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Robert Kurz


Robert Kurz

DAS KLEINE LINKE ARSCHLOCH

Ein Beitrag zur Typologie des Fans ohne Führer

(Theodor W. Adorno: Marginalien zu Theorie und Praxis. Aus: Kulturkritik und Gesellschaft II, Gesammelte Schriften Band 10,2, WBG Darmstadt 1998, S. 764)

Was ist heute noch links?", so lautete der Titel eines Sammelbandes von notorisch prominenten Dauerschwadronierern in den 80er Jahren. Die Antworten waren schon damals unüberbietbar öde. Links sein heißt langweilig sein - heute noch einmal eine Nummer gnadenloser. Ein Blick in die linke intellektuelle Landschaft gleicht dem in einen Garten direkt nach der Schneeschmelze: überall trostloser Müll, Pflanzenleichen vom Vorjahr und verwelkte Blätterhaufen. Das Dumme ist nur, dass die Linke, gerade auch die postmoderne, das ganze Jahr über so bleibt. Da blüht nichts mehr. Aus der Zersetzungsgeschichte des Arbeiterbewegungsmarxismus hat sich ein restlinker Typus herausgewühlt, der durch seinen geistigen Anhauch noch die glänzendsten Farben des Denkens und Handelns gewohnheitsmäßig mit einem universellen Grauschleier überzieht.

Dieser traurige Tatbestand ist keineswegs bloß dem Festhalten an den Essentials der traditionellen Arbeitsontologie geschuldet. Vielmehr handelt es sich um ein Syndrom, das dem ewigen Bedürfnis nach Selbstbestätigung, Leichtgängigkeit, schneller Wirksamkeit und unmittelbar "praktischem Nährwert" unter den dafür nicht mehr geeigneten Bedingungen des Krisenkapitalismus im 21. Jahrhundert entspringt. Die Träger dieses Syndroms können durchaus Neues aufgreifen, sogar eine reduktionistische Arbeitskritik, wie sie sowieso schon im bürgerlichen Feuilleton zu geistern beginnt. Aber nur, um das Neue sofort schimmlig zu machen, also in ihren allzu kurzen Verständnishorizont einzugemeinden. Aus dem linken Politikaster wird der linke Antipolitikaster. Was den Antipolitikaster stört wie alle seine Vorgänger, ist vor allem die angebliche Unverständlichkeit oder Abgehobenheit der Theorie. Er will das Neue in vorverdauter Form haben, um es sogleich wieder mühelos ausscheißen zu können. Das nennt er dann Theorie-Praxis-Verhältnis.

Diese Denkweise als Residuum der linken Geschichte eignet einer Figur, die sich vielleicht am treffendsten als kleines linkes Arschloch bezeichnen läßt. Das kleine linke Arschloch hofft immer irgendwie auf den großen Durchbruch, weil es sich kompatibel weiß mit sämtlichen Normalo-Arschlöchern dieser Welt. Kleine linke Arschlöcher gibt es in allen Generationen; hauptsächlich selbsternannte Querdenker in der Dimension von Toilettensprüchen, gelernte Sozialbastler, Alltagsutopisten und Biertischphilosophen. Die älteren kleinen linken Arschlöcher kennen eine Menge Literatur vom Hörensagen; im Laufe der Jahrzehnte haben sie in Kneipengesprächen soviel mitgeschnitten, dass sie gelegentlich statt Skat-Turniere Wettkämpfe im namedropping veranstalten. Zum Rest der Welt verhalten sie sich in diesem Sinne vor allem belehrend. Die jüngeren kleinen linken Arschlöcher sind bereits mit dem Internet aufgewachsen. Sie lesen in der Regel keine Bücher, sondern höchstens die Rezensionen von Büchern. Das reicht ihnen, um mitreden zu können. Und sie schreiben keine Texte, sondern sie laden Textbausteine herunter. Halbgelesenes und Halbverdautes wird in der Beliebigkeit einer unvermittelten Meinungs-Rotzerei vorzugsweise in anonymen Mailing-Listen abgelassen; die sich hier tummelnden virtuellen Hyde-Park-Redner sind an die Stelle der ebenso wichtigtuerischen berufsmäßigen Leserbriefschreiber vergangener Zeiten getreten.

