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Claus Peter Ortlieb


Erschienen in KONKRET 11/12

Claus Peter Ortlieb

Spirale abwärts

Kein Ausweg aus der Schuldenkrise

Es wird immer deutlicher, dass das der Eurozone verordnete Spardiktat die Krise, die damit doch angeblich bekämpft werden soll, nur weiter verschärft. In allen unter die Fuchtel der »Troika« aus internationalem Währungsfond, Europäischer Zentralbank und Europäischer Kommission geratenen Volkswirtschaften führen die Sparauflagen zum Einbruch der Binnennachfrage. Die dadurch ausgelöste bzw. verschärfte Rezession lässt die Arbeitslosigkeit steigen, was höhere Sozialausgaben nach sich zieht, während gleichzeitig Bruttoinlandsprodukt (BIP) und Steuereinnahmen zurückgehen. In der Folge verschlechtern sich die Indikatoren der Staatsverschuldung, also der Schuldenstand und die Neuverschuldung in Prozent des zurückgegangenen BIP. Das wiederum ruft die »Troika« auf den Plan, die aufgrund ihrer Kriterien nicht anders kann, als die Daumenschrauben anzuziehen und die Sparauflagen zu verschärfen, was die Binnennachfrage weiter zurückgehen lässt usw.

Diese Spirale aus Einsparungen, Rezession, noch größeren Einsparungen und noch schärferer Rezession ist aus den 1930er Jahren bekannt, in Deutschland unter dem Stichwort »Brüningsche Notverordnungen«, aber auch in den USA, wo die Regierung des Präsidenten Hoover einen ähnlichen Kurs verfolgte. Das damalige Ergebnis kann jetzt wieder in den südeuropäischen Krisenländern beobachtet werden: Eine Arbeitslosenquote um die 25 Prozent, während die Jugendarbeitslosigkeit bei 50 Prozent liegt. Einen Unterschied gibt es: Während in den dreißiger Jahren die Regierungen ihre eigenen Volkswirtschaften ruinierten, wird in der Eurozone dieser Job von der deutschen Regierung erledigt mit der Folge, dass fast nur die deutsche Volkswirtschaft (noch) ein wenig wächst, während die Eurozone als Ganzes ökonomisch schrumpft.

Der Keynesianismus ist bekanntlich in den dreißiger Jahren als Reaktion auf die damalige Weltwirtschaftskrise und die krisenverschärfende Wirtschaftspolitik dieser Zeit entstanden. Entsprechend fassungslos stehen seine Vertreter, allen voran der Nobelpreisträger Paul Krugman der von der deutschen Politik propagierten Austeritätspolitik gegenüber (vgl. den Beitrag von JustIn Monday in KONKRET 8/12). Die zunehmende »ideologische Verblendung« deutscher Politiker scheint Krugman sich nur durch deren Glauben erklären zu können, »dass schwere Zeiten die notwendige Strafe für frühere Exzesse sein müssten«, wobei er allerdings übersieht, dass die schweren Zeiten und die Exzesse hier nicht unbedingt dieselben Leute betreffen. Als Alternative zur Austeritätspolitik werden Konjunkturprogramme propagiert: »Heute müssen Regierungen mehr Geld ausgeben und nicht weniger, und zwar so lange, bis der private Sektor wieder in der Lage ist, den Aufschwung zu tragen.« Außerhalb Europas wird eine solche Wirtschaftspolitik zur Zeit tatsächlich verfolgt, so etwa von US-Regierung und -Notenbank, aber auch in China.

Ganz so einfach, wie Krugman sie darstellt, ist die Sache allerdings nicht: Keynesianische Wirtschaftspolitik setzt ja voraus, dass der private Sektor irgendwann in der Lage ist, den Aufschwung zu tragen, da sich andernfalls das berühmte Fass ohne Boden auftut. Diese Voraussetzung ist aber schon lange nicht mehr erfüllt: Seit mehr als dreißig Jahren wird die Weltwirtschaft nur noch durch (staatliches wie privates) Schuldenmachen in Gang gehalten. Daran scheiterte der Keynesianismus bereits in den siebziger Jahren, in denen die jetzt wieder geforderten Konjunkturprogramme nicht mehr in der Lage waren, eine selbsttragende Kapitalakkumulation anzustoßen, sondern nur zu teilweise zweistelligen Inflationsraten führten.

