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Claus Peter Ortlieb


Nachträgliche Vorbemerkung (3. November 2008)

Die bis dato verbreitete Vorstellung einer dauerhaft durch den Finanzsektor angetriebenen Kapitalakkumulation dürfte sich im September und Oktober 2008 erledigt haben. Nicht erledigt ist dagegen die ebenso falsche Vorstellung, es handele sich nur um eine Krise der Finanzsektors, die jetzt allerdings auf die Realwirtschaft „übergreife“. In der veröffentlichten Meinung zumal in Deutschland herrschen Erklärungsmuster mit antisemitischen Untertönen vor, in denen der drohende Kollaps des Finanzsystems und die sich abzeichnende schwere Rezession bzw. Depression der „Gier“ und dem „Größenwahn“ des „angelsächsischen Finanzkapitalismus“ als alleinigen Verursachern zur Last gelegt wird. Das aus der Mottenkiste wieder hervorgeholte Gegenmodell des „rheinischen Kapitalismus“ bzw. der „sozialen Marktwirtschaft“ dient noch als ideologische Beruhigungspille, obwohl es seine Zeit als tragfähiger Modus kapitalistischer Vergesellschaftung längst hinter sich hat. Es ist offensichtlich, dass hier wieder einmal die strukturell antisemitische Argumentationsfigur Pate steht, das „schaffende Kapital“ müsse vor dem „raffenden Kapital“ gerettet werden.

Dabei wird geflissentlich übersehen, dass das Wachstum der Weltwirtschaft seit Jahrzehnten wesentlich durch spekulative Differenzgewinne und Defizitkreisläufe, also durchs Schuldenmachen in Gang gehalten wurde. Die Rede vom „Übergreifen der Finanzkrise auf die Realwirtschaft“ ist deshalb irreführend. Tatsächlich wurde die seit Anfang der 1980er Jahre wirksame Krise der Realwirtschaft durch kreditäres deficit spending nur immer weiter aufgeschoben, bis die Kreditgeber schließlich an den zunehmend fauler werdenden Krediten zu ersticken drohten. Die nahe liegende Frage nach den tieferen Ursachen der realwirtschaftlichen Krise, also der Unmöglichkeit, noch in ausreichendem Maße reale Gewinne zu machen, wird dagegen nicht gestellt, weil sie in der Tat ein Ende des Kapitalismus und nicht nur die mangelnde Tragfähigkeit besonderer Modi kapitalistischer Vergesellschaftung ins Blickfeld rücken würde. Von dieser Frage handelt nachfolgender Text.

Er bewegt sich auf der Ebene der Marx‘schen Kritik der politischen Ökonomie, die schon einnehmen muss, wer an die in der kapitalistischen Langzeitdynamik liegenden Gründe für die jetzt manifest werdende Krise herankommen will. Es war nicht zu erwarten, dass ein solcher Zugang in die Massenmedien der Bewusstseinsindustrie eingehen könnte. Dass er aber offenbar – anders als noch in den 1970er Jahren – auch linken Publikationsorganen nahezu durchgehend verschlossen ist, verweist auf einen theoretischen Verfall der Linken, der angesichts des inzwischen erreichten Tempos der Krisendynamik als bestürzend bezeichnet werden muss.

Claus Peter Ortlieb

Ein Widerspruch von Stoff und Form

Zur Bedeutung der Produktion des relativen Mehrwerts für die finale Krisendynamik

Während die herrschende Volkswirtschaftslehre nur die stoffliche Seite der kapitalistischen Produktion zu betrachten glaubt und sich für Größen wie das „reale“ Wachstum des Bruttoinlandsprodukts oder „reale“ Einkommen interessiert – die tatsächlich allerdings durch Geldwerte vermittelt sind –, untersuchen die meisten der der Arbeitswerttheorie verpflichteten Texte denselben Produktionsprozess in Bezug auf die in ihm realisierten Wert- und Mehrwertmengen. Beide Seiten scheinen unausgesprochen davon auszugehen, dass es sich nur um verschiedene Maßeinheiten von Reichtum schlechthin handle.

Dagegen geht der vorliegende Text mit Marx von einem historisch spezifischen, doppelten Reichtumsbegriff im Kapitalismus aus, wie er im Doppelcharakter von Ware und Arbeit repräsentiert ist. Dem Wert als der herrschenden Form des Reichtums im Kapitalismus steht der stoffliche Reichtum gegenüber, auf dessen besondere Gestalt es für die Kapitalverwertung zwar nicht ankommt, der jedoch als Träger des Werts unverzichtbar bleibt. Diese beiden Reichtumsformen treten nun aber mit wachsender Produktivität notwendig und in einer Weise auseinander, die Marx vom Kapital als dem „prozessierenden Widerspruch“ sprechen ließ. Diesem Widerspruch soll hier nachgegangen werden.

Dabei wird das Ziel verfolgt, die Argumentation des 22 Jahre alten Aufsatzes von Kurz (1986), mit dem die Krisentheorie der ehemaligen Krisis begründet wurde, vor dem Hintergrund zumindest der ernsthafteren unter den seither formulierten Gegenargumentationen zu überprüfen. Ihr zufolge steuere das Kapital auf eine finale Krise zu, da wegen der wachsenden Produktivität die gesamtgesellschaftliche bzw. globale Mehrwertproduktion auf Dauer abnehmen und die Kapitalverwertung schließlich zum Erliegen kommen müsse.

Hinsichtlich dieser Diagnose unterscheidet sich der vorliegende Text nicht wesentlich von Kurz (1986), sie wird aber aus einem etwas anderen Blickwinkel begründet, der sich auf die Darstellung der gesamtgesellschaftlichen Mehrwertmasse bezieht. Diese lässt sich einerseits, wie Kurz (1986 und 1995) es tut, ausgehend von dem vom einzelnen Arbeiter geschaffenen Mehrwert durch Summation über alle produktiven Arbeiter bestimmen, aber auch, wie es hier geschieht, ausgehend von dem in einer stofflichen Einheit realisierten Mehrwert durch Summation über die stoffliche Gesamtproduktion. Die beiden Darstellungen widersprechen sich nicht, lassen aber verschiedene Aspekte desselben Prozesses in den Blick treten.

Der hier gewählte Zugang ermöglicht es außerdem, die finale Krisendynamik mit der bereits von Postone (2003) analysierten Tendenz des Kapitals zur Umweltzerstörung in Beziehung zu bringen.

Der Text enthält einen kleinen mathematisierten Kern. Wer Formeln nicht leiden kann, sollte sie übergehen. Zum Verständnis wichtig sind die drei in den Text eingefügten Tabellen sowie eine Abbildung, deren Qualität sich auch ohne Formeln erschließt.