Allen kleinen linken Arschlöchern ist gemeinsam, dass sie jede originäre und kohärente Theoriebildung in gewisser Weise hassen. Gewiß, sie wollen sich davon warenförmig bedienen, aber sie wollen dafür grundsätzlich nichts zahlen, noch nicht einmal eine eigene begriffliche Anstrengung. Ihr Hauptsport besteht darin, die TheoretikerInnen als individuelle ProduzentInnen gehässig zu missachten und als "Theorie-Unternehmer" zu denunzieren, wobei sie ihr eigenes inkontinentes Vor-sich-hin-Räsonieren zum allgemeinen Maßstab der kritischen Reflexion erheben möchten.

Die Kampagnen gegen Copyright und Lizenzierung, ursprünglich im Kampf gegen die Ausbeutung von Wissenschaftlern und Erfindern durch die Konzerne und gegen die Enteignung der peripheren Länder von ihren eigenen Wissens-Ressourcen entstanden, werden von den kleinen linken Arschlöchern in ihr Gegenteil verkehrt und dafür instrumentalisiert, im Raum der Gesellschaftskritik die intellektuelle und publizistische Enteignung der TheorieproduzentInnen durch grundlos selbstgefällige Möchtegerns als "Kommunismusfähigkeit" zu feiern. Texte sollen beliebig in Zusammenhänge gestellt werden, die den Intentionen ihrer Urheber völlig zuwider laufen; ausformulierte Ideen und theoretische Ansätze gelten als freie Objekte des Wilderns, wobei der Wille der ProduzentInnen genussvoll mit Füßen getreten werden darf. Was nichts weiter ist als eine besonders ordinäre Weise bürgerlicher Konkurrenzsubjekte, ihrer Selbstbehauptung und Selbstdarstellung auf Kosten anderer zu frönen, wird als "Keimform" einer Produktionsweise jenseits des Kapitalismus zurechtgelogen.

Unter scheinheiligem Verweis darauf, dass schließlich alle Kulturleistungen letztlich kollektiv seien und alle TheoretikerInnen stets irgendwie auf dem Gedankengut anderer aufbauen würden, propagieren die kleinen linken Arschlöcher das hemmungslose Ausschlachten von Theoriebildungsprozessen ohne jede ausgewiesene Referenz. Konkurrenter Ideenklau als Regression noch unter das Niveau akademischer intellektueller Gemeinheit und selbst schamloses Abschreiben halten sie für normal und geradezu für egalitäre Akte der Emanzipation. Alle Standards des Zitierens, der Quellenangabe, überhaupt der Anerkennung von Autorschaft werden flugs dem kapitalistischen Eigentums- und Verwertungsprinzip zugeschlagen. Kaum hat das kleine linke Arschloch einen Text aus dem Bauch heraus andiskutiert, glaubt es auch schon, dass es ihn im Grunde selber geschrieben hat, wenn es nicht gar schon längst wieder darüber hinaus zu sein wähnt.

Der Egalitarismus des kleinen linken Arschlochs ist derjenige des ebenso unselbständigen wie unzuverlässigen Mitläufers, der sich dennoch eine Selbstherrlichkeit seines eklektischen Hinterherdenkens in die Tasche lügt und das mit eigenständiger Weiterentwicklung gleichsetzt. Die intellektuelle Plünderungsökonomie geriert sich als "kritische Urteilsfähigkeit", um die mit der eigenen Halbbildung und verkürzten Denkweise vermeintlich konform gehenden Elemente aus theoretischen Schriften abzusaugen und die virtuellen Leichen der TheorieproduzentInnen am Straßenrand der wüsten Meinungsmacherei zurückzulassen. Diese Sorte konsumistischer "Aneignung", die gerade nicht durch die begriffliche Vermittlung hindurchgeht, läuft auf die Verwahrlosung der Diskurse hinaus.

