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Robert Kurz


Robert Kurz

Die Himmelfahrt des Geldes

Strukturelle Schranken der Kapitalverwertung, Kasinokapitalismus und globale Finanzkrise

 

1. Realkapital und zinstragendes Kapital

Zu den vielen schizoiden Strukturen der modernen Welt gehört auch das widersprüchliche Verhältnis von Arbeit und Geld. Arbeit als abstrakte Entäußerung menschlicher Energie im Prozeß betriebswirtschaftlicher Rationalität und Geld als die Erscheinungsform des dadurch erzeugten ökonomischen »Werts« (d.h. einer fetischistischen Phantasmagorie des objektivierten gesellschaftlichen Bewußtseins) sind die beiden Seiten derselben Medaille. Geld repräsentiert oder »ist« im kapitalistischen Selbstzweck einer unaufhörlich gesteigerten Akkumulation dieses Fetisch-Mediums nichts anderes als »tote Arbeit«, real abstraktifiziert zur dinglichen Gestalt. Der menschliche »Stoffwechselprozeß mit der Natur« (Marx) ist gerade dadurch zur abstrakten, an sich sinnlosen Entäußerung von Arbeitskraft geworden, daß sich in der potenzierten Fetischform des Kapitals das Geld dem menschlichen Aktor gegenüber verselbständigt hat: Nicht der menschliche Bedürfniszweck steuert die Verausgabung von Energie, sondern umgekehrt hat sich die dinglich verselbständigte »tote« Form der verausgabten Energie die Befriedigung der menschlichen Bedürfniszwecke untergeordnet. Die Naturbeziehung ebenso wie die gesellschaftlichen Beziehungen sind zu bloßen Durchlaufprozessen der »Verwertung von Geld« geworden.
Dieser Verwertungsprozeß, in dem sich das Fetisch-Medium auf sich selbst rückgekoppelt hat, läuft freilich keineswegs ohne Friktionen ab. Allein dadurch, daß Arbeit und Geld überhaupt als verschiedene Durchgangsstadien der Selbstzweck-Verwertung sich darstellen, können diese beiden Momente auch krisenhaft auseinanderfallen, d.h. in ihrer Aggregierung nicht mehr übereinstimmen. Der Natur der Sache nach erscheint diese mangelnde Übereinstimmung als Entkoppelung des Geldes von der abstrakten Arbeits-Substanz: Die Vermehrung des Geldes läuft dann schneller als die Anhäufung abstraktifizierter »toter Arbeit« und hebt somit von ihrer eigenen Grundlage ab. Da sich aber die beiden Erscheinungen Arbeit und Geld in einem blinden historischen Prozeß hinter dem Rücken der menschlichen Subjekte herausgebildet haben, ist ihr innerer Zusammenhang weder im Alltagsdenken des »gesunden Menschenverstandes« noch im wissenschaftlichen Denken bewußt. Wie Arbeit und Geld in den diversen Ideologien gegeneinander ausgespielt werden können, so auch in der Auffassung des ökonomischen Prozesses.
Zwar gilt die moderne Gesellschaft allgemein als »Arbeitsgesellschaft« oder »Erwerbsgesellschaft«, und es ist unbestritten, daß Arbeit und Geldeinkommen letztlich eine Identität darstellen. Aber dieser logische Zusammenhang wird nur in einem flachen soziologischen Sinne verstanden oder als eine Art moralisches Postulat geltend gemacht, etwa in den Ideologien von der »ehrlichen Arbeit«, während die ökonomische Notwendigkeit einer Übereinstimmung dieser beiden Erscheinungsformen des Verwertungsprozesses nicht unbedingt für plausibel gehalten wird. Durch die keineswegs leicht erkennbaren, im Laufe der Modernisierung immer komplexeren Vermittlungsformen zwischen Arbeit und Geld entsteht die Illusion, das Geld könne auch unabhängig von seiner abstrakten Arbeits-Substanz prozessieren.
Das theoretische Denken der Volkswirtschaftslehre verkennt die kapitallogisch notwendige Übereinstimmung von abstrakter Arbeit und Geld bekanntlich deswegen, weil seit dem Aufkommen der Grenznutzentheorie im Unterschied zu den eigenen Klassikern (Adam Smith und David Ricardo) der Wertbegriff entweder ganz fallengelassen oder oberflächlich mit den erzielbaren Preisen in eins gesetzt und subjektiviert wurde, während eine objektive Wertsubstanz als widerlegt und die Arbeitswerttheorie als bloßes Fossil gilt. In diesem Punkt sind sich auch die beiden konträren ökonomischen Doktrinen der Nachkriegszeit, Keynesianismus und Monetarismus, theoretisch durchaus einig, ohne jedoch den tatsächlichen Zusammenhang von Arbeit und Geld völlig ignorieren zu können. Der Keynesianismus muß der basistheoretisch verleugneten Logik der abstrakten Arbeit wenigstens oberflächlich durch den Zusammenhang von »Beschäftigung« und »Geldeinkommen« Rechnung tragen. Auch im Monetarismus von Milton Friedman erscheint das Problem auf eine ebenso ahnungsvolle wie begriffslose Weise wieder, indem er die Entkoppelung der Geldmenge von der Menge der Produktion (für den Markt) als Grundübel kritisiert. Weder der keynesianische Begriff der »Beschäftigung« (Nachfrage-Faktor) noch der monetaristische Begriff der »Produktion« (Angebots-Faktor) stellt jedoch irgendeine innere, substantielle Beziehung von Arbeitsmenge und Geldmenge her, in der die Illusion von der selbständigen Bewegung des Geldes überwunden wäre. Nur indirekt scheint das Problem auf.
In der Praxis des kapitalistischen Prozesses entsteht diese Illusion aus der besonderen Natur des im Bankensystem konzentrierten Geldkapitals. Geld wird eigentlich zu Kapital, indem es direkt für die Vernutzungsbewegung abstrakter Arbeit verausgabt und dadurch »aus einem gegebnen Wert zu einem sich selbst verwertenden, sich vermehrenden Wert« (Kapital Bd. 3, 350) wird: Eingekaufte Produktionsmittel einschließlich der menschlichen Arbeitskraft verwandeln sich gemäß betriebswirtschaftlicher Rationalität in Waren, die auf dem Markt verkauft werden und deren Resultat ein Überschuß in der Abstraktionsform Geld ist. Diese Logik, von Marx in die Formel G-W-G' gefaßt, kann nur durch abstrakte Arbeit vermittelt werden, die sich in Waren inkarniert. Die Ausgangsmenge »G« des als Kapital fungierenden Geldes kann jedoch vom betriebswirtschaftlichen, warenproduzierenden Unternehmen auch (ganz oder teilweise) geliehen sein, wenn das eigene Geldkapital nicht ausreicht. Dafür dienen die im Bankensystem konzentrierten Spargelder der Gesellschaft: Geld, das von seinen Besitzern weder für Konsum noch für betriebswirtschaftliche Anlagen verwendet, sondern in der Art des von einem Hund vergrabenen Knochens zwecks späterer Verknusperung deponiert wird.
Dennoch ist auch dieses Geld Kapital, und zwar in der Form des Kredits: Es wird einstweilen über das Bankensystem an »fungierendes« betriebswirtschaftliches Kapital verliehen. Das Geld dient hier weder der Vermittlung von Waren noch ist es direkt ein betriebswirtschaftliches Geldkapital, das für seinen Verwertungsprozeß abstrakte Arbeit anwendet, sondern es wird paradoxerweise selber zur Ware, die auf speziellen Märkten (nämlich den Finanzmärkten) gehandelt wird und deren Preis der Zins ist.1 Das Geld als Ware auf den Finanzmärkten ist also zinstragendes Kapital im Unterschied zum »reellen« betriebswirtschaftlichen Kapital, von dem die tatsächliche substantielle Verwertungsbewegung getragen wird. Vom Standpunkt dieses zinstragenden Kapitals aus verkürzt sich die Formel der Verwertung auf G-G'; d.h. scheinbar ohne Dazwischenkunft realer Produktion von »W« gewinnt das Geld unmittelbar als Ware die geradezu »okkulte Qualität« (Marx), vermeintlich aus sich heraus »mehr Geld« zu hecken: »Die charakteristische Bewegung des Kapitals überhaupt ... die Rückkehr des Kapitals zu seinem Ausgangspunkt, erhält im zinstragenden Kapital eine ganz äußerliche, von der wirklichen Bewegung, deren Form sie ist, getrennte Gestalt ... Weggeben, Verleihen von Geld für eine gewisse Zeit, und Rückempfang desselben mit Zins (Mehrwert) ist die ganze Form der Bewegung, die dem zinstragenden Kapital als solchem zukommt. Die wirkliche Bewegung des ausgeliehenen Geldes als Kapital ist eine Operation, die jenseits der Transaktionen zwischen Verleihern und Anleihern liegt. In diesen selbst ist diese Vermittlung ausgelöscht, nicht sichtbar, nicht unmittelbar einbegriffen... Die Rückkehr drückt sich daher hier auch nicht aus als Konsequenz und Resultat einer bestimmten Reihe ökonomischer Vorgänge, sondern als Folge einer speziellen juristischen Abmachung zwischen Käufer und Verkäufer« (Kapital Bd. 3, 360 f.).
Einerseits kann es natürlich nicht ernsthaft abgestritten werden, daß Geld ohne Waren (oder Geld für sich allein als Ware) ein gesellschaftliches Unding wäre; andererseits stellt im allgemeinen Vorurteil von Geld als Kapital nicht so sehr das warenproduzierende Betriebskapital als vielmehr das zinstragende Kapital die reine und »eigentliche« Form des Kapitals dar. Die tatsächliche einzige Quelle des »Geld heckenden Geldes« (Marx), der Vernutzungsprozeß abstrakter Arbeit in der wirklichen Warenproduktion, verschwindet so hinter der »inhaltslosen Form« (Marx) seiner eigenen Bewegung. Im zinstragenden Kapital erscheint die Hervorbringung von »mehr Geld« nicht etwa als (fetischistischer) gesellschaftlicher Ausdruck der kapitalistischen Produktion von Waren, sondern vielmehr als eine eigene Warenproduktion neben den anderen, so gut wie die Produktion von Strumpfsocken, Zündkerzen oder Erlebnisreisen. Die im Bankensystem verausgabte abstrakte Arbeit wird umstandslos (auch im VWL-Begriff der »Wertschöpfung«) der Arbeit in den Produktions- und Dienstleistungsbetrieben gleichgesetzt; es ist sogar von einer »Finanzindustrie« die Rede.2 Die geisterhafte Verdopplung der Produkte des warenproduzierenden Systems in Ware und Geld ist eskamotiert zugunsten einer kruden Identifizierung des Geldes als Ware.
Zunächst mag es den Anschein haben, daß es sich hier nur um eine subjektive Illusion handelt, also um die bloße Ideologie des zinstragenden Geldkapitals, dessen Agenten die tatsächliche substantielle Gesamtbewegung nicht bewußt ist. Solange der reale Verwertungsprozeß auf seinen eigenen Grundlagen funktioniert, mag es sich in der Tat so verhalten. Dem verleihenden Geldbesitzer kann es ja wirklich egal sein, woher der Zins eigentlich stammt, der seinem wundersamen »Geld heckenden Geld« entwächst. Problematisch wird es jedoch, wenn das verliehene Geld nicht wirklich für eine gelingende betriebswirtschaftliche Vernutzungsbewegung abstrakter Arbeit verausgabt wird. Dieser Fehleinsatz ist auf einer ganzen Stufenleiter möglich, auf der das zinstragende Kapital in wachsendem Maße vom realen Verwertungsprozeß abhebt und zum »fiktiven Kapital« (Marx) wird.3
Der einfachste Fall ist natürlich der, daß das reelle Betriebskapital, das sich Geld geliehen hat, mit seinen Waren auf dem Markt nicht reüssieren kann und bankrottiert. Dann schlägt die Nichtübereinstimmung von Arbeit und Geld (die Arbeit des warenproduzierenden Unternehmens wurde vom Markt für ungültig erklärt) unmittelbar auf das zinstragende Kapital zurück: die verausgabten Kredite müssen »abgeschrieben« werden.4 Derselbe Effekt ergibt sich, wenn das verliehene Geld sowieso von vornherein nicht für reale betriebswirtschaftliche Warenproduktion, sondern z.B. für Luxus- oder Prestigekonsum verausgabt wurde; das war seit den 70er Jahren bei vielen Krediten der Fall, die vom internationalen Finanzsystem an diverse Potentaten und befreundete Mordregimes der Dritten Welt vergeben wurden.
Im eigentlichen Sinne »fiktiv« wird die scheinbar direkte Bewegung G-G' erst dann, wenn das Fiasko des substantiellen Verwertungsprozesses dadurch überspielt wird, daß die faul gewordenen Kredite mit anderen, neuen Krediten »bedient« werden; das ist heute in großem Maßstab nicht nur bei den Dritte-Welt-Krediten der Fall, sondern auch bei einer globalen Masse von Unternehmens- und Konsumentenkrediten. Das Finanzsystem schiebt auf diese Weise einen unaufhörlich wachsenden Berg von »substanzlosem« Kreditgeld vor sich her, das behandelt wird, »als ob« es einen realen Verwertungsprozeß durchlaufen würde, der jedoch lediglich durch Meta-Kredite simuliert wird. In dieser Form verlängert sich der Verkettungszusammenhang von abstrakter Arbeit und Geld derart, daß die Nichtübereinstimmung der beiden Erscheinungsformen nicht sofort wirksam, sondern gewissermaßen »gestreckt« wird. Unvermeidlich muß aber schließlich auch die fiktive Verlängerungskette reißen, weil die Meta-Verzinsung der über ihren substantiellen Gehalt hinausgewachsenen Bewegung G-G' an Grenzen stößt.5
Eine noch höhere Stufe der Entkoppelung von Arbeit und Geld wird erreicht, wenn das Kreditgeld als Ausgangsbasis einer spekulativen Bewegung dient, in der nicht einmal mehr der Anschein einer realen Warenproduktion erweckt wird. Der Handel mit den bloßen Eigentumstiteln von Aktien und Immobilien erzeugt dabei fiktive Wertsteigerungen, die mit den tatsächlichen Gewinnen aus der betriebswirtschaftlichen Vernutzung abstrakter Arbeit auch formell überhaupt nichts mehr zu tun haben. Eine solche spekulative Bewegung setzt immer dann im großen gesellschaftlichen Maßstab ein, wenn die betriebswirtschaftliche Realakkumulation des Kapitals an Grenzen stößt und die Gewinne aus vergangenen Produktionsperioden nicht mehr ausreichend für eine erweiterte reale Warenproduktion investiert werden können, sondern rein im Finanzsystem angelegt werden müssen. Der Druck in Richtung einer unmittelbaren Bewegung G-G' wächst dann so stark an, daß bei den Aktien die spekulative Wertsteigerung der Kurse die realen Dividenden zu »Peanuts« herabstuft; das Kurs/Gewinn-Verhältnis läuft aus dem Ruder. Solche spekulativen Blasen aus der fiktiven Wertsteigerung von Eigentumstiteln hat es mehrfach in der kapitalistischen Geschichte gegeben, und jedesmal endeten sie unvermeidlich mit einem großen Finanzkrach.

 

2. Die historisch zunehmende Abhängigkeit des Realkapitals vom Kredit

Die »Bedingung der Möglichkeit« für das Abheben des Geldes von seiner realen Arbeits-Substanz ist umso mehr gegeben, je größer der Anteil des zinstragenden Kapitals an der gesamten Reproduktion ist. Historisch kann in dieser Hinsicht tatsächlich eine Verlagerung zugunsten des Kredits beobachtet werden. Die allmähliche Ausdehnung der betriebswirtschaftlichen Rationalität zum flächendeckenden Prinzip der Produktion, deren Verwissenschaftlichung und die dadurch im säkularen Maßstab steigende Kapitalintensität (d.h. immer höhere Vorauskosten für eine konkurrenzfähige Warenproduktion) sowie die damit einhergehende Ausdehnung des anonymen Aktienkapitals erforderten immer größere Massen von Kreditgeld, um die kapitalistische Produktionsweise überhaupt noch in Gang halten zu können.
Auf der Stufe des von heute aus gesehen geradezu archaischen Privatkapitals im 19. Jahrhundert mit seinen persönlichen patriarchalischen Eigentümern und den dazugehörigen Familienclans6 waren noch Prinzipien der Seriosität und »Solvenz« gültig, die eine ständige größere Kreditaufnahme geradezu als unanständig und als »Anfang vom Ende« erscheinen ließen; die damalige Trivialliteratur ist voll von Geschichten, in denen »große Häuser« durch Abhängigkeit vom Kredit zugrunde gerichtet werden, und Thomas Mann hat dieses Sujet in einigen Passagen seiner »Buddenbrooks« bis zum Nobelpreis hochgefahren. Natürlich war das zinstragende Kapital als solches von Anfang an unentbehrlich für das sich herausbildende System, aber es erreichte noch keinen entscheidenden Anteil an der kapitalistischen Gesamtreproduktion; und namentlich die Geschäfte des »fiktiven Kapitals« galten sozusagen als Gauklerszene der Hochstapler und »unehrlichen Leute« am Rande des eigentlichen Kapitalismus (an die sich freilich auch damals schon bei Spekulationswellen die Honoratioren des Bürgertums anschlossen). Noch Henry Ford lehnte lange Zeit eine Kreditaufnahme seines Unternehmens bei den Banken ab und wollte seine Investitionen nur aus Eigenkapital finanzieren.
Dieser noch eher patriarchalische Begriff der Solvenz hat sich im Laufe des 20. Jahrhunderts gründlich verflüchtigt, weil er ganz einfach auch im normalen kapitalistischen Geschäftsleben nicht mehr durchgehalten werden konnte. Die marxistischen Theorien von der neuen Macht des »Finanzkapitals« (Hilferding, Lenin u.a.) nach der Jahrhundertwende waren schon Reflex auf einen Entwicklungsprozeß, in dem das betriebswirtschaftliche Realkapital strukturell von seiner eigenen Grundlage der abstrakten Arbeit abzuheben begann; auch wenn die Marxisten der alten Arbeiterbewegung weniger den eigentlichen ökonomischen Inhalt (nämlich als aufscheinende Grenze der Wert-Ökonomie selbst) reflektierten, sondern nur die Veränderung der kapitalistischen Oberflächenstruktur und der soziologischen Machtverhältnisse wahrnahmen.
Dieses Abheben des Kreditsystems läßt sich als wachsendes strukturelles Mißverhältnis zwischen verwissenschaftlichtem Sachkapital und noch anwendbarer rentabler Arbeitsmasse beschreiben; die säkular ansteigende Kapitalintensität (bei Marx als »wachsende organische Zusammensetzung« des Kapitals figurierend) erfordert immer mehr Einsatz von Geldkapital, um immer weniger Arbeit pro Kapitaleinheit mobilisieren zu können. Dieser krisentheoretisch faßbare Sachverhalt drückt sich auch auf der monetären Ebene als die dargestellte wachsende Bedeutung des zinstragenden Kapitals aus. Mit anderen Worten: das »fungierende« reelle Betriebskapital, das abstrakte Arbeit in tatsächlicher Warenproduktion anwendet, muß in steigendem Maße auf geliehenes Geldkapital aus dem Bankensystem zurückgreifen, um den bereits akkumulierten Wert noch weiterverwerten zu können. Die sogenannte Eigenkapitalquote ist daher über lange Zeiträume hinweg drastisch gesunken; sie liegt heute, von Ausnahmen abgesehen, durchwegs unter 50 Prozent.7 Das bedeutet nichts anderes, als daß das reale Betriebskapital immer mehr zukünftige vernutzte Arbeitsmengen (zu erwartende Gewinne) im voraus verpfänden muß, um aktuell weiterproduzieren zu können.
Das real warenproduzierende Kapital saugt also gewissermaßen seine eigene (fiktive) Zukunft an und verlängert damit auf einer Meta-Ebene sein Leben über die bereits aufscheinende innere Schranke hinaus. Das funktioniert nur, solange sich die Produktionsweise als solche noch ausdehnt (wie es bis zum letzten Drittel des 20. Jahrhunderts der Fall war) und die fiktional vorweggenommene zukünftige Wertmasse auch tatsächlich wenigstens insoweit nachfolgt, als damit die Kredite verzinst werden können. Daß aber die säkular steigenden Kapital-Investitionen grundsätzlich und im gesellschaftlichen Durchschnitt nicht mehr aus eigenen Mitteln, also nicht mehr aus der realen Profitmasse vollfinanziert werden können, ist ein starkes Indiz für den prekär werdenden Charakter der ganzen Veranstaltung. Diese strukturelle Verschiebung zugunsten des zinstragenden Kapitals ist zwar noch nicht dasselbe wie die direkte Bedienung von Krediten mit anderen Krediten; aber dennoch wird die reale Akkumulationsbewegung indirekt abhängig von den konzentrierten Spar- geldern der Gesellschaft.
Für das Absaugen dieser Gelder in die Vorfinanzierung des Akkumulationsprozesses muß ihren Eignern ein Anreiz geboten werden, d.h. das Zinsniveau muß nicht nur akut und zyklisch bei vorübergehender Knappheit an Geldkapital (als Folge einer Verschleierung der Krise in der realen Warenproduktion durch Kredite), sondern säkular und strukturell ansteigen, was zumindest nach dem Zweiten Weltkrieg tatsächlich durch die starken zyklischen Schwankungen hindurch als langfristiger Trend beobachtet werden kann; konterkariert wird dieser säkulare Anstieg nur durch eine enthemmte Liquiditätsschöpfung des Zentralbankensystems, womit allerdings der Entkoppelungsprozeß des Geldes von der kapitalproduktiven Grundlage sich beschleunigt und der Zinsdruck dennoch nur zeitweilig sich lockert. Schon auf dieser Ebene wird also sichtbar, daß der zyklische Prozeß allmählich von einer strukturellen Erschöpfung eingeschnürt wird.8 Die hinausgeschobene strukturelle Grenze des gesamten Verwertungsprozesses muß sich irgendwann auf der Ebene des Geldkapitals neu aufrichten, d.h. die reale Produktion durch die Verteuerung (und schließlich die Krise) des Geldes ausbremsen. Gleichzeitig werden die Kapitalien der realen Warenproduktion anfälliger für die Schwankungen der Geldmärkte; auf den Geldmärkten wiederum verbessern sich durch die wachsende gesellschaftliche Bedeutung des zinstragenden Kapitals die Bedingungen für spekulative Entkoppelungsbewegungen über die bekannten historischen Beispiele hinaus. Mit einem Wort: der industrielle Kapitalismus wird aufgrund seiner eigenen inneren Entwicklung in zunehmendem Maße »unseriös« nach seinen eigenen Kriterien.