Die letzte Krise des Kapitals? Eine Kontroverse

Die darauf verweisende, erstmalig in dem Aufsatz Die Krise des Tauschwerts von Robert Kurz (Kurz 1986) gestellte Diagnose besagt – in groben Zügen –, dass sich das Kapital durch die von der Marktkonkurrenz induzierte, zwanghafte Erhöhung der Produktivität (oder Produktivkraft) das eigene Grab schaufele, weil es die Arbeit, damit aber seine eigene Substanz zunehmend aus dem Mehrwert schaffenden Produktionsprozess herausnehme. Eine besondere Rolle spiele in diesem Zusammenhang die „Produktivkraft Wissenschaft“ im Allgemeinen und die „mikroelektronische Revolution“ im Besonderen. Der Text lässt sich als eine Ausarbeitung und Aktualisierung einer bekannten Marx‘schen Feststellung aus dem Maschinenfragment der Grundrisse (593) lesen:

Unter den Kritikern dieser These einer finalen Krise des Kapitals spielt Michael Heinrich insofern eine besondere Rolle, als er sich zumindest partiell auf die Argumentationsebene einlässt, auf der diese These entwickelt wird. Da er von einer Zusammenbruchstendenz des Kapitals nichts wissen will, muss er sich gegen den Marx der Grundrisse positionieren und tut dies, indem er den Marx des Kapital gegen ihn ausspielt (Heinrich 2005: 177):

Kurz (1986: 28) stellt demgegenüber fest,

Offensichtlich (und nicht ganz überraschend) handelt es sich hier um eine Kontroverse. Ihr kann deswegen auf den Grund gegangen werden, weil die Kontrahenten einen gemeinsamen Ausgangspunkt haben, nämlich die von Marx in die Kritik der politischen Ökonomie eingeführte Kategorie des „relativen Mehrwerts“, aus der dann aber ganz verschiedene und sich sogar widersprechende Schlüsse gezogen werden. Der im Folgenden gemachte Versuch eines Beitrags zur Klärung muss daher erneut auf diesen gemeinsamen Ausgangspunkt zurückgehen. Die im Zusammenhang mit Kontroversen um die Krisentheorie der ehemaligen Krisis oft genannte Debatte zwischen Trenkle (1998) und Heinrich (1999) taugt hierfür übrigens nicht als Referenz, weil Trenkle, anders als Kurz (1986), in seiner Begründung für das Aufziehen einer finalen Krise die Produktion des relativen Mehrwerts überhaupt nicht erwähnt.

Produktivität, Wert und stofflicher Reichtum

Wenn Marx davon spricht (s. o.), dass das Kapital „die Arbeitszeit als einziges Maß und Quelle des Reichtums setzt“, dann ist vom wertförmigen Reichtum die Rede. Diese historisch spezifische, allein für die kapitalistische Gesellschaft gültige Form des Reichtums, die ihren „inneren Kern“ ausmacht (vgl. Postone 2003: 54), gerät für den Marx der Grundrisse zunehmend in Gegensatz zum „wirklichen Reichtum“ (Grundrisse: 592):

Der Wert ist die vorherrschende, nicht-stoffliche Form des Reichtums im Kapitalismus, auf die stoffliche Gestalt des wertförmigen Reichtums kommt es dabei nicht an. Kapitalistisches Wirtschaften zielt allein auf die Vermehrung dieser Form des Reichtums (Wertverwertung), die ihren Ausdruck im Geld findet: Eine wirtschaftliche Tätigkeit, die keinen Mehrwert verspricht, unterbleibt, auch wenn sie noch so viel stofflichen Reichtum hervorbringen würde. Warum auch sollte jemand sein Kapital in den Produktionsprozess werfen, wenn für ihn am Ende höchstens genauso viel Wert herauskäme wie anfangs hineingesteckt?

Stofflicher Reichtum – laut Postone (1993/2003: 296f) als dominante Form des Reichtums ein Kennzeichen nicht kapitalistischer Gesellschaften – misst sich dagegen in den zur Verfügung stehenden Gebrauchswerten, die sehr vielfältig sind und ganz verschiedenen Zwecken dienen können. 500 Tische, 4000 Hosen, 200 Hektar Boden, 14 Vorlesungen über Nanotechnik oder auch 30 Streubomben wären in diesem Sinne stofflicher Reichtum. An diesen Beispielen sollte Folgendes deutlich werden: Erstens wird stofflicher Reichtum nicht notwendig durch Arbeit erzeugt, er ist (wie etwa die Luft zum Atmen) noch nicht einmal an die Warenform gebunden, auch wenn er (wie der Boden) vielfach in diese Form gebracht wird. Zweitens besteht stofflicher Reichtum nicht notwendig aus materiellen Gütern, sondern es kann sich auch um Wissen, Informationen usw. und ihrer Verbreitung handeln. Drittens sollte man sich davor hüten, im stofflichen Reichtum das schlechthin „Gute“ zu sehen. Obwohl stofflicher Reichtum nicht an die Warenform gebunden und die Arbeit nicht seine einzige Quelle ist, so bildet er im Kapitalismus doch umgekehrt den „stofflichen Träger“ (MEW 23: 50) des Werts, der deswegen seinerseits an den stofflichen Reichtum gebunden bleibt. In der Warenproduktion deformiert deren Ziel, die Akkumulation von immer mehr Mehrwert also, wie selbstverständlich die Qualität des stofflichen Reichtums, dessen Produzenten nicht zugleich seine Konsumenten sind: Es kann hier nie um das Ziel maximalen Genusses beim Gebrauch des stofflichen Reichtums, sondern immer nur um das Ziel maximaler betriebswirtschaftlicher Effizienz gehen. Die Überwindung der kapitalistischen Gesellschaft wird daher nicht bloß darin bestehen können, den stofflichen Reichtum von den Zwängen der Kapitalverwertung zu befreien, sondern zu ihr gehört ebenso die Überwindung seiner durch den Wert induzierten Deformationen.

Dennoch gibt es auch hinsichtlich der qualitativen Beurteilung einen Unterschied zwischen beiden Reichtumsformen. Unter stofflichem Aspekt ist nur der Gebrauch entscheidend, der sich von den Dingen machen lässt. Aus dem Blickwinkel wertförmigen Reichtums spielt dagegen etwa bei der Frage, ob ich als Unternehmer lieber 500 Tische oder 30 Streubomben produziere, nur der Mehrwert eine Rolle, den ich damit jeweils erzielen kann.

Im Begriff der Produktivität wird von der Qualität des stofflichen Reichtums abstrahiert, weswegen ich in diesem Zusammenhang lieber von stofflichen Einheiten als von Gebrauchswerten spreche. Diese Beschränkung auf die Quantität ist mit Problemen behaftet, weil sich beispielsweise von 500 Tischen und 4000 Hosen nicht sagen lässt, worin der größere stoffliche Reichtum besteht, sie sind, da von verschiedener Qualität, auf der stofflichen Ebene nicht vergleichbar. Daher muss auch der Begriff der Produktivität, der beide Reichtumsformen zueinander in Beziehung setzt, nach den Qualitäten ausdifferenziert werden, die stofflicher Reichtum annehmen kann: Die Produktivität in der Produktion von Tischen ist eine andere als die in der Produktion von Hosen usw.