Antiautoritär ist das kleine linke Arschloch nur in dem Sinne, dass es den Anspruch auf intellektuelle Redlichkeit und Verbindlichkeit als diktatorische Anmaßung, Dogmatismus, elitäre Bevormundung usw. abqualifiziert, um das kritische Denken seiner eigenen drauflosquatschenden Unverbindlichkeit und Unredlichkeit zu subsumieren. Das kleine linke Arschloch erklärt sich großspurig gegen Führer und Stars, aber es ist doch bloß ein Fan. Die Paradoxie des Fans ohne Führer lebt davon, dass die Kreation von Texten als Gegenständen der Aufmerksamkeit am besten selber die Qualität von Fanpost nicht überschreiten soll, damit Fan und Führer nahezu in eins fallen; ungefähr in der Art einer Big-Brother-Inszenierung. Das kulturindustrielle und spektakuläre Verhältnis wird so nicht überwunden, sondern bloß nivelliert zur basisdemokratischen Totalignoranz.

Wenn etwas die triefende Gehässigkeit des kleinen linken Arschlochs noch steigern kann, dann ist es das Auftreten von Theoretikerinnen, von Frauen mit eigenen intellektuellen Ansprüchen. Denn das kleine linke Arschloch ist meistens nicht nur männlich, sondern geradezu ein Ausbund männlicher Identität in der Krise. Noch im sozialen Nieder- und Untergang soll die geschlechtliche Suprematie geltend gemacht werden, vorzugsweise durch unqualifizierte Anpisserei weiblicher Denkprodukte. Die eigenen groben Missverständnisse und mangelnden Kenntnisse werden zu Kriterien einer Be- und Verurteilung erhöht, um sich erhaben fühlen zu können gerade über die Frauen, die eine theoretische Vermittlung geleistet haben; was womöglich noch als "Leistungswahn" abgetan wird, um sogar die Denkfaulheit zur "Widerständigkeit" zu adeln.

Mit dem androzentrischem Universalismus von 200 Jahren aufklärerischer Theoriegeschichte im Rücken meint das kleine linke Arschloch immer noch als Bonsai-Philosophenkönig auftreten zu können, geschützt durch männerbündische Diskursräume, in denen Frauen per se schon zurückgestuft sind und nur reden sollen, wenn sie aufgerufen und als "Schülerinnen des Mannes" abgefragt werden. Was das kleine linke Arschloch natürlich nicht hindert, gerade auch die Theoretikerinnen so auszuweiden, dass die einer "Aneignung" für würdig befundenen Gedanken in das kleine linke Arschloch-Denkuniversum hineingeschmuggelt werden können, nachdem die Spur der weiblichen Kreation getilgt ist.

Es konnte nicht ausbleiben, dass das kleine linke Arschloch die Wert- und Arbeitskritik entdeckt und more (anti)politico kleinzumahlen versucht. Dafür bedarf es einer Verballhornung des ganzen theoretischen Ansatzes; insbesondere die abspaltungskritische Thematisierung des bürgerlichen Geschlechterverhältnisses muß so entschärft werden, dass sie dem kleinen linken Arschloch nicht mehr weh tut. Inzwischen gibt es ja auch die einschlägigen passenden Anbieter einer wertkritischen Yellow-Press für deutschsprachige Hausmeister, wie etwa die Wiener "Streifzüge" und verschwägerte Etablissements des reduktionistischen Denkens. Dass es sich dabei um ausgesprochene Kleinmännervereine handelt, kann das kleine linke Arschloch nicht stören; im Gegenteil darf es mit freudiger Dankbarkeit die verwandte Seele wittern.

Es ist die gemeinsame Nähe zum Erdboden, die hier Affinität stiftet. Die wenigen eigenständigen Denkbewegungen der Hobby-Theoretiker einer heruntergebrochenen Wertkritik übersteigen die Flughöhe des Huhns nicht. Und bei einem Franz Schandl kommt der Gedanke sowieso nur noch zu Fuß über die Alpen. Dieses Prachtexemplar einer wertkritischen Klatschspalten-Journaille ist mit einer gewissen Zwangsläufigkeit bei den süßen Geheimnissen von "Charles und Camilla" angelangt. Wenn die ewige "Widerständigkeit", die außer solchen wertkritischen Dampfplapperern niemand bemerkt, allüberall "an sich" nistet, muß sie nicht zuletzt auch im Hause Windsor zu finden sein. Das kleine linke Arschloch kann sogar zu derartigen Peinlichkeiten noch ein wenig aufschauen, weil sich sein eigenes Denklevel knapp unterhalb der Grasnarbe befindet. So ist der Abstand gerade soweit vorhanden, dass überhaupt Rezeptionsfähigkeit entsteht; und gleichzeitig gering genug, um die Basisdemokratie des wilden Unmittelbarkeitsdenkens im postmodernen Freigehege ausrufen zu können.

