Startseite
AutorInnen
zurück
Druckversion
Glossar
Deep Link

Claus Peter Ortlieb


Claus Peter Ortlieb

Wir Untoten

Wenn ein bekannter Journalist wie der Mitherausgeber und Feuilletonchef der FAZ ein Buch publiziert, ist der mediale Rummel wohl unvermeidlich, allzu groß sind die wechselseitigen Abhängigkeiten von Rezensenten und Autor. Zu Frank Schirrmachers im Februar 2013 erschienenem Buch »EGO: Das Spiel des Lebens« gab es vorab im SPIEGEL vom 11.02.2013 einen vierseitigen Essay des Autors mit den Kernthesen des Buches sowie ein zweiseitiges Interview; es folgte noch am selben Tag eine Jubelarie von Jakob Augstein auf SPIEGEL-ONLINE: Schirrmacher sei »der spannendste Journalist des Landes« und  »ohne Zweifel links«, eine Frage, die auch Thomas Assheuer in seiner mehr als wohlwollenden Rezension in der ZEIT vom 14.02.2013 umtrieb. Scharfe Kritik an dem Buch gab es denn auch erst einmal nur von »rechts«, so etwa von Cornelius Tittel in der Online-Ausgabe der WELT vom 17.02.2013. Was von Schirrmacher zu halten ist, scheint zur Gesinnungsfrage zu werden. Dabei zeigt die ganze Aufregung um das innerhalb von zwei Wochen auf Platz 1 der SPIEGEL-Bestsellerliste gepushte Buch nur, wie weit der Begriff »links« inzwischen heruntergekommen ist.

Das Buch bedient das in den kapitalistischen Kernländern ebenso verbreitete wie diffuse Gefühl der Leere und Fremdbestimmtheit, der Sinn- und Ziellosigkeit sowohl des privaten als auch des öffentlichen Lebens.Wer für die damit angesprochene »Entfremdung« über die bloße Ahnung hinaus eine Erklärung sucht, sollte sich mit Marx, Lukács, Adorno und eventuell weiteren Klassikern auseinandersetzen. Schirrmacher führt unfreiwillig vor, wie es einem ohne diesen theoretischen Hintergrund ergehen kann, wie also eine »Kapitalismuskritik« gerät, die nicht weiß, was Kapitalismus ist. Das Buch erzählt die folgende Geschichte:

Vor 60 Jahren hätten amerikanische Militärs, Ökonomen und Physiker die Spieltheorie erfunden, ein mathematisches Modell für Konfliktsituationen, in denen jeder Beteiligte versucht, mit allen Mitteln und ohne Rücksicht auf andere seinen individuellen Nutzen zu maximieren. Mit diesem Instrument und seiner Implementierung in Computer sei es gelungen, den Kalten Krieg gegen die Sowjetunion zu gewinnen. Nachdem diese verschwunden war, seien viele der beteiligten Physiker an die Wall Street gegangen und hätten von dort aus die Logik des Kalten Krieges der zivilen Gesellschaft aufgezwungen. Die Folge sei nicht nur die Automatisierung von Märkten, sondern auch die Automatisierung von Menschen und damit die Schaffung einer - im Buch als »Nummer 2« titulierten - neuen, ganz im Sinne der neoliberalen Ideologie ausschließlich am Eigennutz orientierten Spezies. Das Medium der Übertragung dieser automatisierten Logik in die Individuen sei der Personal Computer, der Menschen und Märkte miteinander vernetze.

Es handelt sich bei dieser Erzählung um ein typisches Beispiel bürgerlicher, also von den herrschenden Produktionsverhältnissen abstrahierender Technikkritik, in diesem Fall also um die Kritik von Spieltheorie und Computerisierung, welche in ihrer Verbindung zur Ursache aller Übel hochstilisiert werden, die mit dem Neoliberalismus seit 1989 über uns gekommen sind. Für diese Rolle ist insbesondere die Spieltheorie freilich nur sehr bedingt geeignet: Sie ist ausschließlich anwendbar auf Konfliktsituationen, in denen allen Beteiligten sowohl die Handlungsmöglichkeiten (Spielregeln) als auch die Präferenzen der Gegner bekannt sind, taugt aber nicht dafür, diese Präferenzen, sollten sie unbekannt sein, auszuforschen. Die der neoklassischen Lehre zugrunde liegende Vorstellung, alle Menschen seien Träger einer subjektiven Nutzenfunktion, die sie immerfort zu maximieren versuchen, kann deswegen auch als restlos gescheitert gelten: Sie ist weder zu irgendwelchen Erklärungen geeignet, noch lässt sie sich empirisch nachweisen oder gar berechnen und in Computer implementieren.