Im Folgenden liegt der Fokus auf den quantitativen Verhältnissen zwischen beiden, in der Warenproduktion geschaffenen Reichtumsformen. Sie liegen zwar zu jedem Zeitpunkt fest, sind aber, wie Marx (MEW 23: 60f) feststellt, ständig im Fluss:

Das gilt – man könnte sagen: natürlich – für die herrschende neoklassische Volkswirtschaftslehre, für die das ahistorische Ziel allen Wirtschaftens in der individuellen Nutzenmaximierung und diese wiederum in der optimalen Kombination von „Güterbündeln“ besteht, während der abstrakte Reichtum nur als „Geldschleier“ gilt, der die Allokation des stofflichen Reichtums bloß verdecke. und daher um der größeren Klarheit willen wegzuziehen, aus der Wirtschaftstheorie zu entfernen sei.

Ebenso gilt es aber auch für die klassische politische Ökonomie, so etwa für David Ricardo, wenn er in der Einleitung zu seinem Hauptwerk schreibt (Ricardo 1994: 1):

Die Anteile am Gesamtprodukt der Erde, die unter den Namen Rente, Profit und Lohn jeder dieser Klassen zufallen, werden jedoch in den verschiedenen Entwicklungsstufen der Gesellschaft sehr unterschiedlich sein ...

Das Hauptproblem der Politischen Ökonomie besteht im Auffinden der Gesetze, welche diese Verteilung bestimmen.“

Doch auch ein gestandener Werttheoretiker wie Michael Heinrich, dem die Unterscheidung von wertförmigem und stofflichem Reichtum durchaus geläufig ist, ist gegen die Gleichsetzung der Reichtumsformen nicht immer gefeit: Sein zentrales Argument gegen die von Kurz (1995) entwickelte These, dass die „produktive“ (Mehrwert schaffende) Arbeit abschmelze und der Anteil der „unproduktiven“, aus dem gesamtgesellschaftlich produzierten Mehrwert finanzierten Arbeit ständig zunehme, insgesamt also die Produktion des der Kapitalakkumulation zur Verfügung stehenden Mehrwerts sinke, lautet (Heinrich 1999: 4):

Derselbe, möglicherweise von Heinrich übernommene und bloß auf die Spitze getriebene Fehler findet sich in ISF (2000). Dort wird, wiederum gegen Kurz (1995) gerichtet, die Möglichkeit einer „kapitalistischen Dienstleistungsgesellschaft“ postuliert (ISF 2000: 70):

Es ist keineswegs zufällig, dass derartige Fehler von Leuten, die es eigentlich besser wissen, geradezu zwangsläufig dann auftreten, wenn sie gegen die Möglichkeit einer finalen Krise des Kapitals polemisieren. Denn die Diagnose des notwendigen Auftretens einer solchen Krise hängt – wie sogleich verdeutlicht werden soll – wesentlich an dem Unterschied zwischen den beiden genannten Reichtumsformen und darin, dass sie zunehmend auseinandertreten.

Die Produktion des relativen Mehrwerts

Die Tendenz zur Erhöhung der Produktivität der Arbeit gehört zu den immanenten Gesetzen der kapitalistischen Produktionsweise, da jeder Einzelbetrieb, dem es gelingt, durch Einführung einer neuen Technik die Produktivität der eigenen Arbeitskräfte über den aktuellen Durchschnitt hinaus zu erhöhen, seine Ware mit einem Extraprofit verkaufen kann. Das hat zur Folge, dass sich die neue Technik unter dem Zwangsgesetz der Konkurrenz verallgemeinert, der Extraprofit wieder verschwindet, und sich die entsprechende Ware verbilligt. Gehört sie ihrerseits dem Umkreis der zur Reproduktion der Arbeitskraft notwendigen Lebensmittel an, geht also in den Wert der Arbeitskraft bestimmend ein, so führt ihre Verbilligung auch zu einer Verbilligung der Arbeitskraft.

Bei gleichmäßiger Entwicklung der Produktivität und damit Verbilligung aller Waren, also auch der Ware Arbeitskraft, wird die notwendige Arbeitszeit ständig verringert, was aber nicht in einer Verkürzung des Arbeitstages resultiert, sondern in einer Verlängerung der Mehrarbeitszeit und damit der Erhöhung des je Arbeitstag produzierten Mehrwerts (MEW 23: 338/339):

In einem Einzelbetrieb (Zeile 2) werde nun eine neue Technik entwickelt, mit der die benötigte Arbeitszeit um 20%, also auf 800 Arbeitstage reduziert werden kann. Der Betrieb setzt diese Technik ein, weil er damit seinen Gewinn erhöhen und einen Innovationsvorteil erzielen kann: Solange sich die neue Technik noch nicht durchgesetzt hat, bleibt der Warenwert von ihr unberührt, weil im gesellschaftlichen Durchschnitt immer noch mit der alten Technik produziert wird. Obwohl der Einzelbetrieb jetzt um 20% billiger produziert, kann er die Ware zum alten Preis verkaufen. Obwohl in ihre Produktion nur noch 640 Tage bezahlter Arbeit eingehen, ist sie immer noch 1000 Arbeitstage wert. Der Einzelbetrieb realisiert damit einen Extraprofit, und zwar auch dann noch, wenn er die Ware etwas billiger verkauft als die Konkurrenz, um dadurch seinen Marktanteil zu erhöhen.1

Unter den Zwangsgesetzen der kapitalistischen Konkurrenz setzt sich die neue Technik in der gesamten Branche durch (Zeile 3), die die in Rede stehende Ware produziert: Betriebe, die bei der alten Technik blieben, würden unrentabel und fielen aus dem Markt. Am Ende eines solchen Verdrängungsprozesses wird nur noch nach der neuen Technik produziert, sie entspricht jetzt dem gesellschaftlichen Durchschnitt. Damit sinkt aber auch der Wert der Ware um 20%, und der Extraprofit verschwindet wieder. Gegenüber dem alten Zustand ist jetzt auch der in der stofflichen Einheit enthaltene Mehrwert um 20% gesunken.

Dieser für die Kapitalverwertung eher kontraproduktive, aber gleichwohl durch die Konkurrenz der Einzelkapitalien oder auch der „Standorte“ und Nationalökonomien zwingend hervorgebrachte Effekt kann dann kompensiert werden, wenn sich die Produktivitätserhöhung auch auf solche Waren bezieht, die für die Reproduktion der Arbeitskraft erforderlich sind: Geht man von einer allgemeinen Verringerung der zur Warenproduktion erforderlichen Arbeitszeit um 20% aus (Zeile 4), so verbilligt sich auch die Ware Arbeitskraft um eben diesen Anteil. Bei gleichem Reallohn sind jetzt nur noch 512 statt der vorher 640 Arbeitstage zur Reproduktion der Arbeitskraft erforderlich, und es verbleiben 288 Arbeitstage für die Mehrwertproduktion.