 

3. Die tertiäre Revolution

Die bisherige Argumentation bezog sich ausschließlich auf den Entwicklungsprozeß des industriellen Kapitals bzw. das Verhältnis von realer industrieller Warenproduktion und zinstragendem Geldkapital. Über diese basale Struktur hat sich jedoch im Laufe des 20. Jahrhunderts (und in gesteigertem Tempo nach dem Zweiten Weltkrieg) ein stetig wachsender »tertiärer Sektor« der sogenannten Dienstleistungen gelegt. Daraus haben Ökonomen und Gesellschaftstheoretiker auf die allmähliche Herausbildung eines »postindustriellen« Dienstleistungskapitalismus geschlossen (Jean Fourastié, Daniel Bell u.a.). Wie der »primäre Sektor« der Landwirtschaft seine Bedeutung an den »sekundären Sektor« der Industrie verloren habe, so gebe nun eben die Industrie ihrerseits den Staffelstab der Reproduktionssektoren an den »tertiären Sektor« der Dienstleistungen weiter.
Diese oberflächliche Betrachtung übersieht jedoch völlig, daß es sich beim ersten der genannten großen Wandlungsprozesse in der Reproduktionsstruktur keineswegs um eine innerkapitalistische Entwicklung gehandelt hat, sondern vielmehr um die Herausbildungs- und Durchsetzungsgeschichte des Kapitalismus selbst. Nicht bloß die Technik und der materielle Inhalt der Produktion haben sich dabei geändert, sondern auch die elementaren gesellschaftlichen Beziehungsformen wurden in einer langen, schmerzhaften und turbulenten Transformation umgestürzt. Die vorindustrielle Agrargesellschaft kannte wohl das Kaufmanns- und das zinstragende Kapital als Nischenformen, aber keine produktive Kapitalverwertung; es gab Märkte, aber keine Marktwirtschaft; und es gab Geld, aber keine Geldwirtschaft. Der Zusammenhang von Ware und Geld als geschlossenes System der Reproduktion entstand erst mit der Verwandlung von Produktionsmitteln und menschlicher Arbeitskraft in industrielles Kapital.
Wenn nun ein ähnlich tiefgreifender historischer Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft auf der Tagesordnung steht, so ist eigentlich zu erwarten, daß dieser ebensowenig auf eine bloß sektorale Umgruppierung innerhalb der bestehenden gesellschaftlichen Beziehungsformen von allgemeiner Markt- und Geldwirtschaft beschränkt bleiben wird. Mit anderen Worten: der gesellschaftliche Bedeutungsverlust des industriellen »Sektors« könnte identisch sein mit einem krisenhaften Bedeutungsverlust der kapitalistischen Markt- und Geldform als allgemeiner Reproduktionsform; ganz genauso, wie einst das Schrumpfen des agrarischen »Sektors« identisch war mit einem krisenhaften Schrumpfen der nicht-warenförmigen Subsistenzwirtschaft und der Feudalbeziehungen. Aus dieser Sicht, in der die Tiefe des Strukturwandels ernst genommen wird, erscheint die kapitalistische Produktionsweise als identisch mit dem Aufstieg des industriellen Systems; und folglich die »tertiäre Revolution« als der Abstieg und das Ende des Kapitalismus selbst, der ebensowenig wie die alte Agrargesellschaft für die Ewigkeit gemacht ist.
Darstellbar wäre eine solche These nur aus dem unterschiedlichen historischen Charakter der jeweiligen Tätigkeit in den verschiedenen Sektoren. Entscheidend für die kapitalistische Reproduktion ist dabei der Begriff der »produktiven Arbeit«; ein Attribut, das logisch sein Gegenteil impliziert, also »unproduktive Arbeit«. In der historischen Abgrenzung nach rückwärts, gegenüber subsistenzwirtschaftlichen bzw. feudalen Verhältnissen, ist vom kapitalistischen Standpunkt aus alle Arbeit »unproduktiv«, weil (noch) nicht der Kapitalverwertung dienend; strenggenommen handelt es sich dabei überhaupt nicht um »Arbeit«, da diese Abstraktion reproduktiver Tätigkeit überhaupt erst zusammen mit dem modernen warenproduzierenden System entstand.9 Innerhalb dieses Systems nun ist zwar alle Tätigkeit, die für Geld geleistet wird, bzw. in irgendeinem Kontext der Geldverwertung steht, formell gesehen abstrakte Arbeit. Damit aber ist noch nicht gesagt, daß sie dies auch in einem substantiellen Sinne ist. Nur »produktive« (d.h. kapitalproduktive) Arbeit, die tatsächlich Mehrwert schöpft, ist auch substantiell abstrakte Arbeit, deren Energieveraus- gabung real die kapitalistische Reproduktion trägt.10
Es scheint zunächst schwer vorstellbar, wie diese Unterscheidung analytisch klar durchgehalten werden soll, ohne in willkürliche Annahmen zu verfallen. Die Marxsche Theorie hält dafür kein Instrumentarium bereit, das zu eindeutigen Aussagen führen könnte; und dementsprechend unentschieden ist die (insgesamt spärliche) marxistische Debatte über »produktive und unproduktive Arbeit« geblieben.11 Es müssen also Kriterien benannt werden, nach denen die Differenzierung zwischen bloß formeller und substantieller Verausgabung menschlicher Arbeitskraft im warenproduzierenden System überhaupt möglich wird. Dabei ist zunächst zwischen produktiver/unproduktiver Arbeit in einem absoluten und in einem bloß relativen Sinne zu unterscheiden.
In absoluter Hinsicht unproduktiv ist eine Arbeit im warenproduzierenden System dann, wenn sie zwar gegen Geldlohn verrichtet wird und im Kontext der geldförmigen Reproduktion steht, aber entweder selber keine Waren produziert (d.h. nicht in die Warenproduktion als solche eingeht) oder die von ihr dargestellten Quasi-Produkte nur formellen, nicht aber substantiellen Warencharakter annehmen. Es wäre nun eine allzu krude Scheinlösung des Problems, den substantiellen Warencharakter an der »materiellen« Handfestigkeit des Produkts festmachen zu wollen, also etwa die Arbeit für die Produktion von Waschmaschinen oder Autos für »produktiv« zu erklären, die Arbeit des Friseurs, des Schalterbeamten oder des Polizisten hingegen deswegen als »unproduktiv« darzustellen, weil die »Produkte« Haarschnitt, Briefabfertigung oder »Sicherheit« nicht als materielle im engeren Sinne greifbar sind. Bestenfalls eine Ahnung des Problems kann bei einer solchen theoretischen Bestimmung aufscheinen, deren Hintergrund aber nur allzu deutlich noch der produktivistische Vulgärmaterialismus der alten (industriellen) Arbeiterbewegung mit ihrem falschen Stolz auf das industriekapitalistische Produkt ist.
Mit einer positivistischen Definition des unmittelbaren, isolierten Einzelfalls ist dem Problem überhaupt nicht beizukommen. Vielmehr ist der Charakter der »an sich« unproduktiven Arbeit nur aus dem Reproduktionsprozeß des Kapitals herzuleiten, in dem die abstrakte Arbeit verschiedene Umwandlungs- und Darstellungsformen durchläuft. Der unproduktive Charakter bestimmter Arbeiten braucht nicht äußerlich durch willkürliche Definitionen bestimmt werden; er muß vielmehr durch den Stellenwert als »Kostenfaktor« im Kalkül selbst nachweisbar auftauchen. Die kapitalistisch unproduktiven Arbeitsmengen und ihre Bezahlung erscheinen als »faux frais« (Marx), als tote Kosten. Dabei ist allerdings zu differenzieren zwischen der Ebene des Einzelkapitals und der Ebene des Gesamtkapitals. Einzelkapitalistisch (auf Betriebsebene) ist die unproduktive, aber notwendige Arbeit leicht nachzuweisen in Gestalt der »Gemeinkosten« etwa für Personalverwaltung, Lohnabrechnung, Putzfrauen usw. Diese Tätigkeiten sind zwar in einem technisch-organisatorischen Sinne unerläßlich für das allgemeine Funktionieren des Betriebs; sie gehen jedoch nicht in dessen eigentliche Warenproduktion (z.B. die Herstellung von Autos oder Klobürsten) substantiell ein, obwohl sie natürlich ebenso wie die Arbeit der eigentlichen betrieblichen Warenproduktion entlohnt werden müssen.
Im einzelkapitalistischen Sinne erscheint der unproduktive Charakter dieser Arbeiten jedoch nicht absolut (»an sich«), sondern insofern relativ, als die unproduktiven »Gemeinkosten« des einen Unternehmens als substantielle Dienstleistungs-Warenproduktion eines zweiten Unternehmens erscheinen können, das sich auf diese Leistung für andere Unternehmen spezialisiert hat; etwa eine Firma, die Putzkolonnen beschäftigt und dieses »Produkt Putzen« anderen Firmen anbietet. Betriebswirtschaftlich gesehen macht nun die Putzarbeit, die in einem Unternehmen der Automobilproduktion unproduktiv ist, umgekehrt die produktive Arbeit des Dienstleistungs-Unternehmens aus, geht also in dessen substantielle Warenproduktion ein, während die Arbeit der Angestellten in der Lohnabrechnung der Putzkolonnen-Firma wiederum zu deren unproduktiven »Gemeinkosten« gehört. Nun kann z.B. eine dritte Firma ihrerseits die Lohnabrechnung für jede Art von Unternehmen zu ihrer speziellen Dienstleistungs-Ware machen und diese anbieten, womit dann auch die Lohnabrechnung für diesen speziellen Dienstleister im betriebswirtschaftlichen Sinne zur produktiven Arbeit wird. So ist eine ganze Staffelung denkbar; und tatsächlich macht die Auslagerung von unter »Gemeinkosten« verbuchten Arbeiten an Dienstleistungs-Unternehmen einen der großen Trends zur Tertiarisierung aus: aufgrund ihrer Spezialisierung können die Dienstleister rationalisieren und daher so billig anbieten, daß sich die betriebsinterne Eigenorganisation dieser Arbeiten nicht mehr lohnt.12
Scheinbar verwandelt also die Tertiarisierung im bisher behandelten Sinne unproduktive in produktive Arbeit, rein durch die formelle Verselbständigung als eigene Unternehmen.13 Anders verhält es sich jedoch auf der Ebene des Gesamtkapitals, die freilich im Kalkül der sogenannten Wirtschaftssubjekte nicht unmittelbar in Erscheinung tritt, dennoch aber theoretisch und analytisch rekonstruiert werden kann. Zunächst wäre zu sagen, daß die unproduktiven »Gemeinkosten« auf der Ebene des Gesamtkapitals wiedererscheinen, also die einzelbetrieblichen Auslagerungen und Umgruppierungen innerhalb der Gesamt-Reproduktion sich sozusagen wieder »herausrechnen«. Die unproduktiven »Gemeinkosten« können zwar durch die Auslagerung auf selbständige Unternehmen aus den genannten Gründen gesenkt werden; sie bleiben jedoch gesamtgesellschaftlich ein Abzug vom Gesamt-Mehrwert und können diesem nicht etwa hinzuaddiert werden. Die Darstellung von »Kosten« (des mehrwertschöpfenden Unternehmens) als »Gewinne« (des dienstleistenden Unternehmens) verschwindet auf der Ebene des Gesamtkapitals wieder. Marx hat dies exemplarisch an den Kosten der rein kommerziellen Transaktionen (Kauf/Verkauf, Geldverkehr etc.) gezeigt: ein großer Teil der Arbeiten im Einzelhandel und die gesamte Arbeit im Banken-, Kredit- und Versicherungssystem etc. ebenso wie im juristischen »Überbau« ist »an sich« unproduktiv, weil sie Ware-Geld-Beziehungen bloß »vermittelt«, ohne substantiell Warenproduktion zu sein. Die in diesen Sektoren beschäftigten Lohnarbeiter erwirtschaften zwar einen betriebswirtschaftlichen Gewinn; tatsächlich vermittelt ihre Tätigkeit jedoch nur die Umverteilung des allein in den produktiven Sektoren geschöpften Mehrwerts innerhalb der Einzelkapitalien: das kommerzielle Kapital eignet sich durch diese unproduktive Vermittlungsarbeit einen Teil des Gesamtmehrwerts an (vgl. dazu ausführlich Kapital Bd. 2 und 3).
Was aber ist nun das entscheidende ökonomische Kriterium, das es erlaubt, auf der Ebene des Gesamtkapitals (d.h. bereinigt um die einzelkapitalistische Verzerrung) den Charakter der produktiven/unproduktiven Arbeit begrifflich zu bestimmen? Die Differenzierung zwischen »eigentlicher« Wertschöpfung und »bloß vermittelnder« Tätigkeit (im kommerziellen, monetären oder juristischen Sinne) reicht dafür nicht aus, weil sie immer noch an der unmittelbaren Definition der einzelnen Arbeitsverausgabung klebt. Diese Bestimmung kann also nur den äußeren Grund dafür angeben, warum eine Tätigkeit unter die unproduktive Arbeit zu rechnen ist, nicht jedoch deren ökonomischen Begriff selbst. Ein auf den Vermittlungsprozeß der gesamtkapitalistischen Reproduktion bezogener Begriff der produktiven/unproduktiven Arbeit kann letztlich nur kreislauftheoretisch gewonnen werden. Damit ist folgendes gemeint: kreislauftheoretisch ist nur diejenige Arbeit kapitalproduktiv, deren Produkte (und damit ihre Reproduktionskosten) in den Akkumulationsprozeß des Kapitals zurückkehren, d.h. deren Konsumtion wieder in die erweiterte Reproduktion eingespeist wird. Nur diese Konsumtion ist nicht bloß unmittelbar, sondern auch reproduktiv vermittelt eine »produktive Konsumtion«.14 Das ist zum einen dann der Fall, wenn Produkte der Konsumgüterindustrie von ihrerseits kapitalproduktiven Arbeitern verzehrt werden, deren Konsum nicht etwa verfällt, sondern in Form des »Feuers« kapitalproduktiver Energie wieder in einen neuen Produktionszyklus des Mehrwerts zurückkehrt. Alle Konsumgüter hingegen, die von unproduktiven Arbeitern oder Nicht-Arbeitern (Kindern, Rentnern, Kranken usw.) verzehrt werden und deren Verbrauch also nicht wieder in Form erneuerter Energie in die Mehrwertschöpfung zurückkehrt, ist auch gesamtgesellschaftlich nichts als Konsum, der spurlos verschwindet und nicht die kapitalistische Reproduktion trägt. Dasselbe gilt dann für die Produktion der Investitionsgüter: auch diese Arbeit ist nur dann kreislauftheoretisch produktiv, wenn der Konsum ihrer Produkte seinerseits wieder im Kontext der Mehrwertschöpfung stattfindet, also in den Produktionszyklus des Mehrwerts zurückkehrt. Alle Investitionsgüter hingegen, deren Verbrauch außerhalb der Mehrwertproduktion stattfindet, gehören wiederum gesamtgesellschaftlich dem reinen Konsum an, der nicht mehr kapitalproduktiv wiedererscheint, sondern aus der Reproduktion des Gesamtkapitals und dessen Akkumulationsbewegung »herausfällt«.
Dieser kreislauftheoretische Begriff von produktiver/unproduktiver Arbeit mag dem positivistisch verseuchten definitorischen Denken ungewöhnlich erscheinen; er erlaubt es aber, das Problem jenseits einer kruden »Materialität« der produzierten Ware aufzulösen. Aus dieser Sicht wäre also die Arbeit des Verwaltungsbeamten oder des Polizisten grundsätzlich unproduktiv, weil die Konsumtion ihrer »Produkte« (egal ob staatlich oder kommerziell organisiert) von vornherein in keinster Weise in die »produktive Konsumtion« eingeht. Unproduktiv ist aber auch die Produktion des »Leopard« bei Krauss-Maffei, obwohl es sich dabei um eine mehr als handfeste Ware handelt; denn die Konsumtion von Panzern (die dafür verausgabte Energie von »Nerv, Muskel, Hirn«) kann beim besten Willen nicht im Zyklus der Mehrwertschöpfung wiedererscheinen, sondern »fällt heraus«. Unproduktiv ist dann auch der Straßenbau, weil der Konsum der Straßen nicht seinerseits »produktive Konsumtion« der Mehrwertschöpfung ist, sondern in der Regel ebenfalls »herausfällt«. Produktiv wäre die Arbeit des Friseurs, soweit er produktiven Arbeitern die Haare schneidet (was zu den Erneuerungskosten ihrer kapitalproduktiven Energie gehört); unproduktiv hingegen dieselbe Dienstleistung, wenn sie an unproduktiven Arbeitern vollzogen wird. Aber auch die Produktion von Autos, Kühlschränken und Waschmaschinen ist in all den Fällen unproduktiv, in denen diese Produkte von unproduktiven Arbeitern konsumiert werden und somit die dafür verausgabte Energie aus dem Reproduktionsprozeß des Gesamtkapitals wiederum rein konsumtiv »herausfällt«.
Mit anderen Worten: Kapitalismus ist substantiell nur möglich, wenn ein hinreichend großer (und zusammen mit der Kapitalakkumulation wachsender) Teil der »Beschäftigung« im Kontext der Ware-Geld-Beziehungen eine in sich vermittelte und verzahnte Identität von »produktiver Konsumtion« herstellen kann, in der Produktion und Konsumtion des »Werts« so ineinandergreifen, daß Fetisch-Form und Fetisch-Substanz in genügendem Umfang übereinstimmen. Rosa Luxemburg ist übrigens an diese Fragestellung herangekommen, konnte diese jedoch nicht entwickeln, weil sie ihre Argumentation auf die Oberflächenebene der (zirkulativen) »Realisation« des Mehrwerts beschränkte, statt den Sachverhalt vom inneren Reproduktionszyklus des Kapitals selbst (der auf der Marktebene nur indirekt »erscheint«) und damit von den Kategorien der produktiven/unproduktiven Arbeit her aufzurollen. Immerhin verweist ihre These einer zunehmenden Abhängigkeit der Kapitalakkumulation vom Geldeinkommen »dritter Personen« (d.h. von außerhalb der eigentlichen produktiven Reproduktion des Kapitals) auf das Problem. Freilich sah Rosa Luxemburg zeitbedingt diese »dritten Personen« noch eher im Kontext einer vor- bzw. nichtkapitalistischen Warenproduktion (Bauern, Handwerker, Kolonien), deren Kaufkraft den (wegen der strukturbedingten industrieproletarischen »Unterkonsumtion«) zu eng werdenden kapitalistischen Markt speisen müsse. Der Kapitalismus erscheint so rein auf der Ebene der Marktrealisation als von nichtkapitalistischen Sektoren der Produktion bzw. von nichtkapitalistischen Gebieten der Erde abhängig; seine absolute Schranke müsse er demzufolge in demselben Maße erreichen, wie er selber diese Sektoren und Gebiete aufsaugt und sich anverwandelt. Zwar erwähnt Rosa Luxemburg nebenbei unter den »dritten Personen« auch die Staatsbeamten; sie kommt jedoch noch nicht auf die Idee, daß die strukturelle Schranke des Kapitals gerade umgekehrt zu ihrer Argumentation darin bestehen könnte, daß es aus seiner eigenen Dynamik heraus eine wachsende Anzahl von unproduktiven Sektoren und »dritten Personen« erzeugt, deren Einkommen und Konsum jedoch eben deswegen zur wachsenden und schließlich untragbaren Kostenbelastung der Kapitalreproduktion wird.15
Tatsächlich stellt sich das von Rosa Luxemburg erkannte, jedoch sozusagen verkehrt herum aufgerollte Problem genau in dieser Form dar: der Anteil der nicht mehr in den Kreislauf der erweiterten Reproduktion des Kapitals zurückkehrenden Verausgabung von Arbeitskraft wächst strukturell so stark an, daß die Schmerzgrenze schließlich historisch überschritten wird. Ironisch könnte man sagen, daß die »Geschäftskosten« oder »Gemeinkosten« der famosen Marktwirtschaft derart überproportional ansteigen, daß sie schließlich als solche nach ihren eigenen Kriterien unrentabel wird. Die Gründe dafür, warum die meisten der strukturell anwachsenden tertiären Arbeiten nicht in die Mehrwertproduktion als »produktive Konsumtion« zurückkehren können, mögen verschieden sein; teilweise liegen sie in der Natur oder Art dieser Arbeiten selber, teilweise handelt es sich um äußere Schranken.
Ist es etwa bei den rein kommerziellen, juristischen und monetären Transaktionsarbeiten ihr von Marx genannter reiner Vermittlungscharakter, der es ihnen (obwohl ihre »Produkte« auf dem Markt erscheinen) verbietet, in die substantielle Mehrwertproduktion einzugehen bzw. zurückzukehren, so können andere »Produkte« von vornherein nicht einmal Warenform annehmen, weil ihr Konsum nicht privatisierbar ist (z.B. notwendige Maßnahmen zur Luftreinhaltung); dennoch müssen natürlich in einer totalen Geldwirtschaft auch diese Arbeiten bezahlt werden und auf dem Arbeitsmarkt erscheinen. Bei anderen Produkten (Straßen, Kanalisation, Schulen, Krankenhäuser usw.) ist zwar eine Privatisierung des Konsums (jeweils mehr oder weniger mühsam) im Prinzip möglich; dann müßte dieser Konsum jedoch für eine zahlungsfähige Minderheit isoliert werden, was dem seiner Natur nach flächendeckenden Charakter einer gesellschaftlichen Infrastruktur widersprechen würde. Der Betrieb des größten Teils der Infrastruktur ist daher nicht als betriebswirtschaftliche Produktion für den Markt möglich (dann müßten die Masseneinkommen 150 oder 200 oder 300 Prozent des marktwirtschaftlich erzielbaren Einkommens betragen). Wieder anders verhält es sich bei kommerziellen Sektoren wie dem Tourismus; hier mag es strittig sein, ob es sich um einen unproduktiven Luxuskonsum der wenigen reichen Länder handelt, der nur über deren besondere Potenz in der Aneignung und Umverteilung von Welt-Mehrwert vermittelt ist (immerhin machen drei Viertel der Menschheit keinen Tourismus), oder ob dieser Konsum teilweise (d.h. soweit er von produktiven Arbeitern genossen wird) in produktive Reproduktionskosten eingeht und damit in die Mehrwertproduktion zurückkehrt.16
Das hier aufscheinende Problem ist freilich wesentlich komplizierter, als es in den diversen »Gerechtigkeits«-Diskursen den Anschein hat, die oft unterstellen, daß den armen Ländern ein Teil »ihrer« Wertschöpfung womöglich qua politische Pression etc. weggenommen wird. In Wirklichkeit ist es gerade die »Gleichheit« des Wertmaßstabs, die dazu führt, daß die kapitalschwachen Länder relativ weniger Wertmasse als die kapitalstarken Länder aneignen können. Das Bezugssystem sind nicht getrennte »nationale« Wertschöpfungsprozesse, sondern die Wertschöpfung des globalen Gesamtkapitals, deren Maßstab der auf dem Weltmarkt gültige Produktivitätsstandard ist. Wie ein betriebswirtschaftliches Einzelkapital auf dem Markt nicht etwa einen »individuellen« Wert nach Maßgabe seiner tatsächlich aufgewendeten Arbeitszeit vergütet bekommt, sondern über den erzielbaren Marktpreis nur einen Teil der gesamtgesellschaftlichen Wertschöpfung nach Maßgabe des gesellschaftlich gültigen Produktivitätsstandards, ebensowenig kann eine Nationalökonomie auf dem Weltmarkt eine ihrem nationalen Arbeitsaufwand entsprechende Wertmasse hereinholen, sondern immer nur jenen Anteil der globalen Wertproduktion, der ihrer Produktivität entspricht; und diese ist bei kapitalschwachen Ländern eben relativ geringer. Sowohl im Verhältnis von Einzelkapital und Gesamtkapital als auch im Verhältnis von Nationalökonomie und Weltmarkt besteht die Paradoxie gerade darin, daß diejenigen Unternehmen/Länder, die aufgrund ihrer relativ höheren Produktivität am wenigsten Wert (d.h. fiktional »geronnene Arbeit«) erzeugen, weil sie mit weniger Arbeit pro Produkt bzw. pro Kapitaleinsatz auskommen, sich in der Konkurrenz auf dem Markt das größte Stück vom gesamt- bzw. weltkapitalistisch erzeugten realen (gültigen) Wert aneignen können. Daß dieser Prozeß der Konkurrenz in seinem Endstadium einer unmittelbaren Globalisierung des Kapitals die Wert- und Mehrwertproduktion als solche ad absurdum führt, steht auf einem anderen Blatt (dazu ausführlicher weiter unten).
Wie auch immer: die Tourismus-»Industrie«, jedenfalls der Massentourismus, stellt im Kontext globaler Mehrwert-Aneignung sicherlich mindestens eine Grauzone in der Aggregierung von produktiver und unproduktiver Arbeit dar. Auch wenn es sicherlich noch weitere Grenzfälle, Grauzonen und »gemischte« Formen der Tätigkeit gibt, so steht doch fest, daß sich insgesamt historisch der Anteil der kapitalistisch unproduktiven Arbeiten, die (vom Standpunkt der Mehrwertproduktion aus) nichts als gesellschaftlichen Konsum und somit »Gemeinkosten« darstellen, unaufhaltsam erhöht. Die Ursachen sind letztlich der konkurrenzvermittelte Prozeß der Verwissenschaftlichung einerseits und die wachsenden »Reparaturkosten« an Mensch und Natur durch die »Systemschäden« andererseits. Durch betriebswirtschaftliche Auslagerung und damit verbundene Rationalisierung von betrieblichen »Gemeinkosten« kann zwar eine Kostensenkung der unproduktiven Arbeit erzielt werden; diese wird jedoch bei weitem überkompensiert durch die totale strukturelle Expansion dieser »sachlich« notwendigen, jedoch substantiell nicht mehrwertproduzierenden Sektoren. Die kommerziellen, monetären und juristischen Transaktionskosten, die sekundären Kosten des unproduktiven Luxuskonsums, die Verwaltungskosten, die gesamtgesellschaftlichen Voraus- und (sozial-ökologischen) Folgekosten sowie die Kosten für die allgemeinen Rahmenbedingungen und für die Logistik der eigentlichen Mehrwertproduktion beginnen diese so stark zu überwuchern, daß sie daran zu ersticken beginnt.