Die Spieltheorie ließ sich deshalb im Kalten Krieg einsetzen, weil dieser auf beiden Seiten der einfachen Logik folgte, einen Nuklearkrieg entweder gewinnen oder durch wechselseitige Abschreckung verhindern zu wollen. Es kann allerdings keine Rede davon sein, wie Schirrmacher es nahelegt, dass die Sowjetunion in diesem Spiel niedergerungen wurde, sie ist bekanntlich aus anderen, nämlich ökonomischen Gründen untergegangen. Vollends abenteuerlich ist die Idee, die sich seit den achtziger Jahren entwickelnde Dominanz der Finanzmärkte damit zu erklären, dass eine von Entlassung bedrohte Berufsgruppe beschloss, von den militärischen Organisationen an die Wall Street zu wechseln, schließlich musste dort der Bedarf an den Fähigkeiten dieser Leute ja bereits vorhanden sein. Tatsächlich konnte die Spieltheorie bei der Automatisierung des Börsenhandels deswegen zum Einsatz kommen, weil dort alle Beteiligten bekannte Handlungsmöglichkeiten haben (Kauf und Verkauf von Finanztiteln aller Art) und dabei das Ziel verfolgen, den eigenen Profit zu maximieren. Die Übertragung auf andere Märkte, in denen zumindest einige Beteiligte auch nicht quantifizierbare Ziele verfolgen, dürfte sich dagegen als  schwierig erweisen, und vollends im Dunkel bleibt, wie man sich die »Automatisierung von Menschen« vorzustellen hat. Genannt werden hier die von Google, Amazon und anderen verwendeten, freilich keineswegs spieltheoretischen Algorithmen zur Ausforschung des Such- und Konsumverhaltens ihrer Nutzer mit dem Ziel, individualisierte Werbung zu platzieren. Aber was zwingt uns, diese Angebote anzunehmen?

Schirrmachers Buch scheint für einige seiner Rezensenten deswegen attraktiv zu sein, weil es Klage führt gegen die neoliberale Ökonomisierung der gesamten Gesellschaft und den in Gestalt der »Nummer 2« in die Wirklichkeit eingetretenen »homo oeconomicus« sowie den mit dieser Entwicklung verbundenen Verlust an Souveränität sowohl der Politik - beispielhaft festgemacht an Merkels affirmativer Rede von der »marktkonformen Demokratie« - als auch der Individuen, die die Kontrolle über ihr eigenes Leben verlieren. Eine weitere Attraktion liegt in der Stellung des Autors als Mitherausgeber der FAZ, deretwegen Augstein meint, eine »Kapitalismuskritik im Herzen des Kapitalismus« ausmachen zu können. Dass die im Buch gegebene Erklärung für die Entstehung dieser Verhältnisse weder die Logik noch die historischen Fakten auf ihrer Seite hat, spielt da schon keine Rolle mehr.

Zur Sache ist zunächst zu sagen, dass Eigennutz und Profitstreben bekanntlich keine Erfindungen des Neoliberalismus, sondern als Antrieb wirtschaftlicher Tätigkeit so alt wie der Kapitalismus sind. Bereits Adam Smith hat sie in seinem 1776 erschienenen Hauptwerk in der nicht näher begründeten Hoffnung propagiert, sie würden durch den Marktmechanismus »von einer unsichtbaren Hand geleitet« dem Allgemeinwohl dienen. Auch die Rolle des modernen Staates, ob nun demokratisch verfasst oder nicht, hat, seit es ihn gibt, darin bestanden, die Voraussetzungen für die Kapitalverwertung zu gewährleisten. Für eine nicht marktkonforme Demokratie wäre gar kein Platz. Freilich werden die Spielräume, die der Politik in diesem Rahmen bleiben, krisenbedingt immer geringer.