Er wurde dann bekanntlich vom Neoliberalismus abgelöst, der entgegen seiner eigenen monetaristischen Doktrin alles andere als eine Politik der stabilen Geldmenge betrieb. Vielmehr wurde die Staatsverschuldung weiter vorangetrieben (so etwa durch den exzessiven Rüstungskeynesianismus des US-Präsidenten Reagan), und die Deregulation des Finanzsektors erweiterte die Möglichkeiten zur kreditären Geldschöpfung. Durch die Verlagerung großer Geldmengen vom Massenkonsum und der Realwirtschaft in den Finanzsektor verschwand zugleich die Inflation, genauer gesagt verschob sie sich von den Konsumgüter- auf die Aktien- und Immobilienmärkte (asset inflation), ein durchaus erwünschter Effekt: Der Dow Jones Index beispielsweise erhöhte sich zwischen 1982 und 2000 inflationsbereinigt um den Faktor sieben, ohne damit entsprechend höhere reale Werte zu repräsentieren.Ähnliche Phänomene gab es auf Immobilienmärkten, auf denen die Preissteigerungen der auf Kredit gekauften Häuser dazu verwendet wurden, den Konsum ihrer Besitzer zu finanzieren, bis die Blasen schließlich platzten.

Die Rede vom »finanzgetriebenen Kapitalismus«, der eine Zeitlang als »neues Regulationsmodell« die Diskurse beherrschte, besagt bei Licht besehen nur, dass die Realwirtschaft durch Schulden finanziert und in Gang gehalten wurde. Eine hier noch nicht zur Sprache gekommene Konstruktion dabei ist die des Defizitkreislaufs, der vereinfacht dargestellt so funktioniert: A gewährt B einen Kredit, den B dazu verwendet, die von A produzierten Waren zu kaufen, wodurch das Geld wieder an A zurückfließt, das er dann erneut an B verleihen kann. Derartige Vorgänge haben jahrzehntelang die Weltwirtschaft angetrieben, etwa mit China in der Rolle von A und den USA in der Rolle von B (pazifischer Defizitkreislauf), oder – nach Einführung des Euro – mit Deutschland in der Rolle von A und dem südlichen Teil der Eurozone in der Rolle von B (europäischer Defizitkreislauf).

Der »finanzgetriebene Kapitalismus« muss ins Stottern oder ganz zum Stillstand kommen, sobald die Gläubiger den begründeten Verdacht haben, ihre Schuldner könnten ihre Schulden nicht mehr zurückzahlen. Das passierte seit 30 Jahren immer wieder auf lokaler Ebene, und nahm wegen der inzwischen aufgebauten Länge der Kreditketten erstmals mit dem Crash von 2008 weltweite Ausmaße an. Um das Finanzsystem vor dem völligen Zusammenbruch zu retten, mussten und müssen weiterhin die Staaten als scheinbar infallible Schuldner die Kosten übernehmen. Zudem wurden allein im Folgejahr 2009 weltweit staatliche Konjunkturprogramme im Umfang von ungefähr 3 Billionen Dollar aufgelegt. Damit wurde zwar eine Depression wie in den dreißiger Jahren verhindert (Ausnahmen s. o.), aber eine selbsttragende Realakkumulation ließ sich damit ebenso wenig initiieren wie in den Jahrzehnten zuvor.

Die Antwort, die die neoliberale Revolution auf die Krise der siebziger Jahre gab, bestand im »gigantischsten kreditfinanzierten Konjunkturprogramm, das es je gegeben hat«, wie der konservative Sozialwissenschaftler Meinhard Miegel feststellt. Wer nun als wahrer Konservativer ein Ende der »Exzesse« fordert, übersieht oder verschweigt allerdings, dass eben diese »Exzesse« es waren, die mehr als dreißig Jahre lang die Weltwirtschaft am Laufen hielten. Und wer umgekehrt nach weiteren staatlichen Konjunkturprogrammen ruft, will lieber nicht wissen, dass damit die Auswirkungen der Krise zwar gemildert, sie selber aber nicht überwunden werden kann, sondern nur die Staatsverschuldung steigt, bis irgendwann nichts mehr geht.

Bei der vermeintlichen Alternative von Austeritätspolitik auf der einen oder Konjunkturprogrammen auf der anderen Seite handelt es sich in Wirklichkeit um eine Dilemma-Situation, eine Wahl zwischen Pest und Cholera, zwischen Kaputtsparen und Staatsbankrott. Genauer besehen handelt es sich noch nicht einmal um eine Wahl, da die eine Krankheit die andere impliziert, weil der Staat auf eine gelingende Kapitalverwertung angewiesen ist, für die er umgekehrt die Voraussetzungen zu schaffen hat.