 

4. Tertiarisierung, zinstragendes Kapital und Staatskredit

Um dieses Ersticken hinauszuzögern, muß wiederum der Kredit einspringen, d.h. das zinstragende Kapital, dessen Anteil an der kapitalistischen Reproduktion damit noch einmal sprunghaft ansteigt. Denn zu den säkular ansteigenden Kreditkosten der industriellen Mehrwertproduktion selbst, die dem wachsenden Anteil des Sachkapitals geschuldet sind, treten nun die ebenso säkular ansteigenden Kreditkosten der allgemeinen Geschäfts- und Rahmenbedingungen des totalen Marktsystems auf den genannten Ebenen. Damit verschärft sich jedoch das Problem um ein Vielfaches; denn werden die steigenden Kreditgelder im ersten Falle wenigstens noch für die tatsächliche Mehrwertproduktion verwendet (auch wenn allmählich ein Mißverhältnis von Kreditkosten und nachfolgendem Mehrwert zu entstehen droht), so muß der Kredit im zweiten Falle rein für kapitalistisch unproduktiven Konsum verpulvert werden. Soweit es sich dabei um kommerzielle unproduktive Sektoren handelt, drücken diese indirekt auf die gesamtgesellschaftliche Profitrate; soweit es sich um staatlich vermittelte Sektoren der Infrastruktur, der sozialökologischen Folgekosten usw. handelt, entsteht ein direkter Abgabendruck auf die Löhne und Gewinne bzw. der Staat muß eben selber zum Mittel des Kredits greifen, weil seine reellen Einnahmen nicht mehr ausreichen.17 Insofern finden wir dann den wachsenden Anteil der unproduktiven Arbeit in verwandelter Form auch wieder im Kalkül der Wirtschaftssubjekte, und zwar als wachsenden Kostendruck (des staatlich vermittelten, z.B. auch als »Lohnnebenkosten« erscheinenden Teils der gesellschaftlichen »Gemeinkosten«), der bekanntlich nicht nur nach dem unternehmerischen Motto »lerne klagen ohne zu leiden« bejammert wird, sondern auch tatsächlich zum Krisenproblem der gesellschaftlichen Reproduktion geworden ist.
Gleichzeitig entsteht jedoch ein weiteres, theoretisch kaum beachtetes Phänomen. Denn in demselben Maße, wie der Anteil der unproduktiven Sektoren an der gesamtgesellschaftlichen Reproduktion wächst, verwandelt sich auch ein zunehmender Teil der industriellen Produktion selbst in eine strukturell unproduktive. Dieser Sachverhalt geht, wie gezeigt, erst aus einer kreislauftheoretischen Betrachtung hervor. Die unaufhaltsam wachsende, zunehmend nur noch aus dem immer weiter gestreckten Kreditgeld bezahlte Masse der unproduktiven Arbeiter muß natürlich essen, trinken und wohnen, fährt Auto, konsumiert Fernseher, Kühlschränke usw. Da dieser Konsum jedoch in ihrem Fall kein produktiver ist und also nicht in die Mehrwertproduktion zurückkehrt, bedeutet das nichts anderes, als daß indirekt ein wachsender Teil der industriellen Produktion paradoxerweise nur noch am Tropf der kreditfinanzierten unproduktiven Sektoren hängt.
Die paradoxe Doppelbödigkeit besteht darin, daß einerseits grundsätzlich die unproduktiven Sektoren (über welche Vermittlungen auch immer) in letzter Instanz aus der realen Mehrwertproduktion gespeist werden müssen, andererseits jedoch die industrielle Produktion als zentraler Träger der Mehrwertschöpfung aufgrund des zunehmenden Konsums der unproduktiven Arbeiter selber immer weniger (oder nur noch scheinbar) reale Mehrwertproduktion ist und ihrerseits von den unproduktiven Einkommen genährt wird. Die wirkliche Basis ist also bereits viel kleiner, als es den Anschein hat. Denn die entscheidende Differenzierung von produktiver und unproduktiver Arbeit ist nicht deckungsgleich mit den absoluten Größenverhältnissen von nomineller Industrieproduktion und »tertiärem Sektor«, sondern verläuft (kreislauftheoretisch betrachtet) quer dazu. In Wahrheit ist die basale industrielle Produktion nicht nur in erster Potenz, d.h. hinsichtlich der Finanzierung ihres eigenen Sachkapitals, vom Kredit abhängig, sondern auch in zweiter Potenz, nämlich von kreditfinanzierten Konsumgütermärkten.18 Daß dabei der lawinenartig gestiegene Staatskonsum bzw. Staatskredit eine Hauptrolle spielt, hat natürlich auch etwas damit zu tun, daß der Staat (im Gegensatz zum privaten Kreditnehmer) als »infallibler Schuldner« gilt, was aber wiederum nur heißt, daß er im Falle einer großen Geld- und Kreditkrise nicht selbst bankrottieren kann, sondern stattdessen seine Bürger-Gläubiger schlicht enteignet.19

 

5. Globalisierung und Phantom-Industrien

Bisher wurde nur der Begriff der absolut (»an sich«) unproduktiven Arbeit auf der Ebene des Gesamtkapitals dargestellt, wie er in seiner Vielschichtigkeit kreislauftheoretisch erschlossen werden kann. Ebenso wächst jedoch auch historisch der Anteil der bloß in einem relativen Sinne unproduktiven Arbeit innerhalb des Industriesystems an. In relativer Hinsicht unproduktiv ist eine warenproduzierende Tätigkeit ungeachtet ihres sonstigen Charakters bekanntlich dann, wenn ihre Produktivität (das Verhältnis von Arbeitsaufwand und Produktionsergebnis) unter den gegebenen gesellschaftlichen Standard (die gesellschaftliche Durchschnittsproduktivität) fällt. Dabei kommt es natürlich auf den Bezugsraum dieses Standards an, d.h. ob dieser Raum die Region, die Nationalökonomie oder der Weltmarkt ist. Eine regional beschränkte Warenproduktion ist meistens noch nicht völlig nach betriebswirtschaftlicher Rationalität durchorganisiert und steht nur indirekt mit der Verwertung des Kapitals in Beziehung (sogenannte kleine Warenproduktion, Handwerk, Reparaturbetriebe etc.). Der Druck eines ständig höher geschraubten gesellschaftlichen Standards ist auf dieser Ebene noch nicht oder nur in geringem Maße wirksam. Erst auf der Ebene der historisch herausgebildeten kohärenten Nationalökonomien entsteht zusammen mit der »Durchschnittsprofitrate« auch eine gesellschaftliche Durchschnittsproduktivität in den einzelnen Sektoren, die zum Diktat für die Unternehmen wird.
Wieder anders dagegen verhält es sich auf dem Weltmarkt. Hier bildet sich kein weltgesellschaftlicher Durchschnitt aus, sondern es setzt sich das Produktivitätsniveau der höchstentwickelten Länder durch. Der Grund dafür ist einfach der, daß sich ein gesellschaftlicher Durchschnitt nur im Kontext historischer Gleichzeitigkeit entwickeln kann, d.h. im Rahmen historisch gewachsener Nationalökonomien, deren Produktionssektoren auch auf einem gemeinsamen Niveau entstanden sind und deshalb im fortlaufenden Prozeß der Verwissenschaftlichung, der steigenden Kapitalintensität etc. überhaupt einen gemeinsamen Maßstab der Produktivität bilden konnten. Das ist jedoch nicht der Fall, wenn historisch ungleichzeitig entwickelte Industriesysteme ungefiltert aufeinandertreffen. Dann bildet sich nicht etwa ein neues Durchschnittsniveau, das den Standard der höherentwickelten (weil früher in die Industrialisierung/Kapitalisierung »eingestiegenen«) Nationalökonomien rapide absenken würde, wie es etwa Paul Mattick fälschlicherweise annahm, sondern die historisch ungleichzeitige niedrigproduktive Produktion wird niedergewalzt und liquidiert.20
Es ist wiederum der Staat, der hier ebenso wie hinsichtlich eines Großteils der inneren »Gemeinkosten« des warenproduzierenden Systems auch gegenüber dem äußeren Konkurrenzdruck einspringen muß. Das einfachste Mittel, die Ungleichheit bzw. Ungleichzeitigkeit der Produktivitätsniveaus zu filtern, ist ein rein administratives, nämlich das Errichten von Zollschranken. Dieses Mittel wirkt jedoch nur bei einer relativ geringen Weltmarkt-Integration (was gleichbedeutend wäre mit einer Abkoppelung von allen Welt-Errungenschaften und einem umso rascheren Zurückfallen in der Produktivität). Sobald die Vermittlung mit dem Weltmarkt unvermeidlich ein größeres Ausmaß angenommen hat, stellt sich sehr schnell heraus, daß die Einmauerung durch Zölle alles andere als kostenneutral ist; denn alles, was notgedrungen importiert wird, muß zu Weltmarktpreisen gekauft werden, und dafür muß man erst einmal die Devisen durch eigene Exporte verdienen. Die eigene unterproduktive Industrie kann nun zwar durch Zollmauern gegen ausländische Billigkonkurrenz geschützt werden; soweit ihre Produkte jedoch ihrerseits zwecks Devisen-Erwirtschaftung exportiert werden müssen, können sie ebenfalls nur zu Weltmarktpreisen verkauft werden, d.h. gemäß dem Produktivitätsstandard der höchstentwickelten, den Weltmarkt dominierenden Länder. Dann aber tut sich rasch eine Schere bei den »terms of trade« auf, d.h. immer größere eigene Arbeitsmengen müssen gegen immer kleinere fremde Arbeitsmengen getauscht werden.21 Dieser Sachverhalt ist es auch, der die kurzschlüssige Illusion vom »gerechten/ungerechten Tausch« hervorgerufen hat.
Erschwert wird die Situation dadurch, daß hohe Zölle im Gegenzug ebenso hohe Zölle für die eigenen Waren beim Export in andere Länder hervorrufen, womit sich das Devisenproblem weiter verschärft. Letztlich bleibt dem Staat nichts anderes übrig, als die eigenen Industrien zu subventionieren, sowohl um sie auch bei gesenkten Zöllen auf dem Binnenmarkt zu erhalten, als auch um sie auf den Exportmärkten künstlich konkurrenzfähig zu machen (Exportsubventionen). Diese Subventionen nun sind erst recht ein monströser Kreditfresser, und zwar umso mehr, je größere Teile der jeweiligen Industrie hinter dem hochgeschraubten (an den Spitzenreitern orientierten) globalen Produktivitätsstandard herhinken. Bei einzelnen Industrien (Kohlebergbau, Stahl, Schiffbau, Textil- und Schuhindustrie, Möbel etc.) gilt dies inzwischen auch für die hochentwickelten Weltmarktführer selbst.
Im Zuge der vielbeschworenen Globalisierung der Finanz- und Warenmärkte, der internationalen Zerlegung von Produktionsprozessen und der globalen Konkurrenz um »Standorte« beginnt sich heute sogar die nationalökonomische Kohärenz überhaupt zu zersetzen. Im Grunde genommen könnten wenige über den Globus nach Maßgabe der Kostengünstigkeit (monetaristischer »Angebotsfaktor«) verstreute hochproduktive Produktionszentren die gesamte Welt mit Waren überschwemmen und die Mehrzahl der vorhandenen Industrien niederwalzen. Das Ergebnis wäre natürlich der Zusammenbruch der ohnehin prekären globalen Kaufkraft; das warenproduzierende System hätte sich damit nicht nur strukturell und binnenökonomisch, sondern auch auf der Ebene der Weltmarktvermittlung selber ad absurdum geführt. Also muß der Staatskredit noch einmal unabsehbar gedehnt werden, die Subventionskosten übersteigen alle bisherigen Grenzen. Für viele Länder macht dieser Faktor sogar bereits den Hauptposten des gesamten Kredits aus. Die Alternative wäre der offene Zusammenbruch der jeweiligen Nationalökonomie und der Rückzug der kapitalistischen Reproduktion auf eine extreme Minderheitsposition, d.h. auf wenige »Produktivitätsinseln« für den Weltmarkt, den es bei einer Verallgemeinerung dieses Zustands nicht mehr gäbe. Tatsächlich verhält es sich momentan so, daß die Kreditkosten für die Subventionierung im Weltmaßstab trotz gegenteiliger ideologischer Bekenntnisse notgedrungen weiter ansteigen. Nicht ein schrumpfender, sondern ein wachsender Anteil des globalen Industriesystems hängt bereits unmittelbar (also nicht bloß vermittelt über den Konsum der wachsenden unproduktiven Sektoren) am Tropf der kreditären Simulation; vom Standpunkt der Systemlogik aus handelt es sich um bloße Phantomindustrien, die künstlich erzeugt und am Leben gehalten werden.22 Hier haben wir es also nach den steigenden Kreditkosten für die eigentliche Mehrwertproduktion und dem wachsenden Anteil der kreditfinanzierten strukturell unproduktiven Arbeit bereits mit der dritten Potenz der gesamtgesellschaftlichen Kreditabhängigkeit zu tun.

 

6. Entsubstantialisierung des Geldes und strukturelle Inflation

Nimmt man die drei Potenzen der strukturellen Kreditabhängigkeit zusammen, dann ist es klar, daß die unaufhaltsam wachsende Entfernung des Kreditgeldes von der abstrakten Arbeits-Substanz des Systems logisch zum Kollaps führen muß. Faktisch hieß dies zunächst für eine jahrzehntelange Inkubationszeit, daß die Kreditketten immer weiter gespannt werden und immer tiefer in die Zukunft vorgreifen mußten. Dabei wuchsen nicht nur die Finanzinstitutionen im säkularen Maßstab an,23 sondern vor allem der Staatskredit explodierte geradezu. Historisch markiert wurde die neue Entwicklungsstufe des Kapitalismus, die seinen Höhepunkt wie seine absolute Schranke ankündigen sollte, bereits durch den Ersten Weltkrieg. Insofern witterten so unterschiedliche Theoretiker des Arbeiterbewegungs-Marxismus wie Lenin und Rosa Luxemburg (letztere wie gezeigt sogar an das Problem herankommend und auf weit höherem Reflexionsniveau als der »Politizist« Lenin) durchaus etwas Richtiges, wenn sie vom »letzten und höchsten Stadium« (Lenin) und sogar vom »Zusammenbruch« (Luxemburg) sprachen; nur daß dieses »Stadium« sich eben selber erst bis zum Ende des Jahrhunderts ausentwickeln mußte und die tatsächliche historische Grenze mit den damaligen Begriffen nicht mehr adäquat erfaßt werden kann, weil damit auch der theoretische Horizont der Arbeiterbewegung als solcher überschritten wird.
Vor dem Ersten Weltkrieg war der Kapitalismus nur ein (wenn auch stetig wachsendes) Segment der gesellschaftlichen Reproduktion gewesen, das sich noch nicht durch sämtliche Produktionssektoren hindurchgefressen hatte; der Staat hatte noch keine tragende Funktion des Reproduktionsprozesses übernommen und bezog seine Einnahmen noch hauptsächlich durch Steuern (ein einigermaßen ausgeglichener Haushalt galt als Grundbedingung seriöser Staatsführung); und das Geld im eigentlichen Sinne war das Edelmetall (vor allem Gold), d.h. die umlaufenden Banknoten waren jederzeit goldkonvertibel. Diese drei Momente lösten sich allesamt durch den Weltkrieg auf, der sich ebenso wie der schon zwei Dekaden später folgende zweite globale Waffengang als gewaltiger Durchlauferhitzer der kapitalistischen Entwicklung erweisen sollte. Die industrialisierte Kriegführung stieß nicht nur das Tor für den folgenden Durchbruch der fordistischen Industrien und eine flächendeckende Durchkapitalisierung der Gesellschaft weit auf, sondern sie zwang auch den Staat endgültig in jene (natürlich schon lange vorbereitete) Rolle als Träger der Logistik und der allgemeinen Geschäftskosten dieses Prozesses hinein.
Den Zeitgenossen war dies keineswegs klar; sie sahen großenteils zunächst nur eine Unterbrechung der vermeintlichen Normalität durch den Krieg. Aber rasch wurde deutlich, daß es kein Zurück mehr in die Strukturen der Zeit vor 1914 geben konnte. Die »Finanzkrise des Steuerstaats« wurde zum großen Thema, das im Abstand von einem halben Jahrhundert mehrfach zu heftigen Diskussionen Anlaß gab (Rudolf Goldscheid und Joseph Schumpeter 1917/18, James O'Connor 1973, Klaus-Martin Groth 1978 u.a.). Von 1914/15 bis heute, also im Verlauf von 80 Jahren, wurden alle Grundlagen von Staatsökonomie, Geldtheorie, Wirtschafts- und Finanzpolitik umgestoßen. Der Staatskredit ist in diesem gesamten Zeitraum fast ununterbrochen gewachsen, und die Theorie verhielt sich eigentlich nur reaktiv zu diesem erstaunlichen Prozeß; zuerst erschreckt, dann immer dreister und gleichzeitig vergeßlicher. Wurde die gefährliche Expansion der Staatsfinanzen über alle reellen Einnahmen hinaus am Ende des Ersten Weltkriegs noch als zu überwindendes Krisenphänomen betrachtet, so sollten schon bald Keynes und der Keynesianismus eine Legitimation dafür liefern, die neuen Phänomene auch als neue Normalität zu betrachten, die (wie Schumpeter schon frühzeitig bemerkt hatte) keineswegs akut in den Zusammenbruch führen müsse. Daraus zog man allmählich den Schluß, daß es den über das aufgeblähte Kreditsystem vermittelten strukturellen Zusammenbruch überhaupt nie geben werde.
Fast dieselben Ängste und fast dieselbe Entwarnung wiederholten sich in den 70er Jahren, als die Verschuldungsgrenzen nicht nur des Weltmachtkonsums der USA, sondern des Steuerstaats überhaupt wieder ins Blickfeld rückten (in Deutschland wurde die damalige Krisenkulmination durch das turbulente Ende der sozialliberalen Koalition markiert). Als auch diesmal der »big bang« ausblieb, lehnte man sich abermals zurück und wurde noch viel ungenierter als jemals zuvor seit dem Beginn der strukturellen Disproportionalität von (kapitalproduktiver) Arbeit und Geld. Je weiter das Kreditsystem abhob, desto mehr wurden aus früheren Schreckensmeldungen und Krisenproblemen harmlose, im Prinzip leicht zu bewältigende »Nebenwidersprüche« gemacht.24 Als äußerst durchsichtiges und historisch unreflektiertes Argument erscheint in diesem Zusammenhang immer wieder die Behauptung, das Problem sei überhaupt nicht neu; schon in allen Jahrhunderten seit der Renaissance und selbst im berühmten alten Rom habe es hohe Staatsverschuldung ohne Zusammenbruchskonsequenzen gegeben.
Wer so argumentiert, weiß gar nicht, wovon er redet. Sowohl absolut als auch relativ lassen sich die früheren Beispiele überhaupt nicht mit der Entwicklung seit dem Ersten Weltkrieg vergleichen. Die Überschuldung von Staaten bzw. Herrscherhäusern war keine strukturelle im Sinne des 20. Jahrhunderts; sie war entweder an die (temporäre) Finanzierung von Kriegen gebunden oder (soweit länger andauernd) an die Kosten einer allzu üppigen Hofhaltung etc.; niemals aber hatte sie die gesellschaftliche Reproduktion als solche erfaßt und in zunehmendem Maße getragen. Das »Gesetz der wachsenden Staatsquote« (am gesamten Sozialprodukt), das der deutsche Ökonom und »Kathedersozialist« Adolph Wagner schon 1863 aufgestellt hatte und das durch die reale Entwicklung voll bestätigt worden ist, verweist auf die neue Qualität der Staatsverschuldung unter den Bedingungen der vollkapitalistischen, verwissenschaftlichten Reproduktion.25 Damit aber hat sich eine völlig neue, nie dagewesene Situation herausgebildet: das Problem der Staatsfinanzen und damit des »fiktiven Kapitals« in Form des Staatskredits betrifft nicht mehr bloß den Staatsapparat als solchen, sondern in Wirklichkeit ist davon das warenförmig organisierte Leben der Gesellschaft selber abhängig geworden.
Daß die Geschäftskosten und Rahmenbedingungen des Wertschöpfungsprozesses auf hohem Niveau der Verwissenschaftlichung und Kapitalintensität die Wertschöpfung selber überwuchern, drückt sich in einer paradoxen Verkehrung des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft aus: nicht die Gesellschaft nährt mehr den Staat, damit dieser ihre »allgemeinen Angelegenheiten« besorge, sondern umgekehrt muß zunehmend der Staat durch »fiktives Kapital« die Gesellschaft nähren, damit sie in ihrer obsolet gewordenen Form als warenproduzierendes System verharren kann. Das vampirartige Ansaugen der Zukunft, die Verpfändung und »Kapitalisierung« von immer mehr zukünftiger Arbeitsmasse, erfaßt nun also sowohl die Reproduktion des Kapitals als auch die Reproduktion des Staates; und beide Formen der Kreditabhängigkeit verzahnen sich miteinander. Damit aber tritt auch die Geldnachfrage des Staatskredits in Konkurrenz zur Geldnachfrage des Unternehmenskredits und des Privatkredits, wodurch erst endgültig das Zinsniveau zyklusunabhängig nach oben gedrückt wird. Auf diese Weise gleiten dem Staat die soeben erst ergriffenen Zügel der Wirtschafts- und Finanzpolitik wieder aus der Hand, weil seine eigene unersättlich gewordene Nachfrage auf den Kreditmärkten keine konsequente Zinssenkungspolitik mehr erlaubt.26
Der hemmungslose Kreditbedarf konnte natürlich auch das Geld nicht in seiner bis dahin gültigen Form belassen. Die Goldkonvertibilität und damit die reale Wertsubstanz der Währungssysteme mußte fallen. Hatten schon die ersten Monate des Weltkriegs 1914/15 gezeigt, daß eine industrialisierte Kriegführung mit Geld auf Goldbasis nicht mehr zu finanzieren ist, so zeigte die seitherige Entwicklung, daß die durch den Weltkrieg entfesselte fordistische Mobilisierung und Vollkapitalisierung auch in den zivilen Sektoren die kreditfinanzierte Steigerung des Staatskonsums irreversibel gemacht hatte. Hatte Keynes selber den Staatskonsum noch als bloße Not- oder Überbrückungsmaßnahme zur »Ankurbelung« der Konjunktur und somit als mehr äußerlichen Eingriff gesehen, so handelte es sich, wie nach dem Zweiten Weltkrieg deutlich wurde, in Wirklichkeit um eine dauerhafte Strukturveränderung, die aus den inneren Systemnotwendigkeiten selbst resultierte. Das vermeintliche keynesianische Programm zur Krisenbewältigung (»deficit spending«) wurde zum Dauerbrenner, auf dem die verpfändete Zukunft verfeuert werden mußte. Damit war natürlich eine Rückkehr zum Goldstandard völlig unmöglich geworden, denn die nunmehr benötigten Massen von Kreditgeld konnten beim besten Willen nicht mehr in irgendeine Relation zu einer eigenen Wertsubstanz des Geldes gesetzt werden.27
Mit anderen Worten: die Entsubstantialisierung des Geldes selber ist zur Tatsache geworden. In der oberflächlichen Betrachtungsweise der VWL, die ohnehin nie mit den vermeintlich »philosophischen« Implikationen des klassischen ökonomischen Wertbegriffs klargekommen war und die sich längst (praktisch) auf die Entwicklung finanztechnischer Manipulationen bzw. (theoretisch) auf wirklichkeitsfremde mathematisierte Modellplatonismen ohne jeden Substanzbegriff zurückgezogen hatte, war das natürlich kein Beinbruch; im Gegenteil, seit Keynes beeilte man sich zu versichern, daß das Gold bloß »ein barbarisches Metall« und fortan ohne jede monetäre Bedeutung sei. Auf die Idee, daß die gesellschaftliche Geldvermittlung und fetischistische Selbstbewegung des »Werts« selber ein barbarischer Primitivismus sein könnte, der des »barbarischen Metalls« letztendlich gar nicht entraten kann, kam man natürlich nicht. Entsubstantialisierung des Geldes bedeutet aber nichts geringeres als seine faktische Entwertung, und damit den Verlust einer wesentlichen Geldfunktion: nämlich der des Wertaufbewahrungsmittels.
Anders gesagt: die Wertaufbewahrung mittels des Geldes beruht nach dem Verlust der Goldkonvertibilität nur noch auf Konvention und subjektiver Akzeptanz, hat aber keinerlei objektiven Grund mehr. Das bedeutet, daß diese Geldfunktion der Wertaufbewahrung auf Gedeih und Verderb an ökonomische Schönwetterzeiten gebunden ist; eine tiefere Reproduktionskrise hingegen würde sie nicht überstehen. Damit hat das System aber sein eigenes inneres Sicherungssystem abgeschaltet. Hier haben wir es bereits mit der vierten Potenz der Entkoppelung von »Arbeit« und Geld zu tun, die die anderen Potenzen überhaupt erst längerfristig möglich gemacht hat, und zwar auf der Ebene und in der Gestalt des Geldes selber. Die logische Konsequenz dieser strukturellen Entsubstantialisierung des Geldes ist aber notwendig die strukturelle Inflationierung.
Auch in dieser Hinsicht waren und sind die Entwarnungen der affirmativen keynesianischen (und großenteils auch der marxistischen) Ökonomen äußerst voreilig. Daß die rasche große Preisinflation bei der (offenen oder heimlichen) Aufhebung des Gehalts an Edelmetall in den »Münzverschlechterungen« etwa des Spätmittelalters oder bei der Aufhebung der Gold- bzw. Silberkonvertibilität von Papiernoten (etwa des berüchtigten Law'schen Papiergelds im französischen Absolutismus, der Assignaten der französischen Revolutionsregierung oder des Papierdollars im US-Bürgerkrieg) nur mangelnder Gewöhnung und mangelnder Finanztechnik geschuldet gewesen sei, ist nicht einmal die halbe Wahrheit. Denn zum einen wurde die temporäre Geldentwertung in der Vergangenheit nicht durch Gewöhnung an ein entsubstantialisiertes Geld überwunden, sondern im Gegenteil vermittels der allgemeinen Durchsetzung des Goldstandards. Zum andern aber folgte auch auf die Kriegswirtschaften der beiden Weltkriege jeweils eine drastische Geldentwertung, besonders natürlich beim Verlierer Deutschland: 1923 als Hyperinflation, 1945/48 als deflationärer Schock (Ungültigwerden der Guthaben und Geldscheine).
Aber auch in der Epoche keynesianischer Expansion des Kredits (vor allem des Staatskredits) nach dem Zweiten Weltkrieg ist die Inflation allgegenwärtig geblieben; gerade in dieser Zeit hat sie sich aus dem Zustand temporärer Ausschläge in einen strukturellen Dauerzustand verwandelt. In dieser strukturellen Dauerinflation, die durch geldpolitische Eingriffe der Notenbanken oder der Gesetzgeber gelegentlich vermindert, aber nie mehr ganz beseitigt werden konnte, erscheint die verborgene Masse der unproduktiven Arbeit ebenso an der monetären Oberfläche und in der Kalkulation der Wirtschaftssubjekte wie bei der wachsenden Belastung durch Lohnnebenkosten oder durch die Bedienung von Unternehmens-, Staats- und Konsumentenkrediten. Daß diese strukturelle Inflationierung zumindest in den OECD-Ländern auf relativ niedrigem Niveau köchelt, ist zum einen der immer noch »laufenden« (wenn auch schon von tieferen Einbrüchen gekennzeichneten) Konjunktur geschuldet, zum andern aber auch der teilweisen Problem-Externalisierung in die Verliererländer des Weltmarkts.28
Durch ihren Vorsprung in der Produktivität und Kapitalintensität konnten die industriellen Metropolen über längere Zeit die Masse des globalen Mehrwerts abschöpfen und sich über die nationalen Finanzmärkte hinaus den Zugang zum internationalen Kredit offenhalten, während die Peripherie und die historischen Späteinsteiger zunehmend nur noch durch die substanzlose staatliche Geldschöpfung, d.h. vermittels der direkten Notenpressen-Inflation, eine notdürftige Kohärenz der Reproduktion aufrechtzuerhalten vermochten. Durch den Prozeß der Globalisierung werden jedoch seit dem Ende der 80er Jahre auch die alten kapitalistischen Zentren selber immer mehr in die Nähe dieses Zustands gerückt. Strenggenommen ist diese Erscheinung, in der sich die temporäre Notenpressen-Finanzierung der Kriegswirtschaft in der Weltkriegsepoche heute in großen Teilen der Welt nicht nur wiederholt, sondern zum Dauerzustand der gesellschaftlichen Reproduktion als ganzer geworden ist, sogar als fünfte Potenz der Entkoppelung von »Arbeit« und Geld zu betrachten; denn dabei wird das entsubstantialisierte Geld nicht einmal mehr durch die regulären Finanzmärkte geschleust, sondern die gesellschaftliche Reproduktion in der Warenform wird unmittelbar geheizt mit aus dem Nichts geschöpften, lediglich dem staatlichen Ukas folgenden Geldmengen der jeweiligen Währung.
In Lateinamerika, Afrika, großen Teilen Asiens und mittlerweile auch Osteuropas haben wir es auf diese Weise mit der völlig neuen Erscheinung von hyperinflationären Zyklen zu tun; d.h. mit einer Bewegung der Ökonomie, die nicht mehr dem »regulären« Zyklus der Kapitalakkumulation, sondern dem Pulsieren der Notenpresse in einer nicht mehr abreißenden Kette von Währungsschnitten und Währungsreformen folgt. Es ist keineswegs eine Übertreibung, bereits heute vom globalen Zusammenbruch der Geldwirtschaft (und damit der modernen »Arbeitsgesellschaft« und des dazugehörigen Marktsystems) zu sprechen. Einzig und allein der in dieser Hinsicht merkwürdigerweise so gut wie gar nicht kritisierte alte Eurozentrismus ist es, der eine adäquate Beurteilung der tatsächlichen Weltentwicklung verhindert. Während der Westen vorläufig noch in der Nachkriegsphase der strukturellen Inflationierung auf niedrigem Niveau verharrt, muß die überwältigende Mehrzahl der Menschheit bereits unter den Bedingungen einer zwei- bis dreistelligen Inflation oder der Hyperinflation mit Raten zwischen tausend und einer Million Prozent leben. Die globale Pro-Kopf-Inflationsrate dürfte mittlerweile im dreistelligen Bereich liegen. Dieser Tatbestand zeigt an, daß die globale unproduktive Arbeit sowohl im absoluten als auch im relativen Sinne die historische Schmerzgrenze des Systems überschritten hat und die verwissenschaftlichte Weltgesellschaft über die Formen des warenproduzierenden Systems irreversibel hinausgewachsen ist.