Der Neoliberalismus ist die Antwort auf die seit den 1970er Jahren andauernde Überakkumulationskrise des Weltkapitals. Er kann diese zwar nicht überwinden, hat aber zeitweilige Kompensationen für die verlorengegangene Möglichkeit der realen Mehrwertproduktion geschaffen: durch Reallohnsenkungen, Steuererleichterungen für Kapitaleinkommen, die Deregulation des Finanzsektors und nicht zuletzt durch die Einbeziehung noch der letzten gesellschaftlichen Bereiche in den kapitalistischen Verwertungsprozess. Mit Spieltheorie hat das freilich wenig zu tun, und auch die (teilweise) Automatisierung von Märkten ist zwar ein Hilfsmittel in diesem Prozess der umfassenden Ökonomisierung, aber nicht seine Ursache. Die Frage, wie Schirrmachers »Nummer 2« es geschafft hat, »das Labor zu verlassen und den naturbelassenen Altmenschen auch in der Wirklichkeit zu ersetzen« (Assheuer), bleibt unbeantwortet, weil im gesamten Buch von der Arbeit nicht die Rede ist, ohne die der Kapitalismus nun mal nicht auskommt.

Nun ist die Ausbeutung der Arbeit nichts Neues, ohne sie gäbe es keinen Kapitalismus. Neu ist die Aufhebung der Trennung von Arbeit und Freizeit, von Produktion und Reproduktion: »Was den heutigen Kapitalismus von seinen früheren Formen unterscheidet, ist, dass sein Einfluss weit über die Fabrik und das Büro hinausreicht. Im Fordismus waren Wochenenden und Freizeit noch relativ unangetastet; sie sollten die Welt der Arbeit indirekt unterstützen. Heute jedoch ist das Kapital darauf aus, unsere Sozialität in allen Sphären des Lebens auszubeuten. Wenn wir alle »Humankapital« werden, haben wir nicht nur einen Job oder verrichten einen Job. Wir sind der Job. Selbst wenn der Arbeitstag zu Ende zu sein scheint.« (S. 19) Das Ergebnis ist, so Cederström und Fleming, die Spezies der »Dead Men Working«, arbeitende Untote, die nicht leben können und auf ein Ende warten, das nicht kommt. Mit Schirrmachers »Nummer 2« hat diese Spezies durchaus Ähnlichkeit, ist aber wesentlich plausibler als jene aus den gesellschaftlichen Entwicklungen hergeleitet.

Die Ausdehnung der Arbeit auf alle Lebensbereiche hat ihr Gegenstück in den von Cederström und Fleming beschriebenen und in ihrer konkreten Ausprägung oft grotesken Versuchen eines »Befreiungsmanagements«, das »Leben« in die Arbeit mit einzubeziehen. Dazu gehören »Teambildungsmaßnahmen« auf dem Niveau von Kindergeburtstagen, Aufforderungen, immer und überall »authentisch« zu sein, den Arbeitsplatz als Wohnzimmer aufzufassen, Spaß zu haben und selbst noch dem Hass auf den Kapitalismus im Allgemeinen und das eigene Unternehmen im Besonderen Ausdruck zu geben. Das Ziel sind Beschäftigte, die sich mit ihrer ganzen Person in ihre Arbeit einbringen und umso mehr für das Unternehmen leisten.

Doch die Gleichung »Arbeit ist Leben, und Leben ist Arbeit« geht nicht auf: Die Arbeitsausfälle wegen psychischer Erkrankungen haben ebenso dramatisch zugenommen wie der Konsum von Psychopharmaka zur Bewahrung der Arbeitsfähigkeit; Burnout und Depression gelten inzwischen als Volksleiden, und sogar der »große Abgang« in den Selbstmord tritt immer mal wieder gleich serienweise auf. In wert-abspaltungs-kritischer Terminologie ausgedrückt: Ein Leben als Arbeit pur ohne Rückzugsmöglichkeit in das abgespaltene, weiblich konnotierte und als minderwertig geltende Refugium der Reproduktion, das einer andern Logik folgt, ist offensichtlich nicht lebbar. Die Konsequenz daraus wird schon früh im Buch genannt: »Ein Arbeiter zu sein, ist nichts, worauf man stolz sein kann. Eine sinnvolle Arbeitsplatzpolitik sollte nicht faire, bessere, weniger oder mehr Arbeit fordern, sondern das Ende von Arbeit.« (S. 20) Es müsste, und das macht die Sache schwierig, zugleich das Ende des kapitalistischen Patriarchats sein.




zurück
Druckversion
Glossar
Deep Link