zentren des Kapitalismus hinein. Wie abgeschrieben aus Goethes „Zauberlehrling“ versuchen die USA, die von ihnen selbst gezüchteten Zerfallsprodukte mit militärischen Mitteln zu züchtigen. Sie versuchten es mit Al Qaida, die sie ins Leben gerufen hatten, um die Sowjetunion in Afghanistan zu schlagen, sie versuchen es gegen ISIS, die sie zuvor gepäppelt hatten – und sie sehen immer mehr ein, dass ihre militärische Kraft nicht ausreicht, um gegen die immer neuen von ihnen selbst gezeugten Gespensterarmeen zu ringen. Also überantworten sie immer mehr Aufgaben in diesem dreckigen Don-Quijotterie-Kampf auf private Söldnerheere und auf Banden, die ihnen zeitweise zu nützen scheinen und von ihnen deshalb mit Waffen ausgerüstet werden. Das Wuchern der Söldnerheere und verbündeten Hilfstruppen aber unterminiert das letzte Unterpfand bürgerlicher Herrschaft: Das staatliche Gewaltmonopol. Die geduldige Ironie der Geschichte besteht darin, dass ausgerechnet diejenige Weltmacht, die bis in ihre Herrschaftsarchitektur das römische Imperium zu kopieren sucht, blind ist gegenüber dem Menetekel vom Teutoburger Wald, wo die ruhmreichen Legionen von römisch ausgebildeten Abtrünnigen zum Sterben in die Sümpfe getrieben wurden.

So versinkt vor unseren Augen die bürgerliche Welt und wer seinen Marx und seine Luxemburg gelesen hat, weiß, was diese Welt in ihrem Innersten zusammen hielt und was nun seine integrierende Kraft verliert: Der Kern des kapitalistischen Systems ist die Ausbeutung der Ware Arbeitskraft, die es gleichzeitig, getrieben von der Peitsche der Konkurrenz und mit dem Ziel der Steigerung der Produktivität um jeden Preis, aus dem Produktionsprozess vertreiben muss. Mit der mikroelektronischen Revolution ist aus dieser von Marx zuerst entdeckten Potenz alltägliche Realität geworden. Also sammeln sich – zuerst an den Rändern der kapitalistischen Welt – immer größere Mengen vor allem jüngerer Menschen, hier wiederum vor allem junge Männer, die nach dem Sterben der Hoffnung auf den scheinbar-realen Sozialismus 1989 ihre Sehnsüchte zuerst auf das Kopieren des Lebensstils der kapitalistischen Zentren setzten und nach Ent-Täuschung dieser Hoffnung nun die Milizen und Banden rund um Europa herum speisen. Sie sammeln sich in der Ukraine unter dem Banner des faschistischen „Rechten Sektor“, in Ägypten nach dem Verwelken des arabischen Frühlings erneut unter dem Banner der Muslimbruderschaft. Sie haben mit dem „Islamischen Staat“ eine neue Stufe erreicht. Es wird nicht das Ende ihres Aufstiegs sein. Vor allem aber: Sie sind das Brandzeichen an der Wand, das die Zukunft in den Zentren selbst ankündigt. Denn die Gesetze der kapitalistischen Kernschmelze, die sich in unserem Jahrhundert vollzieht, wirken, wenn auch zeitlich verzögert, auch hier und werden Rechtssystem wie bürgerliche Staatsstrukturen zersetzen.

Die verzweifelten Bemühungen, sich in diesem Strudel von Untergang und Chaos an den Strohhalm „Völkerrecht“ zu klammern, sind lächerlich. Sie sind darüber hinaus gefährlich, weil sie die Illusion erzeugen, irgendetwas könne progressiv verändert werden durch Anrufen eines Gespenstes aus dem 20. Jahrhunderts. Veränderungskraft erwächst nur aus dem, was Rosa Luxemburg zu Recht als die vornehmste Pflicht jedes revolutionären Menschen erkannt hat: Die Wahrheit auszusprechen. Und zu dieser Wahrheit gehört: Es gibt kein Völkerrecht mehr.




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