 

7. Von der fordistischen Expansion zur mikroelektronischen Revolution

In der Epoche vom 1. Weltkrieg bis zum Ende der 70er Jahre trat die Strukturkrise der systemischen »Geschäftskosten« durch unproduktive Arbeit, der Staatsfinanzen und der Inflation nur als Nebenproblem in Erscheinung, d.h. entweder beschränkt auf temporäre Krisenschübe oder strukturell auf kleiner Flamme köchelnd. Der Grund für diese scheinbare Bewältigbarkeit des Problems, der diese Epoche erst zur Inkubationszeit des eigentlichen und absoluten Systemdesasters machte, ist im Charakter der fordistischen Expansion zu suchen. Diese ebenfalls vom 1. Weltkrieg ausgehende Expansion der neuen Industrien mit der Automobilproduktion im Zentrum überlagerte zunächst für mehr als ein halbes Jahrhundert die Strukturkrise der gleichzeitigen Expansion unproduktiver Arbeit.
Genauer gesagt haben wir es dabei mit einer paradoxen Verschränkung in der simultanen Expansion produktiver und unproduktiver Arbeit zu tun. Einerseits mobilisierte der Fordismus neue Massen produktiver Arbeit in bis dahin nicht für möglich gehaltenen Dimensionen; andererseits war dieselbe Entwicklung nur durch eine sprunghafte Ausdehnung der gesellschaftlichen Logistik, der allgemeinen Rahmenbedingungen etc. und damit der unproduktiven Arbeit möglich. Die Disproportionalität in der Expansion dieser beiden gegenläufigen Momente brachte zwar mehrfach das strukturelle Krisenproblem (vor allem auf der Ebene der Staatsfinanzen) auf die Tagesordnung; aber letztendlich konnte doch auf längere Sicht die Expansion der unproduktiven durch die gleichzeitige Expansion der produktiven Arbeit in den fordistischen Industrien »gefüttert« werden, d.h. der absolute Zuwachs an realer Wertsubstanz kompensierte die absolute und relative Zunahme der unproduktiven Sektoren.
Phänomenologisch kann die fordistische Expansion von produktiver Arbeit/realer Wertsubstanz auf mehreren sich überlagernden Ebenen beschrieben werden. Zum einen war es natürlich in der Tat die innere und äußere Ausdehnung der Kapitalverwertung und damit der betriebswirtschaftlichen Rationalität, die neue Felder der realen Mehrwertproduktion erschloß. Nach außen trugen das fortgesetzte, schon im »Kommunistischen Manifest« erwähnte Hineinziehen bis dahin nicht-kapitalistischer Gebiete der Erde in die kapitalistische Reproduktionsform und der damit verbundene Kapitalexport (ein wesentliches, wenn auch verkürzt aufgenommenes Moment in der Theorie von Lenin) diese Erweiterung; nach innen bewirkte die Verwandlung bis dahin nicht-kapitalistischer (bäuerlicher, handwerklicher und subsistenzwirtschaftlicher) Reproduktionsformen in Sektoren der Kapitalverwertung, wie sie durch die neuen fordistischen Methoden möglich wurde, denselben Effekt. Insofern war es (gerade umgekehrt wie in der theoretischen Schlußfolgerung von Rosa Luxemburg) die Verwandlung ehemals »dritter Personen« in kapitalistische Lohnarbeiter, die zunächst die Mehrwertschöpfung von der Produktionsebene her steigerte statt von der Markt- und damit Realisationsebene her eine Schranke darzustellen. Zusammen mit der Expansion der realen Wertschöpfung wurden ja auch mehr relle kapitalistische Geldeinkommen erzeugt.
Vor allem aber war es die Verbindung neuer Industrien und neuer Massenbedürfnisse, die den eigentlichen Expansionsschub trug. Die bloße Expansion in bereits vorhandene Produktionssektoren hinein hätte niemals den säkularen fordistischen Boom (vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg) ermöglicht. Aber der Übergang in der energetischen Basis der fossilen Brennstoffe von Kohle-Dampfmaschinen zu Erdöl-Verbrennungsmotoren in Verbindung mit der fordistischen Rationalisierung (»Arbeitswissenschaft«, Fließproduktion) ermöglichte einen gesellschaftlichen Entwicklungssprung, der frühere Luxusgüter wie Autos, Kühlschränke, Waschmaschinen etc., die bis zum 1. Weltkrieg den upper ten vorbehalten waren, in den großen Massenkonsum eingehen ließ. Hinzu kamen die Produkte neuer Erfindungen wie Radio und Fernsehen, die von vornherein in diesem Aggregatzustand von Massenproduktion und Massenkonsum ins Leben traten. Die allesamt direkt oder indirekt auf Erdölbasis hergestellten fordistischen Massenprodukte führten erst in jenen fordistischen Verbrennungskapitalismus mit seinem ungeheuerlichen und bis zum Schwachsinn gesteigerten Verbrennnungskonsum sowie zu der darauf aufbauenden Verbrennungsdemokratie nach dem Zweiten Weltkrieg, die trotz ihrer historischen Kurzlebigkeit heute noch in den Kernländern der OECD (und in den Mittelschichten auf globaler Ebene) als Normalzustand erlebt wird.
Für die warenförmige Reproduktion entscheidend ist jedoch die Expansion der realen Wertsubstanz und ihrer gesellschaftlichen Vermittlungsformen, die sich hinter dieser Phänomenologie des Fordismus verbergen. Das von der längst bemoosten marxistischen Debatte immer wieder ergebnislos hin- und hergewälzte Problem des berühmten »tendenziellen Falls der Profitrate« spielt dabei natürlich eine Rolle. Die historisch zusammen mit der zunehmenden Verwissenschaftlichung »steigende organische Zusammensetzung des Kapitals« (Marx), die im kapitalistischen Kalkül als steigende Kapitalintensität, d.h. als steigende Kapitalkosten pro Arbeitsplatz in Erscheinung tritt, verweist auf eine gegenläufige Bewegung innerhalb des Wertschöpfungsprozesses (und damit der Mehrwertproduktion).
Die schnelle Zunahme von Verwissenschaftlichung, Technisierung und Rationalisierung war erst notwendig geworden, als die Expansion des »absoluten Mehrwerts« (Marx) durch schrankenlose Ausdehnung des Arbeitstages und schrankenlosen Verschleiß der Arbeitskraft im Lauf des 19. Jahrhunderts an natürliche und gesellschaftliche (Arbeiterbewegung, Staatseingriffe) Grenzen stieß. An die Stelle des »absoluten Mehrwerts« als Hauptmittel der Akkumulation trat nun der »relative Mehrwert«, d.h. die Verminderung der Reproduktionskosten der Arbeitskraft durch »Verwohlfeilerung« der Lebensmittel, wie sie wiederum durch angewandte Naturwissenschaft möglich wurde; erst der Fordismus hat diese Tendenz forciert und verallgemeinert.29
Die Produktion des relativen Mehrwerts führt aber zu einem logischen Widerspruch. Denn zwar erhöht sich dadurch der Anteil des Mehrwerts pro Arbeitskraft, gleichzeitig können jedoch aufgrund der Rationalisierungseffekte derselben Entwicklung immer weniger Arbeitskräfte pro Kapitalsumme angewendet werden (eben dadurch erhöhen sich wie gezeigt die Vorauskosten pro Arbeitsplatz, d.h. die Kapitalintensität oder der Anteil des Sachkapitals an der »organischen Zusammensetzung«). Dieser zweite, gegenläufige Effekt überkompensiert den ersten langfristig. Das bedeutet nichts anderes, als daß die Erhöhung der gesamtgesellschaftlichen relativen Mehrwertrate pro Arbeitskraft erkauft ist mit einem gleichzeitigen Fall der Profitrate pro vorgeschossene Kapitalsumme. Dieser Effekt wiederum kann nun seinerseits einzig und allein dadurch überkompensiert werden, daß die absolute Menge der angewendeten (produktiven!) Arbeitskraft und damit zusammen mit der absoluten Mehrwertmasse die absolute Profitmasse steigt, was nur durch eine permanente Ausdehnung der Produktionsweise als solcher möglich ist. Dies wurde in Gestalt der fordistischen Expansion tatsächlich bis zu einem gewissen Grad gewährleistet.
Es gibt freilich einen gewaltigen Schönheitsfehler schon in dieser Logik der fordistischen Ausdehnung der absoluten Mehrwertmasse/Profitmasse.30 Denn diese Expansion war ja nur möglich durch die gleichzeitige Expansion der (kapitalistisch) unproduktiven Rahmenbedingungen. Ein erheblicher Teil der zusätzlichen fordistischen Industrieprodukte wurde in zunehmendem Maße von unproduktiven Arbeitern verzehrt, was eine grundsätzliche Veränderung des Akkumulationsregimes zur Voraussetzung hatte. Eben deswegen war das keynesianische »deficit spending« von Anfang an weder Start- noch Überbrückungshilfe, sondern strukturelle Daseinsbedingung und politisches Regulationsinstrument der fordistischen Expansion, die im globalen Maßstab erst nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzte. Das aber bedeutet nichts anderes, als daß die fordistische Expansion mitsamt ihrem »Wirtschaftswunder« grundsätzlich schon kein wirklich selbsttragender säkularer Aufschwung der Kapitalakkumulation mehr war, sondern bereits teilweise durch Verpfändung zukünftiger Wertmasse gespeist werden mußte. Was an der fordistischen Ära und ihrem »Akkumulationsmodell« noch selbsttragend war, das war einzig und allein die reguläre Bedienung der exponentiell anwachsenden Kreditmasse durch reale Erweiterung der absoluten Profitmasse. Diese Ausdehnung der absoluten Profitmasse war jedoch bereits kleiner als die damit notwendig verbundene gleichzeitige Ausdehnung der unproduktiven »Geschäftskosten« des sich totalisierenden Marktsystems.
Daraus erhellt, daß es sich bei der fordistischen Expansion von vornherein nur um einen historisch kurzlebigen Prozeß handeln konnte. Mehr noch: da ja der Kapitalismus und seine betriebswirtschaftliche Rationalität bis zum 1. Weltkrieg nur ein Segment der gesellschaftlichen Reproduktion gewesen war, muß die fordistische Akkumulationsära als unwiederholbares Durchgangsstadium der kapitalistischen Binnengeschichte begriffen werden, statt sie davon losgelöst als abstrakten »Strukturzustand« darzustellen. Kapitalismus ist ein historischer Verallgemeinerungsprozeß seiner eigenen Kriterien, der sich auf immer höherem Niveau fortsetzen muß und niemals auf ein früheres Niveau zurückkehren kann. Deshalb ist es verfehlt, seine Geschichte als bloße Abfolge von Strukturen zu begreifen, ohne die selbstzerstörerische Dynamik des Gesamtprozesses in Rechnung zu stellen. Man könnte es auch so sagen: in demselben Maße, wie der Kapitalismus »siegt« und zur flächendeckenden Reproduktionsform der Gesellschaft (und schließlich der Weltgesellschaft) wird, was erst durch den Fordismus auf den Weg gebracht wurde, beweist er auch seine logische Unmöglichkeit. Seine absolute Durchsetzung muß daher historisch mit seiner absoluten Grenze in eins fallen, auch wenn das gerade die marxistische Linke nicht hören will, die das Problem der Reproduktionssektoren (und damit der »tertiären Revolution«) nie theoretisch durchdrungen und sich auf die immanente Verewigungsfähigkeit der kapitalistischen Produktionsweise zunehmend selbst vergattert hat.31
Die Expansion der kapitalistischen Produktionsweise als Voraussetzung für die fordistische Ausdehnung der Profitmasse und damit die Kompensation der fallenden Profitrate bedeutete den Zwang zur permanenten Erweiterung der Produktion und damit der Märkte. Das ging aber nur, solange die Produkt- und Erweiterungsinvestitionen die Prozeß- oder Rationalisierungsinvestitionen in genügendem Ausmaß überstiegen, denn nur auf diese Weise wurden trotz Rationalisierung eine absolut wachsende Masse industrieller Arbeitskräfte vernutzt und wachsende »produktiv« fundierte Geldeinkommen erzeugt. Nur solange diese Relation einigermaßen eingehalten wurde, konnte das »Schneeballsystem« der fordistischen Expansion bei gleichzeitig überproportionalem Anteil der unproduktiven Sektoren am Laufen gehalten und die Verzinsung des komplementär anwachsenden Kreditgebirges aus realer Wertmasse bedient werden.
Diese entscheidende Differenzierung läßt der größte Teil sowohl der VWL- als auch der marxistischen Argumentation zur »Wachstumstheorie« vermissen: fast durchgängig wird die »Steigerung der Produktivität« oder das Produktivitätswachstum an sich und überhaupt gleichgesetzt mit dem Wachstum der Märkte, der Wertschöpfung und damit der realen Akkumulation des Kapitals.32 Dies gilt jedoch nur unter einer ganz bestimmten prekären Bedingung: dann nämlich, wenn die Steigerung der Produktivität kleiner ist als die damit möglich werdende innere und äußere Ausdehnung der Märkte. Der von Henry Ford organisierte Produktivitätssprung in der Automobilindustrie bedeutete, daß pro Auto viel weniger Arbeitskraft vernutzt werden mußte; aber die dadurch ermöglichte Verwandlung des Autos in ein Produkt des Massenkonsums ließ die Automobilproduktion derart explodieren, daß insgesamt trotz Rationalisierung/Produktivitätswachstum wesentlich mehr Arbeitskraft in der Autoindustrie produktiv vernutzt werden konnte und somit auch die reale Wertschöpfung stieg. Es ist jedoch klar, daß diese Bedingung nicht automatisch existiert und nicht für immer fortgeschrieben werden kann. Im Gegenteil muß zwangsläufig der Punkt erreicht werden, wo das Verhältnis kippt und bei relativer Sättigung der Märkte neue Sprünge des Produktivitätswachstums den gegenteiligen Effekt haben, d.h. größer werden als die dadurch noch mögliche Ausdehnung der Arbeits- und Warenmärkte.
Der gesamte Kompensationsmechanismus mußte also zum Stehen kommen in demselben Maße, wie die fordistische Expansionskraft erlosch. Hinsichtlich der äußeren Expansion wurde dieser kritische Punkt schon bald nach dem Zweiten Weltkrieg erreicht; der Kapitalexport wurde zunehmend zum Nullsummen-, wenn nicht zum Negativsummenspiel, d.h. es handelte sich immer weniger um Produktionserweiterung und immer mehr um bloße Produktionsverlagerung aus Kostengründen; eine heute durch die Globalisierung der Produktion in sein Reifestadium eintretender Prozeß (ablesbar schon frühzeitig daran, daß der Welthandel schneller wuchs als die Weltproduktion). Insofern trat (und tritt) auch der krisentheoretische Gedanke von Rosa Luxemburg sozusagen wieder in sein Recht ein, da die kompensatorische Qualität der äußeren Expansion erlischt und ihre unmittelbare Krisenqualität als Grenze der Produktionsweise wieder sichtbar wird.
Wesentlich aber wurde erst der Zusammenbruch des Kompensationsmechanismus auf der Ebene der inneren Expansion, der mit der mikroelektronischen Revolution ein kritisches Stadium erreichte. Ende der 60er Jahre hatte sich auch die fordistische Expansion nach innen erschöpft. Denn erstens waren Landwirtschaft, kleine Warenproduktion und -Distribution etc. nun vollends in die betriebswirtschaftliche Rationalität eingesaugt und fordistisch industrialisiert; zweitens erreichten die fordistischen Produktinnovationen ebenso wie die Märkte des nun nicht mehr so neuen Massenkonsums ihre Sättigungsgrenzen. Danach konnten Innovationen wie z.B. die Ablösung der Langspielplatte durch die CD und ähnliche neue Produkte auf der Ebene der realen Wertschöpfung keine großen Schübe mehr bewirken; bei den alten fordistischen Gütern (Automobile, weiße und braune Ware etc.) gab es nur noch Ersatzkäufe (beschleunigt allenfalls durch »künstlichen Verschleiß«, d.h. bewußt eingebaute schnellere Materialermüdung und somit Qualitätsverschlechterung), aber es konnten keine neuen großen Käuferschichten mehr erschlossen werden.
Diese hochfordistische Stagnation ließ sich noch ein wenig strecken durch die Expansion der Investitionsgüterindustrie. Nach innen waren dies jedoch schon zunehmend reine Rationalisierungs-Investitionen, die das reale gesamtgesellschaftliche Wertschöpfungspotential insgesamt zu untergraben begannen; nach außen waren es die fordistischen Nachzügler an der kapitalistischen Peripherie und in der Dritten Welt, die ein gewisses Exportpotential zusätzlich erschlossen. In dieser Hinsicht zeigte es sich jedoch schon bald, daß die fordistische Expansion nicht verallgemeinerungsfähig ist, sondern sich auf wenige Länder beschränken muß. Sowohl die Vorauskosten des betrieblichen Sachkapitals als auch die Kosten der notwendigen gesellschaftlichen Infrastruktur sind seit dem Zweiten Weltkrieg in derart astronomische Höhen gestiegen, daß sie für die allermeisten Länder schon in den 70er Jahren unerschwinglich wurden. Die fordistische Expansion blieb hier in den Anfängen oder auf halbem Wege stecken. Importe betrieblicher und infrastruktureller Investitionsgüter mußten durch Kredite vorfinanziert werden, ohne daß die damit in Gang gebrachten Produktionsprozesse ausreichten, auch nur die Verzinsung dieser Kredite zu bedienen. Das Resultat sollte schon bald die berüchtigte Schuldenkrise der Dritten Welt sein, die bis heute anhält und inzwischen ein Volumen von 1,8 Billionen Dollar erreicht hat. In vielen Fällen handelte es sich von vornherein um völlig unsinnige Investitionsruinen (Staudämme, Atomkraftwerke etc.), die nur im Zusammenspiel von korrupten Politikern und internationalen Konzernen (vom Schlage Siemens z.B.) zwecks Abkassieren ins Werk gesetzt wurden.33
Das in den meisten Fällen katastrophale Steckenbleiben der fordistischen Expansion an der kapitalistischen Peripherie kündigte aber das krisenhafte Ende auch in den Kernländern selbst an. Schon die Ölkrise Mitte der 70er Jahre zeigte, daß die stagnierende reale Wertschöpfung der fordistischen Industrien für zusätzliche Kostenbelastungen empfindlich geworden war. Es begann eine historisch gegenläufige Bewegung, deren augenfälligste Erscheinung die strukturelle Massenarbeitslosigkeit in allen fordistischen Sektoren ist, die von Zyklus zu Zyklus weiter anschwillt. Der Hauptmotor dieses Prozesses war seit Beginn der 80er Jahre die mikroelektronische Revolution, die den industriellen Beschäftigungskern abschmelzen ließ wie Schnee an der Sonne. In mehreren Schüben ging die industrielle Beschäftigung zwischen 1980 und 1995 allein in der BRD um mehrere Millionen zurück. Dasselbe gilt für die übrigen Industrieländer. Dieser Rückgang wurde keineswegs durch die nachholende fordistische Expansion in Asien und anderswo ausgeglichen oder gar überkompensiert, wie eine akkumulationstheoretisch naive Argumentation nicht zuletzt marxistischer Provenienz meint.34 Diese Aufrechnung auf den ersten Blick beeindruckender Zahlen der industriellen Expansion etwa in Indien, China oder bei den »kleinen Tigern« Südostasiens übersieht aber zweierlei. Erstens handelt es sich gerade im Fall von Großstaaten wie China immer noch großenteils um das von Jahr zu Jahr prekärer werdende Auslaufmodell jener staatlich subventionierten Phantom-Industrien (vom Standpunkt des Weltmarkts aus), die bei einer zunehmenden Öffnung, wie sie durch die neue Exportindustrialisierung erzwungen wird, nicht mehr haltbar sind. Per Saldo wird viel weniger zusätzliche Beschäftigung in den Sektoren der weltmarktorientierten Exportindustrialisierung geschaffen, als mittelfristig durch denselben Prozeß bei den alten Staatsindustrien über den Jordan gehen muß.
Zweitens aber heißt mehr industrielle Beschäftigung bei einigen (insgesamt wenigen) fordistischen Nachzüglern keineswegs auch mehr reale Wertschöpfung, deren Standard mit zunehmender Globalisierung vom Produktivitätsniveau des Weltmarkts und damit von den höchstentwickelten Industriesystemen diktiert wird. Da auch für die asiatischen Newcomer diese betrieblichen und infrastrukturellen Standards im großen Maßstab unerschwinglich sind, versuchen sie diesen Nachteil vor allem durch Billiglohn, miserable Arbeitsbedingungen und rücksichtslose Umweltzerstörung wettzumachen. Langfristig ist das auch betriebswirtschaftlich unhaltbar, kurzfristig aber kann dadurch die Überlegenheit der industriellen Kernländer in der Kapitalausstattung teilweise ausgeglichen werden. Unter den Bedingungen der Globalisierung sind es zunehmend westliche Konzerne selbst, die durch weltweit flexibilisierte Investitionen das Gefälle bei Löhnen und politischen Auflagen ausnützen. All dies spielt sich aber wieder nur im betriebswirtschaftlich beschränkten Rahmen und auf der Marktoberfläche ab. Die reale Wertschöpfung des Weltkapitals wird dadurch keineswegs erweitert. Denn gemessen am globalen Produktivitätsstandard kann es sein, daß 100 oder 1000 Billiglohnarbeiter mit relativ geringer Sachkapital-Ausstattung kein bißchen mehr Wert produzieren als ein einziger High-tech-Arbeiter mit hoher Sachkapital-Ausstattung in demselben Sektor. Was sich für die partikulare Kostenrechnung des Einzelkapitals, das gegenüber dem Gesamtprozeß der Verwertung seiner Natur nach blind sein muß, als vorteilhaft darstellt, hat mit der substantiellen gesellschaftlichen (heute: weltgesellschaftlichen) Wertschöpfung gar nichts zu tun.35 Natürlich wird sich das Problem der realen Wertsubstanz letzten Endes auch auf der Marktoberfläche krisenhaft bemerkbar machen, als scheinbar äußere und unerwartete Begrenzung für das betriebswirtschaftliche Kalkül.
Per Saldo kann heute grundsätzlich gesagt werden, daß im Zuge der mikroelektronischen Revolution, deren Potential noch längst nicht ausgeschöpft ist, zusammen mit der fordistischen Expansion die Ausdehnung der produktiven Arbeit und damit der realen Wertschöpfung seit Beginn der 80er Jahre zum Stillstand gekommen und inzwischen global negativ geworden ist. Das aber bedeutet nichts anderes, als daß der historische Kompensationsmechanismus, der die gleichzeitige Expansion der kapitalistisch unproduktiven Arbeit trug, bereits nicht mehr existiert. Die Basis der kapitalistischen Reproduktion ist eigentlich schon an ihre absolute Grenze gestoßen, auch wenn dieser Kollaps (im substantiellen Sinne) auf der formellen Erscheinungsebene noch nicht realisiert ist. Diese Realisierung aber stellt sich nicht mehr als bloß verschärfte Degression der Profitrate dar. Denn dieser Ausdruck bezeichnet ja nur die Art und Weise, wie die relative Grenze kapitalistischer Reproduktion unter den Bedingungen einer noch anwachsenden absoluten Profitmasse (Ausdehnung der Produktionsweise) erscheint.36 Insofern hat Rosa Luxemburg in ihrer »Antikritik« wieder recht, auch wenn sich diese relative Begrenzung keineswegs »bis zum Erlöschen der Sonne« hinzieht. Die absolute Grenze erscheint jedoch nicht in der Form, daß der »tendenzielle Fall« sich einfach linear beschleunigt, sodaß der Kapitalismus womöglich vom Management mangels Rentabilität resigniert aufgegeben würde. Vielmehr hört mit dem Erreichen der absoluten Grenze die absolute Akkumulation von realem »Wert« überhaupt auf. Substantiell gesehen »sinkt« dann die Profitrate nicht, sondern zusammen mit dem Verschwinden zusätzlicher Wertmasse hört sie überhaupt zu existieren auf. Der Begriff wird sinnlos.37 Formell geht allerdings trotzdem gleichzeitig der Akkumulationsprozeß noch eine Zeitlang weiter (und somit werden formell auch weiter Profite gemacht), jetzt aber gänzlich abgehoben von der (schrumpfenden) realen Wertsubstanz und nur noch den nunmehr endgültig enthemmten Kreationen des »fiktiven Kapitals« und des substanzlosen Geldes in seinen diversen Erscheinungsformen folgend.
Die kapitalistischen Institutionen haben in den 80er Jahren durchaus auf diese Entwicklung reagiert. Einerseits wurden im Zuge der weltweit durchgesetzten neoliberalen Ideologie die Finanzmärkte in einem nie dagewesenen Ausmaß »dereguliert« (d.h. von allen noch vorhandenen Sicherungsmechanismen »befreit«), um genügend globale Liquidität für den »entkoppelten« Prozeß der Phantom-Akkumulation zu schaffen. Andererseits wurde eine Offensive gegen den Staatskonsum gestartet (vor allem gegen den Sozialstaat), um die Staatsquote zu senken und vermeintlich wieder »reguläre« Verhältnisse herzustellen; insofern ist der Monetarismus gewissermaßen als eine Art düstere Vorahnung und als instinktive Reaktion der kapitalistischen Institutionen zu werten. Diese Hoffnung auf Rückkehr zur »regulären« Akkumulation des Kapitals ist jedoch eine eitle, denn an die Stelle des Staatskonsums tritt keineswegs ein entsprechend großes privatkapitalistisches Segment, sondern es kommt lediglich das substantielle Vakuum der Reproduktion zum Vorschein; d.h. die Tatsache, daß ein zu großer Teil der kapitalistischen Produktion selber längst vom »fiktiven Kapital« des Staatskonsums abhängig ist und einen wirklich »schlanken Staat« gar nicht verkraften kann. Die »reaganomische« und »thatcheristische« Offensive gegen den Staatskonsum ist daher selbst in den USA und Großbritannien zum Erliegen gekommen. Der Knoten der großen, auch empirisch fühlbarer als bisher in Erscheinung tretenden Krise schürzt sich zwangsläufig auf der Ebene der entkoppelten Finanzmärkte.