Der globale Kapitalismus kann die seit den siebziger Jahren währende Überakkumulationskrise nicht hinter sich lassen, weil mit dem Aufkommen der Mikroelektronik und ihrer Anwendung in der Produktion ein immer kleiner werdender Teil der weltweiten Arbeitskraft genügt, um für alle zu produzieren. Nun wäre das damit verbundene »Ende der Arbeitsgesellschaft«, also das Verschwinden der Arbeit aus dem Produktionsprozess an sich kein Unglück, schließlich können sich die meisten von uns etwas Besseres vorstellen als lebenslange Maloche. Ein Problem entsteht aus dieser Entwicklung erst deshalb, weil der Kapitalismus bekanntlich auf der Ausbeutung der Arbeit beruht, Profite sich also kapitalistisch seriös und auf Dauer nur durch die Anwendung menschlicher Arbeitskraft generieren lassen. Und Profite sind nun einmal Sinn und Zweck allen kapitalistischen Wirtschaftens.

An diesen Kern der Krise kommt keine wie immer geartete Wirtschaftspolitik heran. Sie müsste sich schon ihrer eigenen Grundlage berauben und den Kapitalismus abschaffen. Da das keine realistische Perspektive zu sein scheint, bleibt den Geldsubjekten nur die Option, die negativen Folgen der Krise möglichst von sich fernzuhalten und auf andere abzuwälzen. Was das in einer Situation bedeutet, in der immer weniger Menschen für das Kapital noch verwertbar sind und die Bevölkerung ganzer Regionen unter diesem Aspekt überflüssig wird, hat die deutsche Politik der letzten zehn Jahre geradezu beispielhaft vorgeführt:

Die Erfolgsstory, mit der die angeblich verloren gegangene »internationale Wettbewerbsfähigkeit« zurückgewonnen wurde, beginnt mit dem im Zuge der Agenda 2010 aufgebauten Niedriglohnsektor und dem damit verbundenen Druck auf die Löhne auch in den höheren Etagen. In der EU ist Deutschland das einzige Land, in dem die Reallöhne zwischen 2000 und 2008 sanken, in dem also der hohe Produktivitätszuwachs nicht mehr an die lohnabhängig Beschäftigten weitergegeben, sondern Lohndumping betrieben wurde. Hinzu kommt, dass der Anteil der Industrieproduktion am Bruttoinlandsprodukt in Deutschland signifikant höher ist als in anderen Ländern und dass sich diese Relation gerade wegen der geringeren Lohnstückkosten immer weiter zugunsten der deutschen Industrie verschiebt, weil die nicht mehr durch eigene Währungen geschützten Industrien vieler anderer und besonders der südeuropäischen Euroländer unter diesen Bedingungen nicht konkurrenzfähig sind. Damit baute sich der oben bereits skizzierte europäische Defizitkreislauf auf. Diese Schieflage der Handelsbilanzen im gemeinsamen Währungsraum macht die über die allgemeine Weltwirtschaftskrise noch hinausgehende Problematik der Euro-Zone aus, bis hin zu ihrem nach wie vor möglichen Zusammenbruch.

So weit wird es die deutsche Politik wohl nicht kommen lassen, dafür hat das heimische Kapital zu gut am Euro verdient, aber aufgegeben werden soll das »deutsche Erfolgsmodell« natürlich auch nicht. Stattdessen soll die gesamte EU nun diesem Modell folgen. Das ist selbst nach den Kriterien der irren Systemlogik verrückt, weil das Modell auf einer Asymmetrie beruht, nämlich den Handelsbilanzdefiziten der südeuropäischen Krisenländer als Kehrseite des deutschen Handelsbilanzüberschusses. Einen Sinn erhält das alles nur, wenn es um das Ziel geht, die Euro-Zone auch in Konkurrenz zu Indien und China »international wettbewerbsfähig« zu machen, was freilich hieße, sie insbesondere hinsichtlich der Lebens- und Arbeitsverhältnisse auf ein entsprechendes Niveau zu bringen. In Griechenland wird gerade vorgemacht, was das bedeutet.

Wenn alle denjenigen folgen, die zuletzt erfolgreich waren, ist der weitere Krisenverlauf vorgezeichnet: Da Erfolg in der Standortkonkurrenz heißt, zu den Wenigen zu gehören, die ihre Produkte exportieren können, müssen vor Ort die Kosten gedrückt werden, insbesondere diejenigen für solchen Luxus wie die Versorgung von Kranken, Alten und anderen Kostgängern, die zum wirtschaftlichen Erfolg keinen Beitrag leisten. Der Kampf um Wettbewerbsfähigkeit kann so nur zu einer weiteren Abwärtsspirale führen, die übrigens längst in Gang gekommen ist.

Es tröstet nur wenig, dass auch die zeitweiligen Gewinner dieser Konkurrenz sich ihres Sieges kaum werden freuen können: Wer schließlich soll den immer weniger und immer kleiner werdenden Inseln kapitalistischer Prosperität ihre Produkte noch abkaufen?




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