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Robert Kurz


erschienen im Neuen Deutschland
am 20.05.2005

Robert Kurz

DIE HEUSCHRECKENPLAGE

Es ist kein Geheimnis, dass sich das intellektuelle Niveau der politischen Klasse ungefähr auf dem Level von Provinzstammtischen befindet. Deshalb konnte SPD-Chef Müntefering das kalt gewordene Herz seiner Partei auch nur mit einer "Kapitalismuskritik" erwärmen, bei der sich Karl Marx im Grab umdrehen musste. Statt die kapitalistische Produktionsweise zu kritisieren, auf die ja längst auch die SPD ihren Schwur geleistet hat, glaubte Müntefering dem Volk aufs Maul zu schauen und wahltaktisch punkten zu können, indem er verkürzt und isoliert gegen das spekulative Finanzkapital der Hedge-Fonds als "Heuschreckenplage" hetzte. Das ist nicht einmal mehr linkspopulistisch, sondern eindeutig rechtspopulistisch. Auch die linken Gewerkschafter von "Labournet" waren entsetzt, dass das alte, antisemitisch aufgeladene NS-Vokabular vom guten "schaffenden" und bösen "raffenden" Kapital Eingang in den sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Diskurs gefunden hat.

Aber die bloß rhetorische Kennzeichnung dieser Sorte "Kapitalismuskritik" als "stumpf und dumpf" bleibt selber hilflos und billig, wenn sie nicht erklären kann, welche gesellschaftlichen Entwicklungen einer solchen rechtspopulistischen Sprache bis in die linke SPD und die IG Metall hinein zu Grunde liegen. Wenn man sich die theoretischen Analysen des traditionellen und akademischen Restmarxismus aus den letzten 10 Jahren anschaut, wird man mühelos die schrägen Müntefering-Töne wiederfinden. Zwar gab es Ähnliches auch im Agitprop-Vokabular der alten Arbeiterbewegung, aber theoretisch ist sie nie so tief gesunken. Rudolf Hilferding, der klassische marxistische Theoretiker des Finanzkapitals, sah dessen Aufkommen nicht als "Heuschreckenplage", sondern als wichtigen Schritt in Richtung Sozialismus, weil dadurch die Vergesellschaftung der gesamten Reproduktion einen höheren Organisationsgrad erreichen würde. Die politisch formierte Arbeiterbewegung müsse nur noch diese bereits finanzkapitalistisch vorbereitete Vergesellschaftung als Arbeiterstaat in die eigenen Hände nehmen. Natürlich war das selber eine verkürzte Vorstellung, die sich mit dem Untergang des Staatssozialismus erledigt hat. Die restlichen traditionellen Marxisten können Hilferdings Ideen nicht noch einmal aufwärmen. Weil sie aber nicht fortgeschritten sind zu einer radikaleren Kritik des modernen warenproduzierenden Systems und seiner "abstrakten Arbeit" (Marx), fallen sie nun zur Strafe hinter Marx und Hilferding zurück auf eine kleinbürgerliche "Kapitalismuskritik", in der das "raffende" Finanzkapital verteufelt wird.

Diese gefährliche ideologische Wende mit Nähe zu einem "strukturellen Antisemitismus" hat durchaus eine soziale Basis. Mit der Krise der "abstrakten Arbeit" zersetzt sich auch die alte industrielle Arbeiterklasse. Armut beruht nicht mehr auf kapitalistisch produktiver Arbeit; immer mehr prekarisierte Lohnabhängige müssen sich als "Zirkulationsagenten" durchschlagen. Indem die Erwerbsbiografien massenhaft zwischen zirkulativer Lohnarbeit, staatlichen Transfereinkommen und Scheinselbständigkeit, Ich-AG etc. schwanken, erscheinen die Individuen als "Unternehmer ihrer Arbeitskraft". Auch ohne äußeren kleinen Produktionsmittelbesitz wird der eigene Körper zum Humankapital und jeder Mensch gewissermaßen zum "Kleinbürger seiner selbst". So entsteht möglicherweise gerade in der abstürzenden neuen Mittelklasse (von High-tech-Qualifizierten bis zu Medizinern, Sozialarbeitern usw.) Anfälligkeit für neo-kleinbürgerliche Ideologien der schlimmsten Sorte. Müntefering hat damit gezündelt. Ein linkes gesellschaftskritisches Denken, das gegen diese verkürzte "Kapitalismuskritik" nicht entschiedenen Widerstand leistet, sondern ihr auch noch zuarbeitet, droht jeden emanzipatorischen Anspruch zu verlieren und vom Rechtspopulismus verschlungen zu werden.




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