 

8. Die globalen Defizitstrukturen und der kurze Sommer des Kasinokapitalismus

Für das notorische Kurzzeitgedächnis von marktsozialisierten Wesen (und dazu gehören längst auch linke bzw. ex-linke Theoretiker) mag sich all dies phantastisch anhören, weil sie an die absolute Krise erst »glauben«, wenn sie selber aus der Mülltonne fressen oder unter Artilleriebeschuß liegen; und, Verdrängungskünstler, die sie sind, wahrscheinlich nicht einmal dann. Wo bricht denn hier etwas zusammen?, so fragen sie mehr oder weniger milde lächelnd. Nun haben wir es zwar tatsächlich mit historischen Prozessen zu tun; allerdings sind es im historischen Sinne eher kurze Prozesse, auch wenn sie dem markt- und politikförmigen Bewußtsein vorerst noch lang erscheinen mögen. War der sibirische Sommer des fordistischen Nachkriegsbooms schon kurz, so wird die darauffolgende Ära des entkoppelten »Kasinokapitalismus« noch kürzer sein. Seit der Mitte der 80er Jahre ist die Scheinakkumulation in einen rein spekulativen Boom übergegangen, der in den 90er Jahren auf hohem Niveau verharrt, obwohl sich das »Platzen der Blase« schon mehrfach angedeutet hat.
Welche Folgen hätte es, wenn die globale Blase platzt? Naive Gemüter glauben: gar keine oder nur geringe; und einige führen dabei sogar Marx ins Feld, der in der Tat geschrieben hatte: »Soweit die Entwertung oder Wertsteigerung dieser Papiere unabhängig ist von der Wertbewegung des wirklichen Kapitals, das sie repräsentieren, ist der Reichtum einer Nation gerade so groß vor wie nach der Entwertung oder Wertsteigerung« (Kapital Bd. 3, 486). Das gilt aber natürlich nur, soweit das »fiktive Kapital« sich ausschließlich im Finanz- und Kreditüberbau bewegt ohne Rückkoppelung auf die reale Reproduktion. Schon Marx machte deshalb gewisse Einschränkungen: »Soweit ihre Entwertung nicht wirklichen Stillstand der Produktion und des Verkehrs auf Eisenbahnen und Kanälen, oder Aufgeben von angefangenen Unternehmungen ausdrückte, oder Wegwerfen von Kapital in positiv wertlosen Unternehmungen, wurde die Nation um keinen Heller ärmer durch das Zerplatzen dieser Seifenblasen von nominellem Geldkapital« (a.a.O.).
Wie reich aber »die Nation« wirklich ist, ob sie sich »reich gerechnet« und Produktion wie Einkommen scheinfinanziert hat, oder ob sich der Krach wirklich bloß im Finanzolymp abspielt und lediglich »die Spekulanten« arm macht: das eben ist die Frage. Schon zur Zeit von Marx ging es bei Entwertungsschocks des »fiktiven Kapitals« keineswegs ohne mehr oder minder schwere Blessuren der industriellen Produktion ab; etwa beim Gründerzeitkrach der Eisenbahnspekulation, dem eine fast zwanzigjährige Stagnationsperiode folgte.38 Sicherlich war aber die Bewegung des »fiktiven Kapitals« unter den Bedingungen des 19. Jahrhunderts, als der Kapitalismus erstens bloß ein gesellschaftliches Segment und zweitens seine Reproduktion noch viel weniger vom Kreditsystem abhängig war, tatsächlich relativ beschränkt sowohl von ihrem Volumen her als auch in der Rückwirkung auf die reale Produktion. Die heutige Situation dagegen hätte sich wohl selbst Marx nicht vorstellen können. Denn nach dem Ende der fordistischen Expansion hat sich ja das Verhältnis geradezu umgekehrt: die reale Reproduktion ist zum Anhängsel einer riesigen Blase des »fiktiven Kapitals« in seinen diversen Erscheinungsformen und Aggregatzuständen geworden, statt diese Blase ihrerseits als bloße Emanation aus sich hervorzutreiben.
Wie aber stellt sich dieser Sachverhalt genauer dar? Staatskredit und spekulatives Geldkapital sind auf vielfache Weise miteinander verwoben, sodaß ein Entwertungsschock des Finanzüberbaus in der einen oder anderen Weise auch die Staatspapiere mit sich reißen bzw. die Refinanzierungsfähigkeit des Staates zerstören würde. Insofern muß sich in diesem Fall die Subventionierung ganzer Sektoren von Industrie und Landwirtschaft, die heute schon in vielen Ländern der ehemaligen Dritten Welt zusammengebrochen ist, auch in den anderen Ländern auflösen; in Rußland, Indien und China ebenso wie in den OECD-Ländern selbst. Diese global immer noch erhebliche Subventionsmasse ist ja de facto von der Logik des Marktes her nichts anderes als »Wegwerfen von Kapital in positiv wertlosen Unternehmungen«; und es versteht sich von selbst, daß dieser Faktor heute ein ganz anderes Gewicht hat als zur Zeit von Marx, wo er in der Tat eher vernachlässigenswert bzw. auf einen relativ geringen Teil der privaten Investitionen beschränkt war.
Inzwischen übersteigt allerdings das private Spekulationskapital in seinen phantasievollen derivativen Kreationen den Staatskredit bei weitem; was nur ein Ausdruck dafür ist, daß seit Beginn des Kasinokapitalismus erstens eine immer größere Masse des nicht mehr real reinvestierbaren fordistischen Geldkapitals in den Finanzüberbau geströmt ist (»Überakkumulation« der fordistischen Industrien seit den 70er Jahren) und zweitens dort in seiner Scheinakkumulation (G-G') inzwischen eine beispiellose Masse fiktiver Werte aufgehäuft hat, die verbucht und als reale Geldvermögen behandelt werden. Es ist ganz sicher, daß ein gewisser Teil dieser fiktiven kommerziellen Gelder entweder direkt oder durch Beleihen (was die Blase natürlich noch weiter aufbläht) als scheinbar reale Nachfrage in die Reproduktion zurückkehrt. Es werden damit also Produktionsprozesse angeheizt, die gar keine substantielle Grundlage haben und bei einem Entwertungskrach zum Stillstand kommen müssen. Auch dieser Faktor ist sicher um vieles bedeutender als zur Zeit von Marx.
Gemessen an der Gesamtmasse des kommerziellen »fiktiven Kapitals« ist diese Art der Rückwirkung auf die reale Reproduktion in Form des Einspeisens von Nachfrage ohne reale Wertsubstanz allerdings bis jetzt äußerst gering, im Unterschied zum Staatskonsum. Würde sich das gesamte Gebirge der fiktiven kommerziellen Werte heute als realwirtschaftlicher Nachfrageschub in Bewegung setzen, dann würde das die sofortige Hyperinflation auch im Westen bedeuten.39 Dennoch kann auch dieser Hauptteil der fiktiven Werte, der gegenwärtig nicht als Nachfrage in die reale Reproduktion eingespeist wird, sondern im Spekulationsüberbau verbleibt, durchaus indirekt große Sektoren der scheinbar realen und produktiven Reproduktion tragen. Die Lösung dieses Rätsels findet sich auf der Ebene der Bilanzen. Eine Bilanz, das darf man nie vergessen, ist grundsätzlich eine frisierte Angelegenheit, die immer erst entschlüsselt werden muß. Dennoch ist für eine positive oder wenigstens ausgeglichene Bilanz natürlich stets ein tatsächliches »Haben« (»tatsächlich« im Sinne von Guthaben in welcher Form auch immer) notwendig, wenn es sich nicht um eine einfache Fälschung handeln soll (daß auch die bloßen Fälschungen rapide zunehmen, ist ein Indiz für die Annäherung an die Grenze der fiktiven Akkumulation). Woher dieses Guthaben stammt und in welcher Form es aggregiert wird, das steht aber auf einem anderen Blatt.
Wie stellt sich nun die Verschiebung vom industriellen Real- zum spekulativen Kasinokapitalismus auf der Ebene der Bilanzen dar? Die Antwort muß lauten: dadurch, daß sich das Gewicht bei den Gewinnen und Guthaben von Einkommen, die aus der industriellen Realakkumulation abgeleitet sind (G-W-G') zu Einkommen verlagert, die aus dem spekulativen Finanzüberbau stammen (G-G'). Mit anderen Worten: nicht mehr die reale Produktion und deren Erfolg auf dem Markt ist der entscheidende Faktor, sondern eine clevere Finanzabteilung, die eine marode Bilanz in die schwarzen Zahlen zocken kann. Oder andersherum: die Behauptung von Marktanteilen gelingt ganz oder teilweise nur noch durch Zufuhr von spekulativen Gewinnen. Natürlich verhält es sich nicht in jedem Einzelfall so; entscheidend aber ist, welches Gewicht gesamtgesellschaftlich das »fiktive Kapital« an der Bilanzierung hat. Diese Guthaben müssen weder als investive noch als konsumtive Realnachfrage erscheinen und können trotzdem einen erheblichen Teil der realen Reproduktion dadurch tragen, daß sie Unternehmen, Produktion und Beschäftigung über Wasser halten, indem sie nur die Bilanz »schwärzen«. Würde das »fiktive Kapital« im großen Maßstab entwertet, dann hätte dies den schnellen Bankrott einer ungeahnt großen Zahl von scheinbar »kerngesunden« Firmen zur Folge.
Daß es sich dabei nicht um bloße Vermutungen handelt, zeigen die Skandale, Großbankrotte und plötzlich notwendigen »Rettungsaktionen« der letzten Jahre, an denen die Spitze eines Eisbergs sichtbar wird. Ob es sich um den Fall der Frankfurter Metallgesellschaft, um die Milliardenpleite des Baulöwen Schneider oder um den Bankrott der Londoner Traditionsbank Barings handelt: stets gab es einen scheinbar unvermittelten Übergang von guten Bilanzen zur Insolvenz, weil die Finanzabteilung sich verspekuliert hatte; sei es im Bereich von Immobilien, Devisen, Termingeschäften oder sonstigen derivativen Spekulationsformen. Die Banken sind zum Zentrum nicht mehr so sehr des reellen kapitalistischen Kreditgeschäfts, sondern der globalen Zockerei geworden; und es klingt durchaus glaubhaft, wenn der geflüchtete Ex-Unternehmerstar Schneider die Deutsche Bank beschuldigt, das unseriöse Abheben seiner Geschäfte nach Leibeskräften und durchaus bewußt gefördert zu haben.   Symptomatisch ist auch der Fall Barings. Am 4. Februar 1995 wurde die Bank in einem schmeichelhaften Report der FAZ als extrafeine Adresse und als »eine der stärksten in Asien« gerühmt, mit 54 Prozent Gewinn in 1994. Und ihr Chef Peter Baring wurde mit den Worten zitiert: »Wir müssen nicht jede Modeerscheinung mitmachen. Wir können langfristig denken«. Wahrhaftig ein Fall für die linksradikalen Gesundbeter des Kapitalismus, um zu zeigen, wie gut »das Kapital« dasteht. Nicht einmal eine Woche später war Barings bankrott, zu Tode gezockt durch einen 29jährigen Broker in Singapur, der sich an der Tokioter Börse vergaloppiert hatte. So etwas wäre bei einem nach seinen eigenen Kriterien reellen Kapitalismus, in dem das Bankensystem wirklich in erster Linie die Finanzierung realer marktfähiger Produktion vermittelt, gar nicht möglich gewesen.
Es sind aber keineswegs nur die Banken und die Finanzabteilungen der Unternehmen, die zu ganovenartigen Wettgemeinschaften im globalen Spielkasino geworden sind. Auch Rentenversicherer, staatliche Finanzverwaltungen, Stadtkämmerer von Tokio bis Hintertupfing, Kassierer von Parteien, Vereinen und privaten Gesellschaften mischen immer hemmungsloser mit; teils schon von der Not getrieben, weil die reellen Einkünfte hinten und vorne nicht mehr ausreichen. Dabei verhält es sich ganz ähnlich wie bei den Unternehmensbilanzen: Mehr oder weniger katastrophale Finanzverhältnisse werden durch Zockerei mit Derivaten geschönt. Es kann im Einzelfall auch sein, daß es die diversen Finanzverantwortlichen einfach in den Fingern juckt und sie ihrer jeweiligen Institution etwas Gutes tun wollen, wenn es scheinbar so leicht ist, mit genügend Spielgeld aus dem Nichts dicke Finanzpolster zu hecken. Daß man dabei baden gehen kann, mußte z.B. 1994 ein Schatzmeister der PDS erfahren, der eine Landes-Parteikasse mit den besten Absichten verzockt hatte. Als 1994 der US-Landkreis Orange County Bankrott anmelden mußte, weil seine Finanzverwaltung sich verspekuliert hatte, beeilten sich bundesdeutsche Länderfinanzminister und Pressesprecher der Verwaltungen zu versichern, so etwas könne hierzulande nicht passieren. Das ist jedoch völlig unglaubwürdig, denn gleichzeitig wurde bekannt, daß den Finanzverwaltungen die »Investition« in derivative Finanzanlagen durchaus gestattet ist.
Bei den bisher betrachteten Aggregierungen des »fiktiven Kapitals« und ihrer Rückkoppelung auf die reale Reproduktion handelt es sich im wesentlichen um einen allgemeinen Zustand der globalen »strukturellen Überakkumulation«, der mehr oder weniger ausgeprägt in allen Volkswirtschaften bis hin zu den Zusammenbruchsökonomien eine kasinokapitalistische Struktur ohne realkapitalistische Tragfähigkeit auf dem Boden des jeweiligen nationalen Geldes hervorgetrieben hat.40 Solange die absurde globale Liquiditätsschöpfung des »fiktiven Kapitals« noch weiter (und heute hemmungsloser denn je) expandiert, können die Entwertungskatastrophen auf signifikante Einzelfälle beschränkt bleiben, die sich erst bei der unvermeidlichen Kontraktion verallgemeinern werden. Daß die Größenordnung bereits irrsinnig geworden ist, läßt sich an den Schätzungen der Finanzanalytiker ablesen, die allein für die neuen derivativen Spekulationsformen ein Volumen zwischen 10 und 50 Billionen Dollar annehmen. Die Schwankungen erklären sich daraus, daß niemand mehr einen Überblick besitzt und das Herausnehmen der institutionellen Sicherungen auch die statistische Kontrolle ausgehebelt hat. Jedenfalls ist es klar, daß bei solchen Größenordnungen die »lumpigen« 1,8 Billionen Dollar der Dritte-Welt-Verschuldung fast schon wieder als vernachlässigenswerte Größe erscheinen. Nur aus dieser Hybris einer maßlos gewordenen und realwirtschaftlich ungedeckten Liquiditätsschöpfung konnten die diversen Schuldenkrisen als angeblich entschärft erklärt werden: »entschärft« durch maßlose Anhäufung neuen Explosivstoffes (von den sozialen Folgen der weiterschwelenden Schuldenkrisen spricht ohnehin kaum noch jemand).
Der Kasinokapitalismus ist jedoch seit den 80er Jahren nicht nur zum Strukturzustand innerhalb der einzelnen Nationalökonomien geworden, sondern diese Struktur hat sich auf einer zweiten Ebene auch internationalisiert; und zwar nicht nur im Sinne einer Globalisierung der spekulativen Finanzmärkte, sondern auch in der Form internationaler Defizitkreisläufe zwischen den verschiedenen, durch die Globalisierung in Auflösung begriffenen Nationalökonomien. Ein solcher Defizitkreislauf kann auf zwei Ebenen stattfinden, und in beiden Fällen wird die Realökonomie durch von außen zugeführtes Geldkapital gefüttert. Zum einen handelt es sich um die Finanzierung der Staatsschuld nicht mehr durch inländische Spargelder (oder inländische Notenpressen-Inflation), sondern durch ausländisches Geldkapital; dasselbe kann sich auch auf der Ebene der Unternehmensverschuldung abspielen. Die Schuldenkrise der Dritten Welt ist nur ein bereits prekär gewordener Spezialfall dieser Außenverschuldung. Das Brisante daran ist, daß die ständige Aufnahme von Fremdkapital durch Devisen bedient werden muß, d.h. nur durch dauerhafte Exportüberschüsse möglich wäre; was dann allerdings wiederum zu Defiziten anderswo führen müßte.41 Realwirtschaftlich wirksam wird diese Außenverschuldung dadurch, daß das anderswo geliehene Geld als Staats- bzw. Unternehmensnachfrage im Inland wiedererscheint und entweder konsumtiv verpulvert oder kapitalistisch fehlinvestiert wird (Rüstung, Investitionsruinen, Subvention unrentabler Bereiche usw.).
Zweitens handelt es sich um die verschuldete Finanzierung von negativen Handelsbilanzen, d.h. mehr oder weniger hohe realwirtschaftliche Importüberschüsse werden nicht aus einheimischen Spargeldern, sondern durch fremdes Geldkapital bezahlt. Ein solches Konstrukt stellt eigentlich ökonomisch eine logische Unmöglichkeit dar. Denn entweder leiht man sich im Ausland Geld, dann muß man es durch Exportüberschüsse abbezahlen, oder man hat Importüberschüsse, dann muß man sie durch inländische Finanzpolster und früher erwirtschaftete Devisenguthaben bezahlen können; beides zusammen aber schließt sich aus. Wenn dennoch Außenverschuldung und negative Handelsbilanz zusammenfallen, dann handelt es sich von vornherein um ein prekäres Konstrukt im Kontext des »fiktiven Kapitals« und/oder aufgrund von politischen Vorgaben, die irregulär das ökonomische System und seine Gesetzmäßigkeiten zu überspielen suchen. Auf jeden Fall ist diese ökonomische Unmöglichkeit nicht lange durchzuhalten.
Sowohl Kapital- als auch Handelsbilanzdefizite hat es natürlich auch schon früher gegeben, aber hier gilt dasselbe wie hinsichtlich der Staatsverschuldung und der Expansion des Kredits überhaupt: in vergangenen Epochen waren es vergleichsweise bescheidene Defizitmengen, die nicht über längere Zeiträume hinweg aufakkumuliert wurden, sondern bald wieder abgetragen werden mußten (und im Zuge der jeweiligen kapitalistischen Expansion auch relativ leicht abgetragen werden konnten). Heute aber haben wir es mit nicht nur wesentlich größeren Dimensionen der Außenverschuldung, sondern auch mit strukturell verfestigten und bereits seit zehn bis zwanzig Jahren hochgeschraubten regelrechten Defizitkreisläufen zu tun, die nicht mehr im Zeichen realökonomischer Expansion stehen, sondern im Gegenteil diese Realexpansion nur noch simulieren.
Es gibt mehrere solcher Defizitkreisläufe über den ganzen Globus verstreut; die beiden wichtigsten sind jedoch der europäische und der pazifische Defizitkreislauf. In Europa steht das in den Zeiten der fordistischen Expansion nach dem Zweiten Weltkrieg aufgehäufte Finanzkapital der BRD im Zentrum der Defizitkreisläufe auf allen Ebenen. Zum einen leihen sich die durchwegs in ihren außenwirtschaftlichen Bilanzen der BRD gegenüber defizitären Länder der EU in der BRD das nötige Geldkapital zu Marktzinsen; zum andern fließen über die diversen Ausgleichsfonds der EU (wobei die BRD den Löwenanteil trägt) den maroden Nationalökonomien permanent Sanierungsgelder zu; drittens muß die BRD auch wachsende Massen von Geldkapital großenteils auf Nimmerwiedersehen in die osteuropäischen Länder und vor allem nach Rußland (das mit der unberechenbar gewordenen Atomkeule winkt) pumpen, um den längst fälligen zweiten, diesmal streng marktwirtschaftlichen Zusammenbruch hinauszuzögern; und viertens ist schließlich die Kleinigkeit eines Nettokapitaltransfers zwischen 150 und 200 Milliarden DM jährlich in die Ex-DDR notwendig geworden, um die nach dem ökonomisch »harten« Anschluß klinisch tote ostdeutsche Wirtschaft auf unabsehbare Zeit weiter künstlich zu beatmen.42 Der Finanzüberbau der nach landläufiger Meinung kapitalistisch noch relativ seriösen BRD ist daher nicht nur durch die auch hierzulande längst zum allgemeinen Zustand gewordene kasinokapitalistische Binnenstruktur, sondern auch durch die prominente Einbindung in den Gesamtkomplex der europäischen Defizitkreisläufe bereits viel wackliger, als es oberflächlich den Anschein hat.
Die bei weitem größte ökonomische Frechheit und Maßlosigkeit aber ist wohl im pazifischen Defizitkreislauf zwischen Ostasien und den USA zu sehen. Hier haben wir es mit einer besonders delikaten Verzahnung zu tun. Von Japan und den diversen »kleinen Tigern« aus betrachtet stellt sich das pazifische Defizit-Konstrukt folgendermaßen dar: Zunächst machte die spezifische Verfassung der japanischen Finanzmärkte und ihrer paternalistischen, großenteils informellen Verflechtung mit der Exportindustrie in den 80er Jahren ein finanzielles Kunststück ohnegleichen möglich. Die Japaner finanzierten nämlich die überall sonst bereits nahezu unbezahlbar gewordene durchgehende High-tech-Aufrüstung ihrer Exportindustrie praktisch zum (scheinbaren) Nulltarif, indem sie als einziges hochindustrialisiertes Land den riesigen fiktiven Wertzuwachs der Spekulationsära zu erheblichen Teilen in Realnachfrage nach extrem teuren Investitionsgütern verwandelten; hier hat also die erwähnte unmittelbare Rückkoppelung des »fiktiven Kapitals« auf die reale Produktion tatsächlich stattgefunden, und zwar ohne ebenso unmittelbare inflationäre Wirkung auf die japanische Binnenökonomie, da diese Rückkoppelung in Form einer Exportflut stattfand,43 die vor allem in die USA ging.
Auf prekäre Weise haben sich die »kleinen Tiger« an diese japanische Exportwalze angekoppelt. Allesamt konnten sie natürlich ihre Exportindustrialisierung nicht mit einheimischen Spargeldern finanzieren, sondern nur durch eine zunehmende Verschuldung, und zwar in Japan. Dort wurden und werden sowohl die Gelder für die erforderlichen Investitionen aufgenommen als auch die Investitionsgüter größtenteils eingekauft (teilweise handelt es sich auch direkt um Kapitalexport japanischer und zu einem viel geringeren Teil sogar westlicher Unternehmen). In gewisser Weise kann also von einem innerasiatischen Defizitkreislauf oder einer Art kleiner Münchhausiade gesprochen werden: Japan leiht den »kleinen Tigern« das Geld, damit diese in Japan Investitionsgüter kaufen können. Das geht nur dadurch, daß diese Länder dann ebenso wie Japan auf Teufel komm raus exportieren, und ebenso vor allem in die USA als aufnehmenden Schwamm. Ablesbar ist das letztlich desaströse Konstrukt daran, daß die »kleinen Tiger« hohe Exportüberschüsse gegenüber Europa (die inzwischen aber schon wieder abschmelzen) und den USA, gegenüber Japan jedoch (und größtenteils auch absolut!) allesamt hochgradig defizitäre Handels- und Kapitalbilanzen aufzuweisen haben.
Die kleine innerasiatische Münchhausiade wiederum nährt sich von der großen pazifischen Münchhausiade, die von den USA aus sichtbar wird. Unter dem Druck des unproduktiven Weltmacht-Konsums, der die Größenordnungen in den übrigen fordistischen Industrieländern noch bei weitem übertraf, ging die relative Wirtschaftskraft der USA, die nach dem Zweiten Weltkrieg in allen Bereichen haushoch überlegen gewesen waren, schon seit den 60er Jahren rapide zurück. Die industrielle Basis schmolz noch stärker ab als anderswo, jedoch nicht so sehr in Form eines Rückgangs der industriellen Beschäftigung aufgrund von High-tech-Rationalisierung bei gleichzeitig erweiterter Produktion, sondern als völlige Preisgabe ganzer Produktionssektoren, die durch Importe ersetzt wurden.44 Da jedoch gleichzeitig die Sparquote der äußerst konsumfreudigen US-Bürger immer stärker zurückging und heute eine der niedrigsten in der Welt ist, mußte zusätzlich zur exorbitanten Binnenverschuldung zunehmend auf ausländisches Geldkapital zurückgegriffen werden.45
Die USA waren und sind zu der ökonomisch eigentlich unmöglichen Gleichzeitigkeit von Außenverschuldung durch Aufnahme ausländischen Geldkapitals einerseits und ständig hohen Handelsbilanzdefiziten andererseits nur deswegen in der Lage, weil der Dollar die Funktion eines Weltgelds hatte und (in abgeschwächter Form) teilweise auch heute noch hat. Das bedeutet, daß die USA ihre Außenverschuldung in eigenem Geld begleichen können und nicht erst durch Exportüberschüsse Devisen verdienen müssen, um die Außenschulden verzinsen und tilgen zu können. Im Grunde genommen lassen sie sogar das Ausland einen Teil ihrer Schulden durch die Achterbahnfahrt des Dollar-Wechselkurses bezahlen; ein Verfahren, das allerdings heute ziemlich ausgereizt zu sein scheint und irgendwann zu einer allgemeinen Flucht aus dem Dollar führen muß, was dann wiederum den Dollarsturz und die Krise des Welthandels zur Folge hat. Daß die Entwicklung in diese Richtung geht, hat der Verfall des Dollar und die Krise des Weltwährungssystems in den letzten Jahren bereits deutlich gezeigt.
Durch das Doppeldefizit von Außenverschuldung und negativer Handelsbilanz sind die USA in den letzten 15 Jahren auch zum doppelten weltökonomischen Schwamm geworden: auf der einen Seite saugen sie das ausländische Geldkapital an, auf der anderen Seite bezahlen sie mit diesem geliehenen Geld ihre riesigen Importüberschüsse und saugen fremde Industrieprodukte in Massen an. Dieses phantastische Mißverhältnis konzentriert sich fast vollständig auf die pazifische Region. Das ganze Gerede vom angeblich bevorstehenden »pazifischen Jahrhundert« beruht auf nichts als heißer Luft, d.h. auf dem Defizitkreislauf zwischen Ostasien und den USA. Die Japaner leihen den USA das Geld, um im Handel mit den USA Exportüberschüsse machen zu können, und mit den Exportüberschüssen verdienen sie das Geld, das sie den USA leihen können. Es ist klar, daß dieses paradoxe ökonomische Konstrukt, in das inzwischen ganz Südostasien eingebunden ist, innerhalb weniger Jahre zu Bruch gehen muß.
Die asiatische Exportindustrialisierung auf der Basis von Billiglohn und Raubbau kann also nicht nur wenig zusätzliche globale Wertschöpfung induzieren und gibt nicht nur die binnenökonomischen Staatsindustrien der ehemaligen »nachholenden Modernisierung« dem Untergang preis, sondern darüberhinaus hängen viele Millionen der dadurch geschaffenen Arbeitsplätze am Tropf der US-Außendefizite. Die asiatische Exportindustrialisierung ist somit nicht nur vom absoluten Volumen her zu klein, um die fordistische Expansion noch einmal wiederholen zu können, sondern sie war von vornherein durch und durch unseriös nach den Kriterien des Kapitalismus selbst. Es handelt sich überhaupt nur um eine durch den pazifischen Mammut-Defizitkreislauf simulierte fordistische Expansion, die den westlichen Entwicklungsweg nicht wiederholen kann, sondern auf ein abruptes Ende zusteuert.