Und nun darf nach dem wert- und arbeitskritischen Marketing für den okkupierten und als eigenes Denkprodukt etikettenschwindlerisch ausgegebenen Theoriefundus gegiert werden, nach der billigen Verkaufe, für die schon die intellektuellen Subunternehmerseelen Schlange stehen. Angesagt ist die "Wertkritik in drei Tagen" oder "Wertkritik für Eilige", auf Wunsch auch mit einer (nach symbolischer Verbrennung der ursprünglichen Kreatorin) plünderungsökonomisch "angeeigneten" und androzentrisch-universalistisch verhunzten Abspaltungstheorie als "Seite für die Frau", oder der Einfachheit halber gleich ganz ohne Abspaltungsproblematik; und natürlich eine "Einführung in die Wertkritik für kleine linke Arschlöcher", reich bebildert und mit zahlreichen Rezepten und Gebrauchsanweisungen.

Denn bei der grauen Theorie in der Readers-Digest-Version darf es nicht bleiben; sie muß gekrönt werden von der noch graueren Praxis von und für kleine linke Arschlöcher. Als hilfreiche Überleitung liefern Betroffenheits-Berichte aus dem kleinen linken Arschloch-Alltag die nötige Stimulation und emotionale Einstimmung, z.B. "Wie ich die Wertkritik zufällig auf einem Ramschtisch entdeckte und sich danach mein Leben verändert hat", "Wie mir einmal die Wertkritik bei der Gestaltung meines Urlaubs auf Mallorca interessante Anregungen geben konnte", oder "Wie mir die Arbeitskritik Trost gespendet hat, als ich bei der Prüfung zum Sozialklempner durchgefallen bin".

Und dann geht’s so richtig los mit leichten Übungen, Wohlfühl-Projekten und utopischen Perspektiven für kleine linke Arschlöcher: "Gemeinsam geldlos pinkeln im Wald - deutsch-österreichischer Widerstand gegen die transnationale Autobahn-Toiletten-Industrie", "Copyleft auf dem Bauernhof - wie die Kühe durch virtuelle Aneignung fliegen lernen", "Schöner leben unter romantischen Brücken - wir lassen uns den widerständigen Alltag nicht vermiesen!", "Meine ganz persönliche Utopie - ein Malwettbewerb für begriffsschwache Mittvierziger" oder "Ein Stück weit praktische Überwindung des Konkurrenzdenkens in jugendlichen Onaniergemeinschaften" (mit dem Wiener Schmalzpädagogen und Sozialpathologen Dr. Lorenz Glatz als special guest). Nicht zu vergessen natürlich die große einwöchige Erlebnis-Wertkritik mit Sinnlichkeitsübungen für Anfänger, Sachlichkeitsspielen für Fortgeschrittene und gemeinsamen Nettigkeitsabenden im Naturpark Bayerischer Wald (begrenzte Teilnehmerzahl).

Mit einem Wort, das wertkritische Billigangebot ist wirklich ganz auf kleine linke Arschlöcher zugeschnitten. Daraus läßt sich durchaus im Umkehrschluß eine gewisse definitorische Bestimmung ableiten: Wer sich im Konflikt um die Weiterentwicklung der Wert-Abspaltungskritik im theoretischen 1-Euro-Laden bedient, ist mit Sicherheit ein kleines linkes Arschloch. Schon bei der Spaltungs-MV der alten Krisis war eine Zusammenrottung von kleinen linken Arschlöchern zu beobachten, denen einer abging, als sie sich am Theoretiker- und vor allem am Theoretikerinnen-Bashing beteiligen, ihre Ressentiments ausleben und "Wir sind das Volk" spielen durften. Zwar ist das kleine linke Arschloch für den Fortgang der Theoriegeschichte und für die Konstitution von sozialem Widerstand vor allem eines: nämlich irrelevant. Aber trotzdem darf jedes kleine linke Arschloch mit arbeitskritischer Basislyrik und misogynem Affekt einmal für fünf Minuten berühmt sein in seinem kleinen Arschloch-Soziotop. Und das ist ja immerhin auch etwas.




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