Die Produktion des relativen Mehrwerts erhöht in jedem Fall die Mehrwertrate und in dem Zahlenbeispiel der Tabelle 1 auch die in einer stofflichen Einheit enthaltene Mehrwertmasse, obwohl sich deren Gesamtwert verringert. Dadurch bleibt Raum für Erhöhungen des Reallohns, sowohl in dem Einzelbetrieb aus Zeile 2 als auch nach der allgemeinen Produktivitätserhöhung aus Zeile 4, wie es sie in der Geschichte des Kapitals ja durchaus gegeben hat und wodurch bei gleichzeitiger Verbilligung der Waren frühere Luxusgüter ebenso wie Produktinnovationen überhaupt erst in den Massenkonsum eingehen konnten. Also Friede, Freude, Eierkuchen?

Die Erhöhung der Produktivität führt bei gleich bleibendem Reallohn also immer zu einer Erhöhung der Mehrwertrate und einer Verringerung des Warenwerts. Dagegen unterliegt die in der stofflichen Einheit realisierte Mehrwertmasse zwei gegenläufigen Einwirkungen: Sie sinkt einerseits als Anteil des Gesamtwerts der Ware proportional zu diesem, andererseits steigt sie in dem Maße, wie der Anteil des Mehrwerts am Gesamtwert der Ware aufgrund der Verbilligung der Arbeitskraft steigt. Was im Ergebnis am Ende herauskommt, hängt davon ab, wie groß der Anteil der bezahlten Arbeit, auf deren Kosten allein sich die Mehrwertmasse erhöhen kann, zu Beginn der Innovation war: Ist die Mehrwertrate niedrig, der Anteil der notwendigen Arbeit also hoch, so steigt die Mehrwertmasse der stofflichen Einheit; sie sinkt dagegen, wenn die Mehrwertrate hoch, der Anteil der bezahlten Arbeit am Gesamtwert also niedrig ist.

Da diese Behauptung auf der Basis von nur zwei Zahlenbeispielen noch in der Luft hängt, ist eine allgemeinere Betrachtung unabhängig von speziellen Zahlenwerten erforderlich. Bei dieser Gelegenheit lässt sich auch klären, wo die Grenze zwischen „niedrigen“ und „hohen“ Mehrwertraten liegt.

Die hier dargestellten Zusammenhänge sind nicht empirischer Art, sondern es handelt sich bei ihnen um die Logik der Produktion des relativen Mehrwerts in Reinform, also unter der Annahme, dass die Länge des Arbeitstages ebenso wie die Höhe des Reallohns konstant bleibt und dass die Änderung der Produktivität in allen Branchen und für alle Produkte gleichmäßig erfolgt. In der kapitalistischen Wirklichkeit ist das selbstverständlich nicht so: Lohnhöhe und Arbeitszeit ändern sich permanent unter dem Einfluss gesellschaftlicher Auseinandersetzungen, und Produktivitätsschübe erfolgen über verschiedene Branchen hinweg durchaus ungleichzeitig und in unterschiedlichen Ausmaßen.2 Hinzu kommt, dass die Produkte selbst sich ständig verändern und immer neue Produkte hinzu kommen, während alte verschwinden. Unbestreitbar hat sich z. B. in der Automobilindustrie die Produktivität in den letzten 50 Jahren drastisch erhöht, nur müsste man zur genauen Quantifizierung ein heutiges Auto finden, das dem VW-Käfer der 1950er Jahre gleicht, und solch ein Auto gibt es nicht. Schon gar nicht könnte man die Produktion von CD-Playern mit der vor 30 Jahren vergleichen, weil es zu der Zeit noch gar keine CD-Player gab usw.

Insofern beschreibt die hier durchgeführte Rechnung und das in Abbildung 1 dargestellte Ergebnis nur eine Entwicklungstendenz, die man sich vielleicht auch ohne eine solche Rechnung hätte klar machen können. Doch diese Entwicklungstendenz gibt es wirklich. Sie hat ihren Grund in dem von Marx beschriebenen, von der Marktkonkurrenz induzierten und permanent wirkenden Zwang zur Reduzierung der Arbeitszeit, also der Erhöhung der Produktivität, die sich über alle Branchen und Produkte hinweg auch empirisch feststellen lässt. Notwendig ist auch, dass die in einer stofflichen Einheit realisierte Mehrwertmasse gegen Null tendiert, wenn die Produktivität unbeschränkt wächst und der Wert des Einzelprodukts damit langsam aber sicher verschwindet. Schließlich kann die Mehrwertmasse nie größer als die Wertmasse sein. Auf der anderen Seite ist klar, dass kein Mehrwert erzielt werden kann (und dann auch kein Kapitalismus möglich ist), solange die Produktivität gerade mal zur Reproduktion der Arbeitskraft ausreicht (m=0). Dass die vom Einzelprodukt getragene Mehrwertmasse irgendwo zwischen diesen beiden Grenzen ihr Maximum annimmt, ist daher auch ohne mathematische Modellrechnung plausibel.

Auf zweierlei ist hier noch einmal hinzuweisen: Erstens ist das Schema der Tabellen 1 bis 3 mit dem in Abbildung 1 dargestellten Ergebnis nicht nur auf einzelne Produkte, sondern ebenso auf beliebige „Warenkörbe“ oder auch auf den von ganzen Nationalökonomien z. B. in einem Jahr produzierten stofflichen Reichtum anwendbar, die daraus abgeleitete Entwicklungstendenz ist also allgemeinster Art. Zweitens kann die laut Marx dem entwickelten Kapitalismus adäquate Form der Mehrwertproduktion durch permanente Produktivitätssteigerung vom Kapital nicht einfach abgestellt werden, auch wenn sie auf Dauer seinen „Interessen“ zuwiderläuft, indem sie den in stofflichen Einheiten realisierten Mehrwert ebenso permanent verringert. Die hier beschriebene Dynamik wird angetrieben (Übergang zu Schritt 2 in den Tabellen 1 bis 3) durch die Konkurrenz, sei es die von Einzelbetrieben oder auch die von Staaten oder „Standorten“. Die Akteure folgen hier durchaus ihren eigenen Interessen und müssen schon um ihrer bloßen Weiterexistenz im Kapitalismus willen so handeln. Die damit in Gang gesetzte Dynamik ist daher der Wertförmigkeit des gesellschaftlichen Reichtums unauflöslich eingeschrieben. Sie ließe sich nur bremsen oder gar abstellen, indem der Wert abgeschafft wird.