 

9. Auf dem Weg zum Entwertungsschock

Im Sinne der eigentlichen reellen Mehrwertschöpfung und des damit verbundenen Wachstumszwangs hat das Herz des Weltkapitals bereits zu schlagen aufgehört. Seit mindestens einer Dekade wird der kapitalistische Akkumulationsprozeß nur noch monetär simuliert und das Kapital hängt somit an der Herz-Lungenmaschine fiktiver Wertschöpfungsprozesse, sowohl binnenökonomisch über die Staatsverschuldung und die kasinokapitalistische Struktur als auch weltökonomisch über die Erweiterung des Kasinokapitalismus auf unkontrollierte internationale Finanzmärkte und über die großen internationalen Defizitkreisläufe. Logischerweise muß irgendwann die kapitalistische Reproduktion durch eine gewaltsame Kontraktion der entkoppelten Geldmengen auf ihre reale Basis zurückgeführt werden; d.h. es ist dann festzustellen, daß es sich eigentlich bereits um eine Leiche handelt. Mit anderen Worten: die fiktive, ohne kapitalproduktive Grundlage geschöpfte Liquidität wird so oder so, früher oder später entwertet.
Es muß dahingestellt bleiben, wie dieser Entwertungsprozeß im einzelnen ablaufen wird; ob er zeitlich versetzt auf den verschiedenen Ebenen getrennt vor sich geht oder alle Ebenen gleichzeitig erfaßt, ob er in längeren Intervallen verläuft oder als großer globaler Entwertungsknall in Erscheinung tritt, sozusagen als monetäre Atombombenexplosion. Die kritische Masse dafür ist längst aufgehäuft, und die Initialzündung kann jederzeit durch krisenhafte Ereignisse sowohl im ökonomischen als auch im politischen Bereich erfolgen. Ein verdächtiger Kandidat ist zweifellos der pazifische Defizitkreislauf, und ein neuralgischer Punkt ist der japanische Finanzmarkt.46 Denn die Tatsache, daß Japan als einziges Land in den 80er Jahren die riesige spekulative Blase für ebenso riesige Real-Investitionen angezapft hat, mußte der kasinokapitalistischen Struktur in Japan auch eine besondere Verlaufsform geben.
Während der große Börsencrash von 1987 und der Absturz der Immobilienspekulation Ende der 80er Jahre in den USA und in Europa nur als Delle in der ungebremst weiterlaufenden kasinokapitalistischen Akkumulation fiktiver Werte erschien, die durch neue Liquidität geheizt wurde, stand Japan unmittelbar vor der großen Finanzkatastrophe. Denn im Westen ist die Vermittlung der spekulativen fiktiven Werte mit der Realökonomie größtenteils eine indirekte geblieben, und die gewaltigen Buchverluste konnten nach einer kritischen Übergangszeit durch neue Höhenflüge des spekulativen Prozesses wieder ausgeglichen und sogar durch abermalige fiktive Wertsteigerungen überholt werden (der New Yorker Dow-Jones-Index, das Barometer der Wall Street, ist seitdem um mehr als das Doppelte gestiegen). In Japan dagegen waren die fiktiven Werte ja zu großen Teilen real investiert worden, sodaß der Crash eine nicht wieder zu schließende Lücke riß. Die Blase mußte platzen, und die japanischen Aktien- und Immobilienpreise haben sich bis heute nicht mehr erholen können (der Nikkei-Index, das Börsenbarometer von Tokio, ist seitdem um mehr als die Hälfte gefallen).
Und warum ist die offene Finanzkatastrophe in Japan vorerst trotzdem ausgeblieben? Die Antwort ist wiederum in der spezifischen paternalistischen Struktur der japanischen Ökonomie mit ihren archaischen Zügen zu suchen. Der informelle Verbund von Regierung, Banken und Konzernen brachte es fertig, eine nationale Auffanggesellschaft zu gründen, in der die faulen Kredite gesammelt und damit die eigentlich fälligen Großbankrotte vermieden wurden. So etwas wäre in keinem westlichen Land möglich gewesen. Aber natürlich sind auch die Japaner nicht clever genug, die Gesetze des Geldes sozusagen durch paternalistische Bauernschläue zu überlisten. Die Masse der faulen Kredite kann durch keinen Trick aus der Welt geschafft werden, und sie wächst durch den Verzinsungszwang weiter an, obwohl die Nippon-AG verzweifelt versucht, sie durch tröpfchenweise Abschreibungen (die das Bankensystem verkraften kann) zu vermindern. Gelegentlich läßt man einen mittelgroßen Partner über die Klinge springen, um ein wenig Luft zu schaffen; so mußte die Tokioter Kreditgenossenschaft Cosmos Credit Corp., eine der größten japanischen Genossenschaftsbanken, Anfang August 1995 unter Treuhandverwaltung gestellt werden und die Sparer stürmten in dramatischen Szenen die Bank, um ihr Geld abzuheben.
Nach Angaben des japanischen Finanzministeriums vom Sommer 1995 beträgt das Volumen der faulen Kredite etwa 650 Milliarden Dollar. Berücksichtigt man den finanzdiplomatischen Sprachgebrauch, dann ist daraus zweierlei zu schließen: erstens, daß die wirkliche Masse noch wesentlich größer sein muß; und zweitens, daß ein Dammbruch drohen könnte, der mit diskretem Lächeln höflich angekündigt wird. Die Sogwirkung der dann fälligen Flut von Bankrotten wäre groß genug, um das Defizitgebirge der USA mitzureißen und den pazifischen Defizitkreislauf zu ersticken. Denn schon jetzt wird Japan in die Zange genommen durch den Zwang, die Kosten für die Eindämmung des Sumpfs von inländischen faulen Krediten aufzubringen und dennoch gleichzeitig ungebremst weiter US-Schuldscheine zu kaufen, um die Export-Einbahnstraße über den Pazifik nicht zu gefährden. Exportüberschüsse in solcher Größenordnung sind jedoch nicht ewig durchzuhalten; der unaufhaltsam steigende Wechselkurs des Yen gegenüber dem Dollar zeigt die gesetzmäßige Korrektur an und die japanischen Exporte sind bereits zurückgegangen. Irgendwann in naher Zukunft werden alle Stricke reißen, und hinter dem ständig schwelenden Handelsstreit zwischen den defizitär aneinandergeketteten USA und Japan steht in Wirklichkeit die Frage, wer den Löwenanteil des fälligen pazifischen Entwertungsschocks bezahlen soll.
Ein solcher Schock kann gar nicht mehr weltregional begrenzt werden; er wäre das Signal für den Entwertungsprozeß nicht nur der kasinokapitalistischen Gesamtstruktur, sondern wahrscheinlich auch des lange herangereiften »fiktiven Kapitals« in Form der Staatskredite, in denen abstrakte Arbeit bis in die ferne Zukunft hinein verpfändet wurde. Eine solche globale Kontraktion würde nichts anderes bedeuten als die Annullierung allen Geldes und aller Geldformen, die nicht ursprünglich dem reellen Prozeß G-W-G' entstammen, sondern dem fiktiven Wertschöpfungsprozeß G-G'. Diese Annullierung kann entweder die Form der Inflation oder die Form der Deflation annehmen (vielleicht auch einer Mischung beider Formen).
Um diese Logik zu verstehen, ist es nötig, von den bloß äußeren Erscheinungsformen einer starken Preissteigerung oder eines starken Preisverfalls (wie Inflation und Deflation gewöhnlich gekennzeichnet werden) zu abstrahieren. Es handelt sich ja in Wirklichkeit nicht um eine Bewegung der Warenpreise aufgrund der immanenten Entwicklung der Gütermärkte selbst, die bekanntlich äußerlich durch die Bewegung von Angebot und Nachfrage reguliert wird, sondern um eine Eigenentwicklung auf der Ebene des Mediums Geld, nämlich um seine Entwertung. Als Entwertung des Geldes sind Inflation und Deflation identisch; sie unterscheiden sich lediglich durch die Art und Weise, wie diese Entwertung sich vollzieht. Im Falle der Inflation bleibt das Geld formal im Umlauf; seine Entwertung erscheint dann als sprunghafte, von Angebot und Nachfrage völlig unabhängige Steigerung der Warenpreise bis in astronomische Größenordnungen. Im Falle der Deflation dagegen werden große Geldmassen bzw. bestimmte Geldformen als solche annulliert und ganz aus dem Umlauf gezogen; die Entwertung erscheint dann als schlagartige Verminderung der gesellschaftlichen Kaufkraft bzw. Bonität, was wiederum als allgemeiner Preisverfall in Erscheinung treten kann (aber nicht zwangsläufig immer muß).
Ist die Dimension des Entwertungsprozesses groß genug, dann ist es durchaus denkbar, daß auf verschiedenen Ebenen Inflation und Deflation gleichzeitig auftreten: etwa als Inflation der Konsum- und Investitionsgüterpreise, während gleichzeitig Bankguthaben, Staatsschuldscheine, Aktien und Immobilienpreise verfallen. Eine solche Kombination beider Entwertungsformen des Geldes ist dann möglich, wenn die Spekulation zusammenbricht und der Staat sich gewaltsam bei seinen bisherigen Gläubigern entschuldet, gleichzeitig jedoch die Regierung die Notenpresse anwirft, um den Massenkonsum nicht völlig zum Stillstand zu bringen und Aufstände zu vermeiden (Konturen einer solchen Konstellation wurden z.B. in Jugoslawien bzw. Serbien/Montenegro sichtbar).
Wie auch immer die globale Entwertung des Geldes sich im einzelnen vollstrecken mag, die als hyperinflationärer Zyklus im größeren Teil der Welt bereits abläuft: sie signalisiert das historische Ende der auf dem Geld beruhenden Produktionsweise. Es ist nämlich eine Illusion, daß nach dem großen Entwertungsschock und/oder Entwertungszyklus des globalen Geldes das alte kapitalistische Spiel auf einem dann »bereinigten« Terrain wieder von vorne beginnen könnte.47 Denn im Unterschied zur Vergangenheit ist diese Entwertung jetzt keine bloße Unterbrechung im Aufstiegsprozeß der industriekapitalistischen abstrakten Arbeit mehr, sondern markiert einen irreversiblen Strukturzustand der Verwissenschaftlichung im »Stoffwechselprozeß mit der Natur«: der rapide Abbau industriekapitalistischer Wertschöpfung durch mikroelektronisch vermittelte Rationalisierung und Globalisierung einerseits, die ebenso rapide Ausdehnung der kapitalistisch unproduktiven Arbeit (die vom Systemstandpunkt aus lediglich Konsum für die Rahmenbedingungen vermittelt) andererseits stellen ein Stadium dar, in dem der Kapitalismus seinen eigenen Kriterien grundsätzlich nicht mehr gehorchen kann. Sein logischer Selbstwiderspruch ist in ein historisches Reifestadium eingetreten.
Unter diesen neuen Bedingungen bereiten Entwertungsprozesse des Kapitals nicht mehr den Boden für einen neuen Akkumulationsschub, wie es noch in der Theorie von Joseph Schumpeter erscheint. Denn die Entwertung von »alten« Kapitalformen hilft nur dann neuen Kapitalformen auf die Beine, wenn diese auch neue Vernutzungspotentiale abstrakter Arbeit auf der Höhe des erreichten Produktivitätsstandards erschließen; das war einzig und allein bei der fordistischen Expansion der Fall. Ist dieses Erschließungspotential jedoch nicht mehr gegeben, weil der Produktivitätslevel zu hoch und die Rationalisierung schneller als die Erweiterung der Märkte geworden ist, dann nützt die bloße Entwertung von Geld, Maschinen und Gebäuden überhaupt nichts. Keine Entwertung führt zu einem früheren, tieferen Stand der Verwissenschaftlichung zurück, denn der Produktivitätsstandard ist letzten Endes im Wissen der Gesellschaft und in den Köpfen der Menschen gespeichert, und nicht in der dinglichen Entäußerung von Geräten, Maschinenaggregaten usw. Eine bloße Entwertung oder kriegerische Zerstörung dieser Aggregate würde für sich genommen keine neue Ausgangsbasis schaffen für einen säkularen Akkumulationsschub.
Die primitive Vorstellung, daß das Kapital sich von Zeit zu Zeit gewissermaßen selbst verbrennt, um dann wie Phönix aus der Asche wieder aufzuerstehen und so von ewiger Selbstzerstörung zu ewiger Selbsterneuerung eilt, gehört in den Bereich des mythologischen, nicht aber des historischen und des analytischen Denkens. Eine Entwertung als solche, ohne nachfolgende neue Potentiale relativ arbeitsintensiver, erweiterter reeller Wertproduktion (die nicht einfach Güterproduktion als solche, sondern eben Vernutzung abstrakter Arbeitsquanta ist), bleibt bloße Entwertung; eine Wiederaufnahme der kapitalistischen Reproduktion auf der vermeintlichen neuen Ausgangsbasis würde also sehr schnell die Krise und den Zusammenbruch reproduzieren. An den Zyklen von Hyperinflation und periodischem Zusammenbruch der Finanzsysteme ist dieser Sachverhalt in vielen Weltregionen bereits praktisch zu erkennen.
Der alte Marxismus, der seine sämtlichen Kritik- und Emanzipationsvorstellungen an die immanenten Formen der kapitalistischen Reproduktion (geldförmiger Verteilungskampf, Regulation oder »Planung« in der Warenform usw.) gebunden und die halbverdaute Marxsche Krisentheorie diesen immanenten Bedürfnissen entsprechend verkürzt hatte, kann auf die neue Krisenentwicklung ebensowenig mehr eine Antwort geben wie die längst haltlos gewordene bürgerliche VWL-Theorie. Die Krise der Warenproduktion als jener absurde Selbstzweck, wie er im Fetischcharakter einer »auf dem Wert beruhenden Produktionsweise« (Marx) logisch enthalten ist, kann auf ihrem eigenen Boden nicht mehr bewältigt werden.
Der Entwertungsschock des Geldes ist aber nicht nur ein Entwertungsschock des bisherigen wissenschaftlichen (warenförmigen) Denkens, sondern ein Entwertungsschock des gesellschaftlichen Bewußtseins überhaupt. Am definitiven Ende eines paranoiden Entwicklungsschubs von mehr als 200 Jahren in der irrationalen Wertform steht eine entscheidende Bewährungsprobe der menschlichen Gesellschaft: die Frage nämlich, ob sie, ohne vollends wahnsinnig zu werden, über die historisch eingebrannten Fetisch-Muster der Ware-Geld-Beziehungen hinauskommen kann, oder ob sie auf ein »barbarisches« Niveau zurückfällt. In ihrer heutigen Form kann sie jedenfalls nicht mehr bleiben.


1 Vermittler des Geldes als Ware in diesem Sinne sind die Banken, die sich den Zins mit den Einlegern - teilen wäre zuviel gesagt, denn zumindest die privaten (nicht institutionellen) Einleger, vor allem die sogenannten »kleinen Sparer« als Hauptidioten des Geldes, werden gewöhnlich mit Bröseln abgespeist; eine ständige Quelle des spießbürgerlichen Ressentiments der »kleinen« Geldmenschen und verkniffenen Arbeitstiere. Die Macht des Bankensystems ist seine konzentrierte Vermittlungsmacht über das Geld als Ware, daher der Spruch: »die Bank gewinnt immer«.

2 Dieser absurde Ausdruck ist zumindest im Deutschen wohl erst in den 80er Jahren entstanden, als das unter spekulativem Anlagedruck stehende internationale Geldkapital die Banken und sonstigen Finanzdienstleister dazu bewog, immer neue derivative Formen der Geldbewegung zu erfinden, die analog zu industriellen Prozessen als finanzielle »Produktinnovationen« einer »Finanzproduktion« bezeichnet werden.

3 Daß die krisentheoretischen Implikationen dieses Begriffs aus dem 3. Band des »Kapital« in der marxistischen Debatte kaum behandelt und sogar nicht gern gesehen werden, verweist darauf, wie sehr die herkömmlichen Marxismen sich selber noch an eine vermeintlich handfeste kapitalistische »Seriosität« klammern; eine Haltung, die sicherlich untergründig mit der Vergottung der abstrakten Arbeit vermittelt ist. In einem jüngeren Beitrag läßt auch der »Prokla«-Autor Kurt Hübner durchblicken, daß er das Problem des »fiktiven Kapitals« lieber unter dem Titel »elastizitätssteigernde Geld- und Kreditformen« laufen läßt als so etwas Unseriöses wie eine »Fiktivisierung der globalen Akkumulation« ernsthaft in Erwägung zu ziehen (Kurt Hübner, Für die Eröffnung der Debatte, in: Konkret 7/95).

4 Der einzelne private oder institutionelle Geldbesitzer merkt davon bei einem entwickelten Bankensystem normalerweise nichts, weil der Schaden von den Sicherungsfonds der Banken abgedeckt wird. Erst wenn eine größere gesellschaftliche Dimension in der Nichtübereinstimmung von Arbeit und Geld erreicht ist, schlägt die Krise von der Warenproduktion auf das Finanzsystem als solches durch, was dann mit einer Krise des Bankensystems identisch ist.

5 Ein Aspekt dabei ist, daß die Finanzmärkte dem gewöhnlichen Marktgesetz von Angebot und Nachfrage unterliegen: die Verzinsung von Krediten durch neue Kredite erhöht die Nachfrage nach Geldkapital, was wiederum den Zins als Preis des Geldes nach oben drückt. Das muß bei einer genügend großen Dimension dieses Prozesses zu einer Verknappung des Geldkapitals führen, die trotz aller trickreichen Liquiditätszufuhr letzten Endes an eine unüberwindliche Schranke führt.

6 Bei fast allen Großunternehmen, die sich überall in Aktienkapital verwandelt haben, ist nicht nur das »fungierende« betriebswirtschaftliche Management von den bloßen Besitzern der juristischen Eigentumstitel getrennt, die kaum noch Einfluß auf die realen Unternehmensentscheidungen haben, sondern auch die »Familien im Hintergrund« (etwa Siemens, Krupp usw.) treten allmählich unter den wechselnden juristischen Eigentümern hinter die Banken zurück und werden zum vor sich hin luxurierenden bedeutungslosen Darmfortsatz der Kapitalgeschichte; auch wenn »Träger des Namens« noch größere Aktienpakete halten. Denselben Gang, nur mit noch größerer Durchlaufgeschwindigkeit, nahm die Geschichte der zweiten Gründerzeit-Patriarchen nach dem 2. Weltkrieg (Grundig, Nixdorf usw.).

7 Um nur einige beliebige Beispiele zu nennen: soweit aus den Bilanzen erkennbar (diese sind sowieso meistens »getürkt« und geschönt), lag im Frühjahr 1995 die Eigenkapitalquote von Daimler-Benz noch bei knapp 55 Prozent, die der Konzerntochter AEG bei 17 Prozent; beim Viag-Konzern betrug sie 20 Prozent, bei der Baiersdorf-AG 35 Prozent, bei Krupp-Hoesch 15 Prozent und bei Klöckner-Humboldt-Deutz ganze 8 Prozent.

8 Wenn das Zinsniveau strukturell immer wieder trotz aller Gegenmaßnahmen nach oben gedrückt wird (ein Vorgang, der allerdings noch zusätzlich durch die Weltmarktvermittlung gefiltert wird, sodaß es in einzelnen Ländern zeitweilig zu ganz gegenläufigen Entwicklungen kommen kann), verteuern sich nicht nur die Vorauskosten rentabler Realproduktion, sondern diese muß auch noch hinsichtlich ihrer Gewinnträchtigkeit mit den Erträgen von bloßen Finanzanlagen konkurrieren.

9 Soweit rekonstruierbar, existiert auf frühen Entwicklungsstufen und in vielen Kulturen überhaupt kein abstrakter Arbeitsbegriff, sondern es gibt nur verschiedene konkrete, kontextgebundene Tätigkeitsbegriffe. In den agrarischen Hochkulturen entstand zwar ein abstrakter Arbeitsbegriff, aber keineswegs (wie Marx anzunehmen scheint) als logischer Oberbegriff gesellschaftlicher Tätigkeit, als (angeblich) »vernünftige Abstraktion« des Denkens, sondern vielmehr als Bezeichnung für die Tätigkeit der Sklaven bzw. Unmündigen (»das, was der sozial Abhängige, nicht Satisfaktionsfähige tut«); es handelt sich also um eine (negative, pejorative) soziale Abstraktion, keineswegs um eine logische Abstraktion wie »Haus«, »Baum«, »Obst« usw. Erst im modernen warenproduzierenden System und an dieses logisch wie realhistorisch gebunden entstand die abstrakte Fetischkategorie der Arbeit als Begriff gesellschaftlicher Allgemeinheit der (warenförmigen) Tätigkeit.

10 Nicht einmal diese erst oberflächliche, definitorische Bestimmung der »produktiven Arbeit«, die noch keine analytische Eingrenzung erlaubt, wird von Ökonomen marxistischer Provenienz immer eingehalten. So behauptet der erwähnte Autor Kurt Hübner hinsichtlich der Hedging-Operationen zur Absicherung von Wechselkursrisiken in Export-Unternehmen: »Diese konkreten Tätigkeiten, wiewohl nicht selbst mehrwertschaffend, sind durchaus im Sinne des Marxschen produktiven Distributionsarbeiters als integraler Bestandteil des mehrwertheckenden Arbeitsprozesses zu verstehen, also produktive Arbeiten« (Hübner, a.a.O.). Diese Bestimmung ist völlig unsinnig, weil dann schlichtweg alle Arbeiten produktive Arbeiten wären, insofern der Kapitalismus keine Arbeit verschwendet und nur solche Tätigkeiten in seinem Bereich stattfinden, die für die Reproduktion des Kapitals »notwendig« sind. Diese Notwendigkeit kann jedoch auch in einem äußerlichen, technisch-organisatorischen und daher bloß formalen Sinne bestehen, ohne substantiell mehrwertschöpfend und insofern kapitalproduktiv zu sein (etwa hinsichtlich der Rahmenbedingungen von Warenproduktion). Logisch sind mehrwertschaffende Tätigkeit und produktive Arbeit identisch, auch wenn es Tätigkeiten gibt, die nur indirekt in die Mehrwertproduktion eingehen (z.B. Gütertransport oder Konstruktion). Der Marxsche »produktive Gesamtarbeiter« macht die Gesamtheit der mehrwertschöpfenden, in die reale Warenproduktion eingehenden Tätigkeiten aus; er ist begrifflich abzugrenzen von allen Arbeiten oder Teilarbeiten (ein Arbeiter kann auch teilweise produktive, teilweise unproduktive Arbeit verrichten), die überhaupt nicht (also auch nicht indirekt) in die mehrwertschöpfende Warenproduktion eingehen. Indem Hübner den Begriff der mehrwertschaffenden und den Begriff der produktiven Arbeit auseinanderreißt, macht er die ganze Unterscheidung von produktiver und unproduktiver Arbeit grundsätzlich hinfällig, weil es dann keinerlei Unterscheidungskriterium mehr gibt. Das ist freilich die billigste Lösung des Problems, die sich übrigens nahtlos deckt mit dem »Wertschöpfungs«-Begriff der VWL, der die strittige begriffliche Unterscheidung ebenfalls nicht kennt.

11 Diese Debatte beschränkte sich entweder auf die Abgrenzung eines normativen industriellen Produktivismus von der sozialpolitischen »Unzuverlässigkeit« der noch halbfeudalen Dienstleistungsarbeiter (Diener und »Gesinde«, Dienstmädchen usw.), die überdies als zahlenmäßig abnehmend nicht ins Gewicht fielen (so noch bei Karl Kautsky); oder die sich anbahnende neue Tertiarisierung auf dem Boden der kapitalistischen Entwicklung selbst (z.T. als »neue Mittelklassen« abgehandelt) wurde nur unter soziologischen, strategischen und »bündnispolitischen« Gesichtspunkten der »eigentlichen« industriellen Arbeiterbewegung erörtert. Die Konsequenzen für die kapitalistische Reproduktion und damit der krisentheoretische Gehalt des Problems blieben dagegen systematisch unterbelichtet.

12 Was betriebswirtschaftlich als Kostensenkung erscheint, geht hier ebenso wie bei anderen Formen der Rationalisierung durchwegs zu Lasten der ArbeiterInnen, denn die Dienstleistungs-Arbeit wird in den spezialisierten Klitschen verdichtet, während der Lohn meistens niedriger ist als in den früheren innerbetrieblichen Abteilungen (z.T. durch die veränderten tarifvertraglichen Verhältnisse außerhalb der gewerkschaftlich gut organisierten Industriesektoren bedingt). Auch die prekäre, erzwungene Scheinselbständigkeit in Form ausgelagerter Fuhrparks (System des Subunternehmertums bei Transport-Dienstleistungen) gehört zu den Teufeleien dieser Sorte von Tertiarisierung. In aller Regel handelt es sich bei diesen ausgelagerten, verselbständigten Dienstleistungs-Unternehmen um üble Seelenverkäufer-Klitschen mit brutalisierten Arbeitsbedingungen, die sich in den Händen von Aufsteigerfiguren mit Yuppie-Physiognomie befinden; ein typisches Produkt des Neoliberalismus.

13 Über weite Strecken handelt Marx das Problem in dieser Weise ab, so in den »Theorien über den Mehrwert« und in den »Resultaten des unmittelbaren Produktionsprozesses«, wobei allerdings nicht ganz klar ist, ob er dabei nur referiert bzw. virtuell den immanenten Gesichtspunkt der einzelkapitalistischen Logik einnimmt, oder ob er hier tatsächlich eine substantielle Veränderung zu erkennen glaubt. Jedenfalls ist klar, daß Marx nicht durchgehend in dieser Weise argumentiert, sondern auch den Begriff einer absolut (»an sich«) und daher in jedem Fall unproduktiven Arbeit kennt, den er vor allem an den rein kommerziellen und auf die bloße Geldtransaktion bezogenen Sektoren festmacht.

14 Der kreislauftheoretische Aspekt dieser Argumentation ist schon vor mehr als sechs Jahren in der Nr. 6 unserer Zeitschrift von Ernst Lohoff in seinem Aufsatz »Staatskonsum und Staatsbankrott« herausgearbeitet worden, allerdings der damaligen Themenstellung einer Auseinandersetzung mit dem Keynesianismus entsprechend auf die Staatstätigkeit im engeren Sinne beschränkt. Außerdem fallen dort die kreislauftheoretische Bestimmung und der Begriff der produktiven Arbeit noch auseinander, sodaß die Brisanz des Arguments vielleicht überlesen werden konnte; so heißt es in dem damaligen Aufsatz: »Alle Produkte, die...unproduktiv verausgabt werden, also nicht in den nächsten Produktionszyklen als Bestandteile eines Kapitals wiedererscheinen, verwandeln sich für das gesellschaftliche Gesamtkapital zu faux frais, auch wenn die in ihrer Erzeugung vernutzte Arbeit eindeutig als produktive, wertschaffende Arbeit zu klassifizieren ist« (Ernst Lohoff, Staatskonsum und Staatsbankrott, in: MK 6/89, S. 78). Hier wird erstens noch mit einem abstrakten, »definitorischen« Begriff der produktiven Arbeit operiert, der unabhängig von der kreislauftheoretischen Argumentation erscheint, sodaß paradoxerweise eine »eindeutig« produktive, wertschaffende Arbeit (implizit auf der Ebene des Einzelkapitals angesiedelt) dennoch gesamtkapitalistisch plötzlich als »faux frais« firmiert und »unproduktiv verausgabt« wird. »Produktive Arbeit« und »unproduktive Verausgabung« fallen begrifflich auseinander. Zweitens ist die »produktive Verausgabung« lediglich daran gebunden, daß die Produkte in den nächsten Produktionszyklen überhaupt als Bestandteile »eines Kapitals« erscheinen, d.h. nicht als Staatskonsum. Dabei ist noch nicht berücksichtigt, daß auch »ein Kapital« (d.h. ein kommerzielles Einzelkapital) an sich ebenso unproduktiv sein kann wie der Staatskonsum. Beide Unstimmigkeiten verschwinden jedoch, wenn - wie oben dargestellt - der Begriff der produktiven, wertschaffenden Arbeit selber und als solcher rein kreislauftheoretisch hergeleitet und das Problem auf einer höheren Abstraktionsebene dargestellt wird, als sie in der bloßen Differenzierung von privatkapitalistischer Produktion und Staatskonsum zum Ausdruck kommt. Wenn der Begriff der produktiven Arbeit rein kreislauftheoretisch an den Prozeß der »produktiven Konsumtion« gebunden ist, werden alle Tätigkeiten und Produkte, die darin nicht aufgehen, automatisch zum unproduktiven gesellschaftlichen Konsum, egal ob der äußeren Form nach staatlich oder privatkapitalistisch vermittelt. Erst auf diese Weise wird eine quer zu den Reproduktionssektoren verlaufende Bestimmung der produktiven/unproduktiven Arbeit gewonnen, in der auch der verborgene unproduktive Charakter jenes Teils der »materiellen«, industriellen Produktion dechiffriert werden kann, dessen Produkte unproduktiv konsumiert werden.

15 Die strukturelle Krise als absolute Schranke des Kapitals spitzt sich daher zunächst auch nicht auf der Ebene der Warenmärkte, sondern auf der Ebene der Finanzmärkte zu. Rosa Luxemburg hat aber das Problem des Kredits und der wachsenden Bedeutung des zinstragenden Kapitals ebensowenig systematisch in ihre Krisentheorie aufgenommen wie das damit ursächlich zusammenhängende Problem der (damals erst undeutlich sich abzeichnenden) »tertiären Revolution«. Beides wäre wohl auch für sie sozusagen anrüchig gewesen, weil sie natürlich ebenso wie ihre Kontrahenten ideologisch den »Standpunkt des Industrieproletariats« einnehmen mußte. Daß der Kapitalismus nicht an der Ausdehnung, sondern an der Verminderung des Industrieproletariats und der gleichzeitigen Expansion des tertiären Sektors sowie des »fiktiven Kapitals« scheitert, war für sie undenkbar. So kommt es in ihrer Krisentheorie zur seitenverkehrten Betrachtung einer dennoch richtigen Problemstellung; nur besteht die Krise eben nicht darin, daß die einen »dritten Personen« (die Überreste vorkapitalistischer Produktionsweisen) verschwinden, sondern daß die anderen, neuen »dritten Personen« (aus dem Prozeß der Tertiarisierung) strukturell zu viele werden. Die Kontrahenten suchten Rosa Luxemburg übrigens durchwegs mit Argumenten zu widerlegen, die allesamt eine Expansion des Industriekapitals auf lange Sicht voraussetzten.

16 Wir haben es hier mit einem Problem zu tun, das Marx als das »moralische Moment« an den Reproduktionskosten der Lohnarbeiter bezeichnet hat. Denn die menschliche Arbeitskraft ist eben doch nicht eine Ware wie jede andere, nicht nur ihrer produktiven Wertschöpfungspotenz wegen (die eine Waschmaschine ebensowenig besitzt wie ein Drillbohrer, weil es sich bei Maschinen eben um Dinge und nicht um Wesen mit gesellschaftlichen Beziehungen handelt), sondern auch deswegen, weil sich die »Herstellungskosten« bzw. Reproduktionskosten der Ware Arbeitskraft nicht in derselben Weise objektivieren lassen wie bei Waren, die tote Dinge sind. Selbst in ganz primitiven Gesellschaften gehen die Reproduktionskosten eines Menschen nicht in der puren physischen Überlebensfähigkeit auf, umso weniger in der entwickelten modernen Gesellschaft. Was nun an notwendiger Bedürfnisbefriedigung in die Reproduktion der Arbeitskraft eingeht, ist also historischen Veränderungen unterworfen. Dennoch handelt es sich dabei nicht bloß um eine »moralische« Bewertung im engeren Sinne, obwohl sogar diese in gewisser Weise möglich wäre. So fällt das Niveau der Bedürfnisbefriedigung inzwischen selbst in den westlichen Industrieländern innerhalb der Gesamtarbeitskraft extrem auseinander; Verarmungsprozessen durch ein Herunterdrücken der Löhne unter das Reproduktionsniveau selbst bei elementaren Bedürfnissen steht ein zunehmend destruktiver Fetischkonsum bei anderen Arbeitskraft-Segmenten gegenüber (irrationaler Ressourcen- und Landschaftsverbrauch, direkter Zerstörungskonsum usw.). Ökonomisch aber geht es nicht um die qualitative Bewertung des Reproduktionsniveaus, sondern um die Frage, welche Momente der Bedürfnisbefriedigung quantitativ jeweils historisch eingehen und welche nicht. Die Marxsche Theorie auf der Ebene des »Kapitals im allgemeinen« abstrahiert bekanntlich von der Ebene der empirischen Weltmarktvermittlung, die jedoch auch in dieser Hinsicht Verzerrungen hervorbringen kann. Das gilt vor allem dann, wenn bestimmte Momente im Reproduktionsniveau der Gesamtarbeitskraft einer Nationalökonomie darauf beruhen, daß durch die stärkere Weltmarktposition ein überproportionaler Teil des realen Welt-Mehrwerts angeeignet und umverteilt wird. Diese Umverteilung geht als bloßer zusätzlicher Luxuskonsum über die Reproduktionskosten der Arbeitskraft hinaus und ist dann ebenso unproduktiv wie der Staatskonsum, der mit abgeschöpften Wertmengen bezahlt wird. Nur oberflächlich kann dieses Problem an Lenins Theorem der »Arbeiteraristokratie« erinnern, denn bei Lenin geht es tatsächlich in dieser Hinsicht nur um die politisch-moralische Wertung (»Bestechung«), nicht aber um die eigentliche ökonomische Systemebene; nicht im Traum wäre es Lenin eingefallen, diese Frage unter explizit krisentheoretischen Gesichtspunkten im Kontext des Unterschieds von produktiver/unproduktiver Arbeit zu erörtern. Welchen Stellenwert nun der Tourismus bzw. die einschlägige »Industrie« dabei einnimmt, müßte einer speziellen Untersuchung vorbehalten bleiben.

17 Der Staatskredit muß natürlich ebenso verzinst werden wie der kommerzielle Kredit. Die logische Voraussetzung des Kredits ist es jedoch, daß er nur im Falle einer realkapitalistischen Verwendung, d.h. für reale Mehrwertproduktion, seine Zinsen wieder »einspielen« kann. Beim Staatskredit ist das von vornherein nicht der Fall, da er ja durchgehend im Orkus des reinen gesellschaftlichen Konsums verschwindet. Dennoch werden die Zinseinkommen auch des Staatskredits so behandelt, »als ob« es sich dabei um Ergebnisse realer Mehrwertproduktion handeln würde. Marx rechnet daher den Staatskredit ebenso wie die kommerzielle Spekulation mit bloßen Eigentumstiteln und die »faule« Kreditierung von bereits verlorenem Kredit durch neue Meta-Kredite zu den Aggregierungen des »fiktiven Kapitals«.

18 Der Vollständigkeit halber muß noch erwähnt werden, daß auch der private Konsum, und zwar sowohl der produktiven wie der unproduktiven Arbeiter, in Form von Konsumentenkrediten noch einmal kreditär gestreckt wird. Die Arbeiter verpfänden also ihren zukünftigen Lohn ebenso im voraus, wie die Kapitalien ihre zukünftigen Gewinne im voraus verpfänden. Diese zusätzliche Dimension des Kreditsystems vermittelt ein noch höheres Abheben des Geldes von seiner realen Substanz.

19 Wie wenig der dargestellte strukturelle Sachverhalt reflektiert ist, zeigt abermals der »Prokla«-Autor Kurt Hübner, wenn er erklärt, die »Annahme, wonach...mittlerweile 40-60 Prozent der Lohnarbeiter mittel- oder unmittelbar "Staatsbeschäftigte" seien, kann freilich...nicht ernstgenommen werden« (»Konkret«, a.a.O.). Was aber bedeutet es denn, wenn die sogenannte Staatsquote eben 40 bis 60 Prozent des Sozialprodukts beträgt? Doch nichts anderes, als daß der Staat inzwischen nicht nur überall unmittelbar der bei weitem größte »Arbeitgeber« ist, sondern daß ein entsprechender Anteil auch der nicht-staatlichen Beschäftigung indirekt über verschiedene Vermittlungsebenen staatsabhängig sein muß. Natürlich ist nicht die gesamte staatsabhängige Beschäftigung kreditfinanziert, sondern nur ein (zunehmender) Teil; sonst wäre das System schon längst zusammengebrochen. Daß Hübner das Problem nicht sehen will, könnte seiner Zugehörigkeit zu jener »politizistischen« Linken geschuldet sein, die dem »politischen Eingriff« in das unaufgehobene (weil ihrer Meinung nach unaufhebbare) warenproduzierende System Entscheidendes zutraut, sich damit aber eingestanden oder uneingestanden von der Dehnung der staatlichen Finanzierungsfähigkeit und damit von der Tragfähigkeit des Staatskredits abhängig macht.

20 Marx hat dies am Beispiel der indischen Textilproduktion des vergangenen Jahrhunderts gezeigt, die von der englischen industriellen Produktion überrannt wurde; ein Vorgang, der sich bei einer Öffnung der indischen Märkte unter dem Diktat der neoliberalen Reform heute zwischen Indien und dem Westen bzw. Südostasien wiederholen könnte. Dasselbe Prinzip war übrigens die Ursache für den Zusammenbruch der DDR-Industrie nach der ungeschützten Eingliederung in die Wirtschaftszone der BRD. Die inzwischen eingeschlafene Litanei der alten antiimperialistischen Linken vom »ungleichen Tausch« rollte dasselbe Problem nicht mit ökonomischen, sondern mit untauglichen moralischen Kategorien auf; im Grunde handelte es sich dabei immer nur um das ökonomisch absurde Einklagen eines weltgesellschaftlichen Durchschnittsstandards der Produktivität auf der Basis historischer Ungleichzeitigkeit der Produktionsniveaus: eine nicht weniger illusionäre Forderung als die nach dem »Weltstaat«. Dies beweist nur, daß die bisherige Linke selber nur in bürgerlichen Begriffen einer unaufgehobenen Warenproduktion und in phantasmatisch auf die Weltgesellschaft extrapolierten nationalökonomischen Kategorien denken konnte.

21 Streng genommen ist natürlich auch schon die rein administrative Maßnahme der Zollschranken an sich nicht kostenneutral; es müssen ja Beamte dafür beschäftigt werden, es entsteht das Problem der Überwachung, des Schmuggels usw. Schon das moderne Urbild einer solchen Maßnahme im großen Maßstab, Napoleons »Kontinentalsperre« gegen England, ist bekanntlich mit Pauken und Trompeten gescheitert.

22 Es zeugt von einer unglaublichen ökonomischen Naivität, wenn die Reste des politizistischen alten Linksradikalismus in ihrer negativen Anbetung der kapitalistischen Herrlichkeit ohne jede Ahnung des hier dargestellten Problems einfach die Zahlen der Arbeitsplätze in Ländern wie China, Indien usw. hochrechnen. Rainer Trampert und Thomas Ebermann, die Ex-Matadore der grün-linksradikalen »Fundis«, glauben damit gegen die Prognose einer großen Krise »beweisen« zu können, daß dem Kapitalismus keineswegs »die Arbeit ausgeht« und die Mehrwertproduktion global sogar ansteige (Artikelserie in »Konkret« 4-6/95). Diese zusätzlichen Arbeitsplätze sind aber entweder direkt »substanzlos«, d.h. durch Staatskredit simuliert, oder es handelt sich um Arbeitsplätze der Exportindustrialisierung im Zuge der neoliberalen Reform, die aber eine zwangsweise Öffnung zum Weltmarkt implizieren und damit eine riesige Liquidation bis jetzt »geschützter« (simulierter) Arbeitsplätze in den staatlich betriebenen bzw. subventionierten und vom Standpunkt des Weltmarkts aus unrentablen Industrien. Per Saldo könnten auf jeden zusätzlichen Arbeitsplatz der »offenen« Exportindustrialisierung je nach Land der Verlust von 10 oder 100 Arbeitsplätzen in der kreditär simulierten Binnenindustrie (und Landwirtschaft) kommen. Diese Negativbilanz ist bis jetzt noch nirgendwo konsequent ratifiziert, aber der Spagat zwischen Binnensubventionierung und Weltmarktöffnung wird zwangsläufig zur Zerreißprobe; beides gleichzeitig geht nicht. Sowohl hinsichtlich der Arbeitsplätze und Arbeitsmengen als auch hinsichtlich der realen Mehrwertschöpfung im Weltmaßstab handelt es sich letztlich um eine Negativbilanz, die unvermeidlich zum Vorschein kommen muß.

23 In den 70er und 80er Jahren fand hier noch einmal ein Sprung statt, der das Finanzsystem sowohl hinsichtlich der Beschäftigung als auch des Sozialprodukts zu einem der wichtigsten Wachstumsträger machte; ein Indiz für das Obsoletwerden der VWL-Kategorien und die Zuspitzung der strukturellen Krise.