Die Entwicklungstendenz des relativen Mehrwerts

Der Kapitalismus bewegt sich in eine eindeutige Richtung, nämlich im Laufe der Zeit zu immer höherer Produktivität. Diese Feststellung genügt bereits, um allen Vorstellungen den Boden zu entziehen, denen zufolge der Kapitalismus ein Prozess des immer gleichen Wechsels von Krisen und Akkumulationsschüben sei und schon daher aus seiner Eigendynamik heraus gar nicht zu einem Ende finden könne. Die in den letzten Jahren häufig gemeldeten reinen Rationalisierungsinvestitionen etwa, die bei gleichbleibender Produktion Arbeitsplätze abbauen, die Produktivität der verbleibenden Arbeitsplätze also erhöhen und das Einzelunternehmen damit rentabler machen, hätten in der Aufstiegsphase des relativen Mehrwerts einen Zuwachs der Mehrwertproduktion zur Folge gehabt, führen aber in der Abstiegsphase hoher Produktivität zu deren Verringerung und werden damit nicht nur für die von Entlassung betroffenen Arbeitskräfte lebensbedrohlich, sondern wirken auch für das Kapital insgesamt krisenverschärfend.

Es ist zwar nicht möglich, Aufstiegs- und Abstiegsphase des relativen Mehrwerts und den Umschlagpunkt, der durch die Mehrwertrate m'=1 markiert ist, historisch genau zu verorten, zumal es hier erhebliche Ungleichzeitigkeiten geben dürfte. Es lässt sich aber auch ohne genauere historisch-empirische Untersuchungen vermuten, dass in den Anfängen der Produktion des relativen Mehrwerts durch Kooperation (MEW 23: 341f), Arbeitsteilung und Manufaktur (MEW 23: 356f) die Produktivität wohl so gering gewesen ist, dass für einen Zuwachs der Mehrwerts je einzelner Ware „Luft nach oben“ blieb. Vielleicht ist das zu spekulativ, für die Frage nach der finalen Krise allerdings auch ohne Bedeutung. Dafür spielt nur die späte Phase des Kapitalismus eine Rolle, und es ist klar, dass wir heute den Umschlagpunkt von m'=1 weit hinter uns gelassen haben: Die Nettolohnquote im Deutschland des Jahres 2004 lag bei etwa 40%, was einer Mehrwertrate von 1,5 entspricht. Hierbei ist zusätzlich zu berücksichtigen, dass es sich um die Nettolöhne nicht nur der produktiven (Mehrwert produzierenden), sondern auch der unproduktiven (aus der gesamtgesellschaftlich produzierten Mehrwertmasse entlohnten) Arbeitskräfte handelt. Auf die Versuche einer genauen Abgrenzung produktiver und unproduktiver Arbeit will ich an dieser Stelle nicht eingehen (vgl. dazu Kurz 1995). Im Rahmen der Kritik der politischen Ökonomie ist aber unbestritten, dass alle Arbeiten, die in der bloßen Kanalisierung von Geldflüssen bestehen (Handel, Banken, Versicherungen aber auch viele Einzelabteilungen innerhalb ansonsten Mehrwert produzierender Betriebe), unproduktiv sind, also keinen Mehrwert schaffen (vgl. Heinrich 2005: 134). Das heißt aber, dass die Nettolohnquote der produktiven Arbeitskräfte noch einmal erheblich unter den genannten 40% und die Mehrwertrate entsprechend höher als 1,5 liegen muss.3

Seit einigen Jahrzehnten bereits lässt sich beobachten, dass das Kapital verstärkt auf die Produktion des absoluten Mehrwerts zurückgreift, also den Mehrwert durch die Verlängerung des Arbeitstages und die Senkung von Reallöhnen zu steigern versucht. Der permanente Zwang zur Produktivitätserhöhung ist damit natürlich nicht verschwunden, sodass keine Rede davon sein kann, der relative Mehrwert würde jetzt wieder durch den absoluten abgelöst, dafür sind dessen Möglichkeiten zur Produktivitätssteigerung schon wegen der natürlichen Begrenztheit des Arbeitstages zu gering, dessen Verlängerung unter den heutigen Bedingungen zudem keineswegs zu mehr Arbeit sondern nur zum Abbau von Arbeitsplätzen führt. Ebenso hat die Senkung von Reallöhnen eine natürliche Grenze, nämlich Null, und die Annäherung an sie bedeutet nur, dass die Reproduktion der Arbeitskraft vom Staat, damit aber aus der gesamtgesellschaftlich produzierten Mehrwertmasse zu finanzieren ist.

Die Produktion des absoluten Mehrwerts gehört Marx zufolge einer frühen Form der kapitalistischen Produktionsweise an, in der die Arbeit nur formell unter das Kapital subsumiert war, die Arbeitskräfte also für einen Kapitalisten arbeiteten, die konkrete Arbeit aber auf der stofflichen Ebene noch nicht an das Kapital gebunden war. Die Produktion des relativen Mehrwerts setzt dagegen die reelle Subsumtion der Arbeit unter das Kapital voraus, das jetzt selber den technischen Prozess der konkreten Arbeit definiert, in dem die Arbeitskräfte eingesetzt werden (MEW 23: 532/533). Wenn das Kapital heute wieder auf die Produktion des absoluten Mehrwerts zurückgreift, so bedeutet das keineswegs, dass die reelle Subsumtion der Arbeit unter das Kapital aufgehoben wäre, sondern es handelt sich um eine auf Dauer gesehen erfolglose Reaktion auf den Niedergang der Produktion des relativen Mehrwerts, der – wie hier gezeigt – ein endgültiger ist. Vor diesem Hintergrund ist auch der Schluss inadäquat, zu dem Heinrich (1999: 5) kommt, indem er feststellt, der Kapitalismus würde von den „fast schon idyllischen Zuständen“ des Fordimus zu seiner „normalen Funktionsweise“ zurückkehren, womit wohl die präfordistische Phase gemeint ist. Damit wird schlicht übergangen, was sich seither in Sachen Produktivität getan hat, und in dieser Hinsicht unvergleichliche Entwicklungsphasen des Kapitalismus einfach gleichgesetzt. Das ist bestenfalls eine Argumentation mit Erscheinungsformen, und in der Tat kann man auf dieser Ebene die Ausbeutungsverhältnisse etwa im heutigen China mit denen des westeuropäischen Kapitalismus des 19. Jahrhunderts durchaus in Beziehung bringen. Die Tiefenströmung der kapitalistischen Dynamik bleibt einer solchen Betrachtungsweise aber verschlossen.

Es ist mir nicht klar, ob Marx selber seine Analyse des relativen Mehrwerts über den hier identifizierten Umschlagpunkt hinausgetrieben hat, wodurch er erst die Verbindung zu seiner Charakterisierung des Kapitals als „prozessierenden Widerspruch“ in den Grundrissen hätte herstellen können. Tatsächlich operiert er im entsprechenden Kapitel des Kapital (MEW 23: 331f) ausschließlich mit Zahlenbeispielen vom Typ der Tabelle 1, also mit niedriger Mehrwertrate (z. B. ein zwölfstündiger Arbeitstag mit zehn Stunden notwendiger und zwei Stunden Mehrarbeit). Heinrich scheint die Entwicklungstendenz des relativen Mehrwerts zu sehen, er könnte es aufgrund der vom ihm gewählten Zahlenbeispiele jedenfalls, nur spricht er die Konsequenz nicht aus bzw. wehrt sie, wo er sie doch benennt, sogleich ab (Heinrich 2005: 177/178):

Zweifellos erscheint hier eine „absolute logische und historische Schranke“ des Kapitals (Kurz 1986: 28) und damit das Ende seiner Akkumulationsfähigkeit im Blickfeld. Auch wenn sich auf der hier eingenommen Abstraktionsebene die Verlaufsform der absehbaren Krisendynamik nicht bestimmen lässt, sollen abschließend doch – unter Einbeziehung der ökologischen Frage – die keineswegs eindeutigen Richtungen ins Auge gefasst werden, in die sich der hier identifizierte Widerspruch von Stoff und Form mehr oder weniger gewaltsam auflösen kann.

Wachstumszwang, historische Expansion des Kapitals und stoffliche Grenzen

„Wenn Wert die Form des Reichtums ist, ist das Produktionsziel notwendigerweise Mehrwert. Das heißt, das Ziel kapitalistischer Produktion ist nicht einfach Wert, sondern die ständige Vermehrung des Mehrwerts.“ (Postone 2003: 465) Diese hat ihren Grund darin, dass im kapitalistischen Produktionsprozess „auf erweiterter Stufenleiter“ (MEW 23: 605f) das sich verwertende Kapital im Verwertungsprozess sich vermehren und daher auch einen immer größer werdenden Mehrwert aus sich „erzeugen“ muss, indem es eine entsprechend größer werdende Anzahl von Arbeitskräften einsaugt und ausbeutet.

Bei wachsender Produktivität potenziert sich auf der stofflichen Ebene dieser Wachstumszwang noch einmal: Wenn zur Realisierung des gleichen Mehrwerts die Produktion von immer mehr stofflichem Reichtum erforderlich wird, dann muss der stoffliche Output des Kapitals entsprechend noch stärker wachsen als die Mehrwertmasse. Wie gesehen, gilt das für die schon seit längerer Zeit erreichte Abstiegsphase der Produktion des relativen Mehrwerts. Stößt diese Expansionsbewegung nun auf Grenzen, weil der ständig zunehmende stoffliche Reichtum ja nicht bloß produziert, sondern auch zahlungsfähige Abnehmer finden muss, so kommt eine irreversible Krisendynamik in Gang: Ein konstant bleibender oder auch bloß weniger schnell als die Produktivität wachsender stofflicher Output hat eine immer geringer werdende Mehrwertproduktion zur Folge, wodurch sich wiederum die Möglichkeiten des Absatzes des stofflichen Outputs verringern, was dann verstärkt auf das Sinken der Mehrwertmasse durchschlägt usw. Eine solche Abwärtsbewegung erfasst nun keineswegs alle Einzelkapitale gleichmäßig, sondern von ihr sind in erster Linie die weniger produktiven betroffen, die aus dem Markt verschwinden müssen bis hin zum Zusammenbruch ganzer Volkswirtschaften wie etwa die der osteuropäischen Länder Anfang der 1990er Jahre. In die dadurch entstehenden Leerstellen kann das verbleibende Kapital hineinstoßen und erst einmal wieder expandieren, wodurch an der Oberfläche der Eindruck entsteht, ihm gehe es ungeheuer gut. Das mag für die jeweils Überlebenden und den Augenblick sogar zutreffen, nur ändert es nichts am Charakter der Gesamtbewegung.

Das Wachstum der Mehrwertmasse und – bei wachsender Produktivität – das damit verbundene noch stärkere Wachstum des stofflichen Outputs ist bewusstloser „Lebenszweck“ des Kapitals und Bedingung sine qua non des Fortbestehens der kapitalistischen Produktionsweise. Diesem ihm immanenten Wachstumszwang, der Notwendigkeit seiner schrankenlosen Akkumulation also, ist das Kapital in der Vergangenheit durch einen historisch beispiellosen Expansionsprozess nachgekommen. Kurz (1986: 30f) nennt als seine wesentlichen Momente erstens die schrittweise Eroberung aller schon vor und unabhängig von ihm bestehenden Produktionszweige und die damit verbundene Überführung der Arbeitsbevölkerung in die Lohnabhängigkeit, was auch die Eroberung des geografischen Raums beinhaltet (im Kommunistischen Manifest als „Jagd der Bourgeoisie über die Erdkugel“ schaudernd bewundert), und zweitens die Schaffung neuer Produktionszweige für (ebenfalls erst zu schaffende) neue Bedürfnisse, über den Massenkonsum verbunden mit der Eroberung auch des abgespaltenen „weiblichen“ Raums der Reproduktion der Arbeitskraft und neuerdings der allmählichen Aufhebung der Trennung von Arbeit und Freizeit.5

Die Räume, in die das Kapital damit expandiert ist, sind stofflicher Art, daher notwendigerweise endlich und irgendwann ausgefüllt. Für das erstgenannte Moment des Expansionsprozesses ist das heute zweifellos der Fall: kein Flecken auf der Erde und kein Produktionszweig, der nicht dem Zugriff des Kapitals ausgeliefert wäre. Daran ändert auch die vorhandene Subsistenzproduktion nichts, denn bei ihr handelt es sich nicht um einen vormodernen Rest sondern um einen Notbehelf, mit dem aus der kapitalistischen Produktion Herausgefallene ihr Überleben mehr schlecht als recht zu sichern versuchen.