24 Dies gilt sowohl für die Theoriebildung der VWL, soweit von einer solchen gesprochen werden kann, als auch für die marxistische Debatte und ihren inzwischen fast ganz abgestorbenen neulinken Wurmfortsatz. Schon Rosa Luxemburg hatte sich zu versichern beeilt, der Zusammenbruch werde natürlich nie faktisch erreicht werden, weil vorher schon das Proletariat »die Macht übernehmen« müsse; in der Antikritik zu ihren Kritikern stellte sie ihre Krisentheorie sogar ausdrücklich gegen ein Ende des Kapitalismus durch den Fall der Profitrate, was sich »so etwa bis zum Erlöschen der Sonne« hinziehen könne. Die instinktive Ablehnung einer »objektiven« absoluten Krisenschranke führte im Marxismus überhaupt dazu, diese »innere Schranke« nur in einem rein logischen, nicht aber in einem historisch dingfest zu machenden Sinne anzuerkennen. Bei den Nachfahren und Restbeständen des Marxismus verkehrt sich dieses Verhältnis in einer Ironie ohnegleichen dazu, daß in demselben Maße, wie die »innere Schranke« tatsächlich historisch erscheint, sie selbst im logischen Sinne nicht mehr für existent gehalten wird. Stattdessen nimmt die Ex- und Noch-Linke mehr und mehr am Simulationstheater des untergehenden warenproduzierenden Systems auf allen Ebenen teil.

25 Daraus läßt sich natürlich kein staatsökonomischer Vulgärsozialismus ableiten, wie es Wagner zu seiner Zeit noch annehmen konnte, sondern eben nur die Reproduktionsschranke des warenproduzierenden Systems.

26 Dieser Umstand ist dafür mitverantwortlich, daß die sogenannten Leitzinsen (Diskont- und Lombardsatz) der staatlich organisierten Zentralbanken ihre Regulationsfunktion weitgehend verloren haben; denn das Gewicht der Staatsnachfrage auf den Finanzmärkten bleibt von der Leitzinspolitik unberührt. Im Unterschied zu den privaten Nachfragern wird der Staat als »infallibler Schuldner« von der Leitzinspolitik weder hemmend noch stimulierend »geleitet«, sondern von ganz anderen Zwängen und Erwägungen jenseits des privaten monetären Kalküls.

27 Am längsten hielt die Nabelschnur der Goldbindung beim Dollar, die erst 1973 riß und bis dahin über den Dollar als Weltgeld wenigstens noch eine indirekte Verbindung von Wertform und Wertsubstanz der Geldware übriggelassen hatte. Diese allein der ökonomischen Übermacht der USA am Ende des Zweiten Weltkriegs geschuldete Sonderstellung des Dollar hinsichtlich der Goldkonvertibilität konnte aber nur ein Vierteljahrhundert gehalten werden. Vgl. dazu ausführlich den Aufsatz von Ernst Lohoff in dieser Ausgabe, der das Problem auf der Ebene des Weltwährungssystems und seiner Geschichte darstellt.

28 Entscheidend ist freilich, daß ein erheblicher Teil des substanzlosen Geldes in den kapitalistischen Kernländern vorläufig gar nicht als reale Nachfrage in Erscheinung tritt, sondern in Form von Rentenansprüchen an den Staat oder in Form der kommerziellen Spekulation auf den Finanzmärkten geparkt wird und dort weiterwuchert. Genau deswegen ist die Inflation sogar niedriger als in den 70er Jahren, obwohl die Masse des »fiktiven Kapitals« um ein Vielfaches größer geworden ist. Voraussetzung für diese ebenso eigentümliche wie vorübergehende Konstellation bleibt allerdings die Ausblutung der inflationierten Mehrheit der Weltbevölkerung. Sobald aber die Externalisierung der Inflation nicht mehr gelingt und/oder die Schleusen des staatlichen wie des spekulativen Finanzüberbaus im Westen brechen, wird das Geld auch hier auf die eine oder andere Weise entwertet.

29 Das Moment des relativen Mehrwerts erscheint (wie die Wertkategorie überhaupt) nicht unmittelbar auf der Ebene des einzelkapitalistischen Kalküls, sondern als Effekt der blinden Systementwicklung auf der nur theoretisch-analytisch zu rekonstruierenden Ebene des Gesamtkapitals. Die unter dem Diktat der Konkurrenz durch technologische Anwendung von Naturwissenschaft immer weiter gesteigerte Produktivität verbilligt alte und neue Güter so stark, daß sich trotz steigenden Konsums und steigender Löhne der relative Anteil des Mehrwerts an der gesamten Wertschöpfung pro Arbeiter erhöht; d.h. die relativen Reproduktionskosten der Arbeitskraft im Vergleich zu ihrer absoluten Wertschöpfung sinken. Am deutlichsten wird das in Zeiteinheiten: für den Gegenwert eines Eis, eines Anzugs oder eines Fernsehers muß eine Arbeitskraft im langfristigen Vergleich immer weniger Stunden oder Minuten arbeiten, d.h. bei gleichbleibender (oder nur langsam sinkender) Arbeitszeit geht ein relativ wachsender Teil der Arbeitszeit in die Mehrwertproduktion ein, obwohl die stoffliche Masse des Güterkonsums der Arbeitskraft gleichzeitig wächst. Allerdings hat die relative Mehrwertproduktion durch Produktivitätssteigerung eine ökonomisch absurde und ökologisch langfristig katastrophale Kehrseite, nämlich den ebenso stetig beschleunigten Wachstumszwang: da pro Produkt immer weniger Wert und somit Mehrwert enthalten ist, muß die Welt mit einer anschwellenden Flut von Produkten überschwemmt werden. Diese historische Produktschwemme stößt logischerweise nicht nur an Kapazitäts- und Sättigungsgrenzen des Konsums, sondern auch an absolute Naturschranken.

30 Dieser Begriff darf nicht verwechselt werden mit dem des »absoluten Mehrwerts«. Letzterer bezieht sich auf die Expansion der absoluten Wertschöpfung pro Arbeitskraft durch Verlängerung und Verdichtung des Arbeitstages, im Gegensatz zur beschriebenen Erhöhung des relativen Anteils von Mehrwert bei gleichbleibender oder sinkender absoluter Wertschöpfung pro Arbeitskraft. Der Begriff der »absoluten Mehrwertmasse« meint hingegen die Summe des gesellschaftlichen Mehrwerts, die natürlich nicht nur von der Rate pro Arbeitskraft, sondern auch von der Menge der angewendeten Arbeitskräfte abhängt. Das Maß des Werts, zurückgeführt auf die eigentliche Substanz »Arbeitszeit«, bleibt dabei natürlich immer gleich, denn eine Stunde »Verausgabung von Nerv, Muskel, Hirn« ist unter allen Umständen dieselbe.

31 Ein beliebter theoretischer Kalauer in diesem Sinne ist die sogenannte Regulationstheorie, die vor allem in Frankreich und Deutschland zur regelrechten »Schule« hochstilisiert worden ist (u.a. Michel Aglietta, Régulation et crises du capitalisme, Paris 1976; Joachim Hirsch/Roland Roth, Das neue Gesicht des Kapitalismus, Hamburg 1986; Rudolf Hickel, Ein neuer Typ der Akkumulation?, Hamburg 1987). Schon der ursprüngliche Ansatz von Aglietta, obwohl wenigstens überhaupt noch wert- und akkumulationstheoretisch argumentierend, jubelte das spezifische fordistische Akkumulationsregime zur allgemeinen, unhistorisch überhöhten Möglichkeit hoch, durch politische Regulationseingriffe die inneren Grenzen der Akkumulation fast beliebig weit hinauszuschieben. Bei den deutschen Rezipienten ist selbst diese verkürzte akkumulationstheoretische Begründung fast verschwunden und hat der oberflächlichen Spekulation über »Regulationsmodelle« Platz gemacht. Eine kritische Durchdringung der Wertform und ihrer historischen Wandlungsprozesse bleibt in diesen Ansätzen außer Betracht, weil sowohl Wertform als auch weitergehende Kapitalakkumulation bereits blind axiomatisch vorausgesetzt sind. Letztendlich ist die Regulationstheorie schon keine ökonomiekritisch fundierte marxistische Krisentheorie mehr, sondern eher eine politizistische Krisen-Bewältigungstheorie auf dem Boden der bürgerlichen VWL. Ausgehend von einer einzigen historischen Erfahrung, nämlich der fordistischen Expansion nach dem Zweiten Weltkrieg, wird die Fiktion einer Verallgemeinerungsfähigkeit von »Regulation überhaupt« aufgebaut, ganz so, als könne durch ein politisches Regulationsregime ein neues Akkumulationsmodell des Kapitals generiert werden (während es sich real auch im Fall des Fordismus gerade umgekehrt verhalten hat). Die Argumentation klingt durchwegs so, als habe der Kapitalismus bereits hunderte von Akkumulations- und Regulations-"Modellen" hinter sich, und als gelte es nur die Konturen des nächsten festzustellen. In Wirklichkeit war der Fordismus mit seiner keynesianischen Regulation das erste und gleichzeitig das letzte »Modell« einer vollkapitalistischen Reproduktion der Gesellschaft, d.h. eigentlich kein »Modell«, sondern eine einmalige historische Erscheinung. Mit seinem Ende hört die Reproduktionsfähigkeit in der Fetischform des »Werts« überhaupt auf, ein Gedanke, der den linken Politökonomen ebenso wie ihren VWL-Kollegen vielleicht auch deswegen so suspekt ist, weil er die totale Entwertung ihrer spezifischen Qualifikation impliziert.

32 Als besonders begriffslos erweist sich dabei natürlich wieder der alte Linksradikalismus, der allen Ernstes unvermittelt von einem »durch die Automation gestiegene(n) Mehrwert« (Trampert/Ebermann, a.a.O.) spricht und eine geradezu absurde Kausalität postuliert: »Je produktiver die Beschäftigten werden, desto mehr Menschen werden auf absehbare Zeit nicht mehr für die Mehrwertproduktion benötigt« (a.a.O.). Der gesteigerte stoffliche Ausstoß durch höhere Produktivität ist aber keineswegs identisch mit der Produktion von »mehr Wert«. Hier wird der Kapitalbegriff unmittelbar in eins gesetzt mit dem bornierten betriebswirtschaftlichen Standpunkt, von dem aus sich die Sache tatsächlich so darstellt (dessen Repräsentanten aber wenigstens nicht den Ehrgeiz entwickeln, »werttheoretisch« argumentieren zu wollen). Gesamtkapitalistisch gilt jedoch im Gegensatz zu dieser partikularistischen Betrachtungsweise, die sich um die Vermittlungszusammenhänge nicht schert, immer noch, daß permanente »Mehrwertproduktion« auch Ausdehnung und nicht Verminderung des Vernutzungsprozesses abstrakter Arbeit bedeutet. »Durch die Automation« als solche steigt der Mehrwert ebensowenig wie aus einer Beißzange Tomaten wachsen. Im Gegenteil ist es erklärungsbedürftig, wie trotz zunehmender Automation (bzw. wenigstens Mechanisierung und Rationalisierung) in der hochfordistischen Epoche nach dem Zweiten Weltkrieg der Mehrwert dennoch steigen konnte, statt diesen eigentlich in sich widersprüchlichen Zusammenhang einfach vorauszusetzen.

33 Nur in Asien gab es noch einmal einen Schub fordistischer Expansion, freilich im gesamtgesellschaftlichen Sinne beschränkt auf wenige kleine Länder mit relativ geringer Bevölkerungszahl, die »Exportnischen« besetzen konnten (die sogenannten »kleinen Tiger« wie Hongkong, Singapur, Südkorea und Taiwan). Bei den asiatischen Großstaaten beschränkt sich die exportinduzierte fordistische Expansion auf relativ winzige Sektoren, was zu schweren gesellschaftlichen Erschütterungen führen muß (vor allem in China). Insgesamt ist das absolute Volumen der südostasiatischen Mobilisierung viel zu klein, um die reale Welt-Wertschöpfung noch einmal als Lokomotive ziehen zu können. Die Joint Ventures der deutschen Automobilindustrie in China sollen bis zum Jahr 2000 nach Plan gerade mal ganze 60.000 Einheiten im Jahr produzieren; das ist nicht viel mehr als ein Tropfen im Ozean. Was den größeren Teil des asiatischen Investitionsgüter-Imports angeht, so befindet er sich fest in japanischer Hand. Aber auch dieses Volumen ist absolut klein. Bis jetzt reichen die Exporte der asiatischen spätfordistischen Exportoffensive bei weitem nicht aus, auch nur den Erhalt der bestehenden maroden und bis über die Schmerzgrenze belasteten Infrastruktur zu finanzieren. Nach Angaben der Asiatischen Entwicklungsbank wären allein für die Erhaltungsinvestitionen in den nächsten 5 Jahren mehr als 1 Billion Dollar notwendig. Was als südostasiatisches »Wunder« gefeiert wird, ist bis jetzt kaum mehr als der »Basis-Effekt« hoher Wachstumsraten von einem extrem niedrigen Ausgangspunkt. Dieser Effekt wird sich in wenigen Jahren erschöpft haben, und die Expansion der »kleinen Tiger« wird sich an den unerschwinglichen Investitionskosten für die Infrastruktur, die Reparatur der katastrophalen Umweltschäden und die Kosten für die nächste Stufe der Kapitalintensität brechen. Die überwältigende Mehrzahl der Länder in der heutigen Welt kann aber nicht einmal mehr bis an die Schwelle des fordistischen »Basis-Effekts« gelangen.

34 Weltmeister in dieser Hinsicht dürften Rainer Trampert und Thomas Ebermann sein, die einfach aufgeschnappte Zahlen addieren und daraus kurzschlüssig eine vermeintlich ungehemmte Expansion der Mehrwertproduktion herleiten: »In China wuchs die Beschäftigung von 1983 bis 1992 um 28 Prozent, das sind absolut 130 Millionen Lohnarbeiter mehr. In vielen asiatischen Ländern explodierte die Beschäftigung geradezu: in Thailand um 35, in Südkorea um 30, auf den Philippinen um 26, in Singapur und Malaysia um je 23, in Hongkong um 13, in Indien um 26 und in Pakistan um 19 Prozent« (Konkret 3/1995, 36). Abgesehen von der teilweise niedrigen Ausgangsbasis ist aber mit dieser Aufzählung an sich noch gar nichts über die Entwicklung der realen Wertsubstanz gesagt, solange die theoretischen und empirischen Vermittlungen auf der Wertebene nicht geleistet sind. Trampert/Ebermann begeben sich auch hier wieder gar nicht erst auf diese Ebene, sondern begnügen sich mit oberflächlichen soziologischen Daten und einer bestenfalls moralisch interpretierten »Phänomenologie der Ausbeutung«. Daß es aufgrund der kapitalistischen Entwicklung vielen Menschen schlecht geht und miserable Arbeitsverhältnisse herrschen, sagt aber noch nichts über die reale Akkumulationsfähigkeit des Kapitals aus.

35 Hier muß wieder auf die soziologistisch beschränkte Begriffsstutzigkeit des Altmarxismus hingewiesen werden, der werttheoretisch völlig naiv vorrechnet: »Dem Kapitalismus als ganzem wird nicht die Arbeit ausgehen, wenn einer Senkung der Industriearbeit in Deutschland um rund 2 Millionen Stellen 130 Millionen neue Arbeitsplätze in China gegenüberstehen« (Trampert/Ebermann, a.a.O.). Eine solche Argumentation verkennt völlig, daß »Wert« ein relativer historischer Begriff ist und bei ungleichzeitigen Niveaus nicht anhand absoluter Beschäftigungszahlen hochgerechnet werden kann.

36 Vom Standpunkt des betriebswirtschaftlichen Kalküls aus heißt das: pro eingesetztes Kapital kann im säkularen Prozeß immer weniger Profit erzielt werden, was aber zu kompensieren ist durch Erhöhung des Einsatzes und damit auch (absolut gesehen) des Profits. Wenn ein Kapital von 1 Million nur noch 50.000 statt vorher 100.000 Profit bringt, dann wird dieser Rückgang absolut gesehen durch den Einsatz von 2 Millionen kompensiert und durch den Einsatz von 3 Millionen steigt der Profit sogar absolut erheblich an. Voraussetzung dafür ist natürlich, daß die 3 Millionen statt der vorherigen einen sich auch rentabel und marktfähig produktiv anlegen lassen. Vom einzelkapitalistischen Standpunkt aus bedeutet dies, daß die pure Umsatzsteigerung und der Kampf um Marktanteile ein historisch immer mehr zunehmendes Gewicht gewinnen. Denn auch vom betriebswirtschaftlichen Standpunkt aus können nur durch Erweiterung sowohl die fallende Profitrate kompensiert bzw. überkompensiert als auch die steigenden Investitionskosten des Sachkapitals erwirtschaftet werden. Die Rede vom »Gesundschrumpfen« ist insofern nicht nur gesamtgesellschaftlich, sondern auch betriebswirtschaftlich eine Illusion. Beim Unterschreiten einer (sicherlich von Branche zu Branche und von Zyklus zu Zyklus verschiedenen) Mindestgröße wird das vermeintliche »Gesundschrumpfen« sehr schnell in den Exitus übergehen.

37 Vielleicht könnte man den Sachverhalt so formulieren: es handelt sich gewissermaßen um den Unterschied zwischen einem relativ »zu kleinen Gewinn« einerseits und der Absolutheit des schlichten Bankrotts mangels Liquidität und somit Zahlungsfähigkeit andererseits; nur daß sich dieses Problem hier auf die Produktionsweise als solche statt auf die betriebswirtschaftliche Ebene bezieht.

38 Desperate Altmarxisten wie Trampert/Ebermann zitieren wohlweislich nur den zweiten Halbsatz von Marx, daß die Nation »um keinen Heller ärmer« werde durch das »Zerplatzen dieser Seifenblasen«, während sie den Verweis auf die mögliche Rückkoppelung des Finanzkrachs auf die Realakkumulation unterschlagen (Konkret 4/95, 35). Ihr Interesse ist offenkundig: Es soll suggeriert werden, daß das Problem des »fiktiven Kapitals« weder damals noch heute etwas Entscheidendes mit der eigentlichen Kapitalakkumulation zu tun habe und dieser gegenüber eine eher vernachlässigenswerte Größe sei; bloße luftige Begeleiterscheinung machtvoller Real-Ausbeutung, die ungebrochen weiter von Gipfel zu Gipfel stürmt. Die Gründe, warum die beiden Ex-Matadore der »Fundis« unbedingt das Kapital »reich rechnen« wollen und geradezu seine Kraft und Herrlichkeit besingen, können jedenfalls nicht mehr im theoretischen bzw. analytischen Bereich verortet werden. Die krampfhafte Beschwörung der Seriosität globaler Kapitalakkumulation zeigt höchstens, daß das Bewußtsein des Arbeiterbewegungs-Marxismus selber auf diese Seriosität angewiesen ist, um am eigenen Selbstverständnis festhalten zu können.

39 Deswegen ist es auch ziemlich blauäugig, wenn etwa der New Yorker Banker Felix Rohatyn den gutgemeinten Vorschlag macht, das internationalisierte Spekulationskapital irgendwie für die infrastrukturelle Ausrüstung der 3. Welt, der südostasiatischen Wachstumsregionen und des ehemaligen Ostblocks anzuzapfen, um es endlich in produktive Bahnen zu lenken. Rohatyn übersieht völlig, daß es ja gerade die mangelnde Finanzierungsfähigkeit und Ertragskraft bzw. die mangelnde produktive Rentabilität im Weltmaßstab war, die das Geldkapital überhaupt erst dazu gebracht hat, in die spekulative Stratosphäre aufzusteigen. Er verwechselt also Ursache und Wirkung. Außerdem ist es natürlich noch einmal blauäugig, das fiktiv aufgeblähte Geldkapital positiv als solches zu nehmen und wie produktiv erzeugtes behandeln zu wollen. Der Baron Münchhausen hätte seine Freude an solchen Vorschlägen gehabt.

40 Natürlich stellt sich derselbe Sachverhalt unterschiedlich dar, je nachdem, welches Produktivitätsniveau ein Land auf der Ebene der realen Reproduktion noch halten kann, welchen Bonus die jeweilige nationale Währung im internationalen Finanzsystem noch besitzt und welcher Grad der sozialökonomischen Krise bereits erreicht ist. Aber die Finanzmafia in Rußland oder das zwielichtige System von Hinterzimmer-»Banken« in der Ukraine gehören dennoch auf niedrigem Niveau demselben globalen Kasinokapitalismus an, der sich in Japan oder in den USA nur auf höherer Ebene darstellt.

41 Zu unterscheiden ist hier Fremdkapital, das von sich aus zwecks realer Anlage in ein Land fließt (was dann heißt, daß der »Standort« attraktiv ist), und Fremdkapital, das der Staat (bzw. die Unternehmen) sich, der Not gehorchend, im Ausland leihen und mit Zins und Tilgungsleistungen bedienen müssen. Im letzteren Falle ist ein Defizitkreislauf bzw. eine potentielle Schuldenkrise gegeben.

42 Natürlich sind alle diese Defizitkreisläufe niemals langfristig durchzuhalten. Deswegen machen sich die Bundesregierung und die EU-Institutionen auch ständig selbst Mut, indem sie notorisch Erholungen, Aufschwünge usw. melden, die doch bestenfalls nur dem Nachheizen mit unproduktiver Liquiditätsschöpfung zu verdanken sind. Noch idiotischer ist freilich jenes gleichzeitig nationalistische und monetaristische Quengeln, »Deutschland« sei zum »Zahlmeister der Welt« geworden und solle sich endlich auf sein Eigeninteresse besinnen. In Wirklichkeit ist es natürlich einem schon verzweifelten Eigeninteresse geschuldet, daß die europäischen Defizitkreisläufe mit DM gefüttert werden, denn die hochgradig exportlastige BRD-Ökonomie liefert zu mehr als 70 Prozent in die europäischen Nachbarländer und ist somit selber auf Gedeih und Verderb davon abhängig, daß sämtliche europäischen Defizitkreisläufe weitergehen.

43 So gesehen liegt übrigens das orakelnde Räsonnement der westlichen Management-Gurus über die japanischen Erfolge, das diese auf »lean production« und andere »japanische innovative Methoden« zurückgeführt hat, die nachzuahmen wären, voll daneben. Bis Anfang und sogar noch bis Mitte der 80er Jahre hielten sich die Erfolge Japans durchaus in Grenzen und es galt nicht unbedingt als »das« neukapitalistische Wunderland schlechthin. Zum eigentlichen Weltmeister stieg Japan erst im Zuge seiner durch und durch unseriös finanzierten Superinvestitionen aus dem kasinokapitalistischen Scheinboom auf. Hier ist das schmutzige kleine Geheimnis des japanischen Großerfolgs vor allem zu suchen, und weniger in irgendwelchen besonderen technologischen oder organisatorischen Innovationen. Schon allein deswegen ist die »japanische Übermacht« letztendlich eher eine historisch kurzlebige Seifenblase.

44 Als symptomatisch mag es gelten, daß vor kurzem die letzte Fabrik zur Produktion von Farbfernsehern in den USA von einem südkoreanischen Unternehmen aufgekauft worden ist. Dies gilt sicherlich nicht für alle Produktionssegmente, jedoch für ein breites Spektrum von hochwertigen Industrieprodukten, bei denen die USA nicht einmal mehr den eigenen Binnenmarkt halten können; die Konkurrenzfähigkeit wird dagegen umso größer, je mehr die Produkte direkt oder indirekt an den Rüstungssektor gebunden sind, also an den unproduktiven Staatskonsum.

45 Wenn oft das Argument ins Feld geführt wird, die Staatsverschuldung sei in den USA gemessen am Bruttosozialprodukt sogar geringer als in anderen westlichen Ländern, so wird damit nur die Brisanz der Lage heruntergespielt und »vergessen«, daß die Staatsverschuldung der USA im Vergleich zu den übrigen Industrieländern gleich mit drei Negativfaktoren belastet ist: erstens mit der extrem niedrigen Sparquote, zweitens mit der ebenso extrem hohen privaten Verschuldung in den USA (Privathaushalte und Unternehmen), und drittens mit der daraus folgenden Notwendigkeit, daß sich der Staat im Ausland statt bei den eigenen Bürgern verschuldet.

46 Der Auslöser als solcher kann freilich ganz beliebig und irgendein Ereignis irgendwo auf der Welt sein; egal ob es sich um einen finanziellen Zusammenbruch in Lateinamerika, um den Ausbruch eines Bürgerkriegs in Rußland oder China, um spektakuläre Aktivitäten des Fundamentalismus im »moslemischen Krisenbogen«, um eine dramatische Zuspitzung des Balkankriegs oder um eine Naturkatastrophe handelt.

47 Keineswegs überraschend ist es wieder der alte Linksradikalismus, der mit moralisch negativem Vorzeichen diese Illusion des in der totalen Warenform befangenen Denkens voll und ganz teilt; gerade für ihn bleibt es ein Credo, »daß jede Krise des Kapitalismus...zugleich seine Sanierung vorantreibt« und daß es »selbst nach einem Zusammenbruch des kapitalistischen Wertsystems nur eines geben (kann): Kapitalismus, und zwar auferstanden aus Ruinen...« (Trampert/Ebermann, a.a.O.).






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