Umstritten ist dagegen die Frage, ob auch das zweite Moment des kapitalistischen Expansonsprozesses endgültig an sein Ende gekommen ist. Es beruhte wesentlich auf einer Ausweitung des Massenkonsums, die aber nur dann möglich ist, wenn die Reallöhne entsprechend steigen, wovon dann wiederum die Produktion des relativen Mehrwerts betroffen ist. In der Hochphase des Fordismus nach dem 2. Weltkrieg – Zeiten der Vollbeschäftigung – ließen sich gewerkschaftliche Forderungen nach Lohnerhöhungen in der Höhe des Produktivitätswachstums zeitweise auch durchsetzen. Im Rechenschema der Tabellen 1 bis 3 bedeutet das jeweils einen Übergang von Zeile 1 zu Zeile 3 (statt Zeile 4) mit konstant bleibender Mehrwertrate und einem Sinken um den Faktor 1/p der Mehrwertmasse je stofflicher Einheit, das eine Zeit lang durch das Wachstum des Massenkonsums überkompensiert werden konnte. Dieser Prozess ließ sich aber bei ständig weiter wachsender Produktivität und allmählicher Sättigung der Märkte für die neuen Produktionszweige (etwa Automobile oder Haushaltsgeräte) nicht dauerhaft aufrecht erhalten. Kurz (1986: 31f.) fasst die Situation, wie sie sich Mitte der 1980er Jahre darstellt, folgendermaßen zusammen:

„Beide wesentlichen Formen oder Momente des kapitalistischen Ausdehnungsprozesses beginnen heute aber auf absolute stoffliche Grenzen zu stoßen. Der Sättigungsgrad der Kapitalisierung wurde in den sechziger Jahren erreicht; diese Quelle der Absorbtion lebendiger Arbeit ist endgültig zum Stillstand gekommen. Gleichzeitig impliziert das Zusammenfließen von naturwissenschaftlicher Technologie und Arbeitswissenschaft in der Mikroelektronik eine grundsätzlich neue Stufe in der Umwälzung des stofflichen Arbeitsprozesses. Die „mikroelektronische Revolution“ eliminiert nicht nur in dieser oder jener spezifischen Produktionstechnik lebendige Arbeit in der unmittelbaren Produktion, sondern erstmals auf breiter Front und quer durch alle Produktionszweige hindurch, selbst die unproduktiven Bereiche erfassend. Dieser Prozeß hat gerade erst angefangen ... Soweit in diesem Prozeß neue Produktionszweige geschaffen werden, etwa in der Produktion der Mikroelektronik selbst oder in der Gentechnologie, sind sie ihrem Wesen nach von vornherein wenig arbeitsintensiv in der unmittelbaren Produktion. Damit bricht die bisherige historische Kompensation für die im relativen Mehrwert angelegte absolute immanente Schranke der kapitalistischen Produktionsweise zusammen. Die massenhafte Eliminierung lebendiger Produktionsarbeit als Quelle der Wertschöpfung kann nicht mehr durch neu in die Massenproduktion tretende „verwohlfeilerte“ Produkte aufgefangen werden, weil diese Massenproduktion nicht mehr durch ein Wiedereinsaugen vorher und anderswo „überflüssig gemachter“ Arbeitsbevölkerung in die Produktion vermittelt ist. Damit kippt das Verhältnis von Eliminierung lebendiger Produktionsarbeit durch Verwissenschaftlichung einerseits und Absorbtion lebendiger Produktionsarbeit durch Kapitalisierungsprozesse bzw. Schaffung neuer Produktionszweige andererseits historisch unwiderruflich um: von nun an wird unerbittlich mehr Arbeit eliminiert als absorbiert werden kann. Auch alle noch zu erwartenden technologischen Innovationen werden immer nur in die Richtung weiterer Eliminierung lebendiger Arbeit gehen, alle noch zu erwartenden neuen Produktionszweige werden von vornherein mit immer weniger direkter menschlicher Produktionsarbeit ins Leben treten.“

Heinrich (2005: 178) bezeichnet den direkten Bezug der „Kurzschen Zusammenbruchstheorie“ zur „mikroelektronischen Revolution“ etwas höhnisch als „technologischen Determinismus“, der „ganz wunderbar zu dem von Kurz ansonsten heftigst kritisierten «Arbeiterbegungsmarxismus»“ passe. Dabei geht es hier, wie auch Heinrich durchaus sieht, nicht um eine ganz spezielle Technik, sondern darum, dass sie die Arbeit weitgehend überflüssig mache, wogegen er auch in seiner „ausführlicheren Kritik“ (Heinrich 1999) kein Argument aufbringt. Einem Werttheoretiker müsste das aber doch eigentlich zu denken geben, denn eine Krise des Kapitals könnte daraus nur dann nicht resultieren, wenn Wert und Mehrwert nicht in Arbeitszeit gemessen, sondern naturwissenschaftliche Technik die Anwendung unmittelbarer Arbeit als Wertquelle abgelöst hätte, wie es ein Habermas meint. So weit geht Heinrich allerdings nicht.

Richtig ist dagegen – und hierin wäre Heinrich, hätte er es denn gesagt, recht zu geben –, dass eine auf das Hier und Jetzt bezogene Prognose, der zufolge „von nun an unerbittlich mehr Arbeit eliminiert (wird) als absorbiert werden kann“, sich nicht allein aus der auf einer abstrakteren Ebene angesiedelten Kategorie des relativen Mehrwerts ableiten lässt, sondern dass dazu empirische Indizien hinzukommen müssen. Die gibt es zuhauf, und Kurz führt sie auch an. Aber natürlich kann der empirische Schein trügen und das Kapital sich noch einmal berappeln, es fragt sich dann nur, mit welchen Folgen für sich selbst und die Menschheit.

Diese Unsicherheit über den weiteren Verlauf der Krisendynamik ändert nämlich nichts daran, dass das Kapital an seiner eigenen Dynamik zugrunde gehen muss, wenn es nicht vorher durch bewusste menschliche Handlungen überwunden wird. Das folgt allein schon aus seinem schrankenlosen Wachstumszwang auf der einen und der Endlichkeit menschlicher und stofflicher Ressourcen, auf die es angewiesen bleibt, auf der anderen Seite.

Hüller (2006) hat bereits darauf hingewiesen, dass die gesamtgesellschaftliche Profitrate (Akkumulationsrate) schon deswegen sinken muss, weil die dem Kapital auf dieser Erde zur Verfügung stehende Arbeitskraft nun einmal endlich ist, eine konstante Profitrate aber eine exponentiell wachsende Arbeitsbevölkerung zu ihrer Voraussetzung hätte.6 Dabei wurde die Produktion des relativen Mehrwerts noch nicht einmal in Rechnung gestellt. Tut man das, so zeigt sich, dass eine konstante oder selbst exponentiell wachsende stoffliche Produktion bei zu geringer Rate des „realen Wachstums“ (unterhalb der Wachstumsrate der Produktivität) eine exponentiell fallenden Mehrwertmasse (und entsprechend fallende Größe der produktiven Arbeitsbevölkerung) zur Folge hat.

Die Feststellung, dass „von nun an unerbittlich mehr Arbeit eliminiert (wird) als absorbiert werden kann“, beruht wesentlich auf der Voraussetzung, dass das Kapital nicht mehr in der Lage sein werde, mit Produktinnovationen die durch die Prozessinnovationen induzierten Verluste der Wert- und Mehrwertproduktion aufzufangen. Dafür spricht viel, jedenfalls ist von derartigen Innovationen auch heute – 22 Jahre später – weit und breit nichts zu sehen. Wie gesagt geht es hier nicht um neue Produkte und zugehörige Bedürfnisse schlechthin, sondern um solche, deren Produktion so massenhaft Arbeit erfordert, dass damit die Rationalisierungspotenzen der Mikroelektronik mindestens kompensiert würden. Sollte sich diese Prognose dennoch als falsch erweisen, wäre damit der hier aufgezeigte Widerspruch von Stoff und Form aber keineswegs aufgelöst, sondern er müsste sich dann in einer anderen Richtung gewaltsam entladen.

Wachstumszwang und Umweltzerstörung

Die Frage ist daher nicht, ob die Umwelt um der Wertverwertung willen zerstört wird, sondern allenfalls, in welchem Maße. Und dabei spielt das Wachstum der Produktivität, solange es – als Produktion des relativen Mehrwerts – an den Wert als vorherrschende Form des Reichtums gebunden bleibt, eine durchaus unheilvollen Rolle, weil die Realisierung derselben Mehrwertmasse einen immer größeren stofflichen Output und einen noch größeren Ressourcenverbrauch erfordert: Der Übergang von alten zu neuen Techniken zum Zwecke der Verringerung der benötigten Arbeitszeit erfolgt nämlich in der Regel dadurch, dass menschliche Arbeit durch Maschinen ersetzt oder beschleunigt wird. Man nehme z. B. idealtypisch an, dass im Rechenschema der Tabellen 1 bis 3 mit der alten Technik in 1000 Arbeitstagen 10000 Hemden gefertigt werden, zu deren Herstellung nur Tuch und Arbeit erforderlich sind. Die neue Technik könnte dann darin bestehen, die für die Produktion derselben Menge an Hemden benötigte Arbeitszeit auf 500 Arbeitstage zu reduzieren, dazu aber Maschinen und zusätzliche Energie einzusetzen und zu verbrauchen, die ihrerseits in 300 Arbeitstagen produziert werden können. Das hieße aber in der Situation von Tabelle 2 (m1'>1), dass mit der neuen, rentableren Technik zur Realisierung desselben Mehrwerts wie mit der alten nicht nur mehr als 10000 Hemden, sondern darüber hinaus zusätzliche Maschinen und Energie kapitalistisch produziert werden müssten, die im Produktionsprozess verbraucht würden. Das bedeutet, dass für denselben Mehrwert ein immer größerer Ressourcenverbrauch nötig wird, der größer ist und noch schneller wächst als der erforderliche stoffliche Output.

Hätte Kurz (1986) also unrecht und würde die Kapitalakkumulation unbeschränkt weitergehen, so wäre über kurz oder lang die Zerstörung der stofflichen Grundlagen der Kapitalverwertung, aber eben auch menschlichen Lebens überhaupt die unausweichliche Folge.

Moishe Postone zieht aus dem von ihm in ähnlicher Weise analysierten, durch die Produktion des relativen Mehrwerts hervorgebrachten Widerspruch zwischen stofflichem und wertförmigem Reichtum diesen Schluss (Postone 1993/2003: 469):

Als wöchentlich zu beobachtender Eiertanz um das „ökologisch Notwendige“ und das „ökonomisch Machbare“, die unvereinbar geworden sind, zeigt sich dieses Dilemma auch in der politischen Behandlung der angekündigten Klimakatastrophe, die ja nur eines von vielen Umweltproblemen ist. Die Politik kann sich vom Kapital nicht emanzipieren, da die schon der Steuergelder und damit ihrer eigenen Handlungsfähigkeit wegen auf eine gelingende Mehrwertproduktion angewiesen ist. Daher muss sie bereits über den eigenen Schatten springen, nur um Beschlüsse zu fassen, die weit unterhalb der sachlichen Erfordernisse des zu lösenden Problems bleiben und dennoch eine Woche später unter dem Druck irgendeiner Lobby des „ökonomisch Machbaren“ schon wieder aufgeweicht werden. Was bleibt, ist Selbstinszenierung pur von „Machern“, die auch die objektiv unlösbaren Probleme angeblich noch im Griff haben.

Fazit

Ausgeblendet bleibt auch die Bedeutung des Finanzkapitals, über das hier deshalb noch ein paar Worte zu verlieren sind, weil es von einigen als der eigentliche Verursacher der Krise angesehen wird, während andere meinen, es könne den Kapitalismus vor dem endgültigen Absturz retten. Beides ist falsch. Richtig ist, dass im späten Kapitalismus die Wertverwertung ohne Finanzkapital nicht möglich wäre, weil auf dem Stand der erreichten Produktivität die erforderlichen riesigen kapitalistischen Aggregate durch Eigenkapital allein schon lange nicht mehr finanzierbar wären. Nur wird damit das Finanzkapital zwar zum unerlässlichen „Schmiermittel“, nicht aber zum „Treibstoff“ der Mehrwertproduktion, die an die Verausgabung von Arbeit gebunden bleibt. Die Wertverwertung ist freilich nicht deshalb ins Stocken gekommen, weil das Kapital böswillig in den Finanzsektor flüchtet, sondern umgekehrt: Weil die Kapitalverwertung bereits seit mehreren Jahrzehnten ins Stocken geraten ist, flüchtet das Kapital in den Finanzsektor mit seinen höheren, wenngleich, gesamtwirtschaftlich gesehen, fiktiven Renditen. Diese Flucht wirkt – im Sinne eines globalen und gegen alle neoliberale Ideologie keynesianischen deficit spending – zunächst einmal krisenaufschiebend; doch je länger das gelingt, desto größer der Knall, mit der die Krise sich schließlich durchsetzen muss. Die der postmodernen Virtualitäts-Phantasie entsprungene Vorstellung eines Kapitalismus jedenfalls, der dauerhaft durch einen ausufernden Finanzsektor „reguliert“ wird, dem keine reale Mehrwertproduktion mehr gegenübersteht, ist mindestens so abenteuerlich wie die Vorstellung einer Mehrwertproduktion ohne Arbeit allein durch die „Produktivkraft Wissenschaft“.

Die damit bezeichnete Wahl zwischen Pest (dem allmählichen Verschwinden der Arbeit und den damit im Kapitalismus verbundenen sozialen Folgen) und Cholera (dem ökologischen Kollaps) ist noch nicht einmal eine Alternative, sondern vermutlich blüht uns beides zugleich – eine fallende Mehrwertproduktion bei gleichzeitig wachsendem Ressourcenverbrauch –, überlagert von der Aussicht auf Kriege um die immer knapper werdenden, in der Kapitalverwertung verschleuderten stofflichen Ressourcen und um die Chancen, auch noch ihre letzten verbliebenen Reste verwerten zu dürfen.

Prognosen über die Verlaufsform des Niedergangs wären daher auf der Basis der hier durchgeführten Untersuchungen reine Spekulation, doch von einem Ende – so oder so – des Kapitalismus als Gesellschaftsformation sollte schon gesprochen werden, in anderem Sinne allerdings, als Heinrich (1999: 178) in Bezug auf die „Kurzsche Zusammenbruchstheorie“ meint:

Literatur

Anmerkungen




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