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Elmar Flatschart


Elmar Flatschart

Wunschträume des gefallenen Theoretikers. Oder: Grüße aus der real existierenden Bewegung

Zugegeben: nicht jede, die sich mit der Kritik des herrschenden Systems beschäftigt, muss die gesammelten Werke Adornos gelesen haben. Für manche, die recht unmittelbar in emanzipatorischen Bewegungen engagiert sind, ist die Beschäftigung mit der Kritischen Theorie Frankfurter Schule (im Gegensatz zur sachten Tuchfühlung mit kritischer Theorie schlechthin) vielleicht sogar entbehrlich, allzu abstrakt und verklausuliert. Tatsächlich wird sich die Welt nicht hinterm Schreibtisch verbessern lassen, hierfür bedarf es sozialer Interaktion, Emotion, Neuentdeckungen, Lust auf Leben und vor allem unsicherer Versuche, etwas anders zu machen. Im hier verhandelten Text von Martin Scheuringer „Ohne kritische Theorie schmeckt‘s besser“ (Streifzüge 45/2009) geht es darum jedoch nicht. In Wirklichkeit geht es dort auch nicht um eine inhaltliche Kritik der Kritischen Theorie, welche der Autor in ihrer „Wahrheit“ ja sogar anerkennt. Worum es sich handelt, ist kurz gesagt schnöde Apologetik der bürgerlichen Subjektform. Weil darin kein Fünkchen emanzipativer Gehalt liegt (und nicht weil ich hier die „Sache“ der Kritischen Theorie selbst verhandeln will), bedarf es hier dringend harter Ideologiekritik.

Was ist der Kern der Argumentationslinie? Es wird versucht, einen Gegensatz zwischen abstrakter Theorie und unmittelbarer Sinnlichkeit aufzubauen. Demnach wäre das „Nein“, der immanente kritisch-negative Impetus der Theorie selbst Kern des Problems, ließe keine „sinnlich greifbaren“ Ziele mehr zu. Der Theoretiker(!) als Inkarnation dieser Abstraktion wird dabei als leeres, gleichgültiges und emotionsloses „Gespenst“ dargestellt, der sich als Zombie der Entsinnlichung beständig vom wirklichen Kern des Lebens abstößt. Nun bringt die Form Theorie in den herrschenden Verhältnissen zwar abstraktifizierende Momente mit sich, welche – gemäß dem fetischistischen Gesamtzusammenhang, auf den sie sich bezieht und aus dem sie selbst hervorgeht – die Gefahr mit sich bringen, über das durchschnittliche Maß hinaus verdinglichten und selbstzweckhaften Formalismen zu verfallen. Dennoch ist der/die TheoretikerIn letztlich nichts als eine Spielart der allgemeinen Daseinsform, des männlich-weißen-westlichen Normalsubjekts. Die kritische Theorieproduktion in den herrschenden Verhältnissen ist folglich eine durch und durch widersprüchliche Angelegenheit: der/die Theorieproduzent/in schafft in einer hochgradig systemimmanenten Form einen negativen Inhalt, der diese Form (und damit sich selbst) zu transzendieren sucht. Diese Aporie lässt sich nicht einfach auflösen, sondern ist Teil der Verhältnisse, solange sie sind. Teilweise findet sich dies auch bei Franz Schandl in seiner „Kritik des Theoretikers“ (Streifzüge 43/2008) . Scheuringer schlägt jedoch in eine andere Kerbe, er zeigt nicht die Widersprüchlichkeit der Theorieproduktion auf, sondern plädiert ganz unmittelbar für die Affirmation der herrschenden Subjektform. Unter dem Motto „Raus aus dem Denken, rein in die Welt“ will das bürgerliche Subjekt bloß seine eigene kleine Welt retten, ein auf den ersten Blick durchwegs naheliegender, aber genauer betrachtet umso falscherer Ansatz. Falsch nämlich nicht nur hinsichtlich der Theorie, die ja im Aufsatz verächtlich aus einer vermeintlich lebensweltlichen Perspektive hinterfragt wird; falsch auch im Bezug auf unmittelbar-sinnliche Praxen selbst. Denn diese sind nicht so einfach zu haben, wie sich das der gefallene Theoretiker vorstellt.

Mag auch die Leidensgeschichte des sich entäußernden Individuums noch so mitleiderweckend sein – die Rettung liegt nicht in der Rückkehr zum Status quo ante bürgerlich-männlicher Borniertheit. Um nichts anderes handelt es sich, da nicht eine erst zu entdeckende Sinnlichkeit in den Raum gestellt wird, sondern schlicht die herrschenden Muster des Sinnlichkeits-Spektakels bedient werden. Dabei wird erneut bloß auf verallgemeinerte Formen der falschen Unmittelbarkeit verwiesen. Am deutlichsten wird dies, wenn es an die süffisante Lehrmeisterei geht: in der reinen Satzgestalt kategorischer Imperative wird das Programm der Schein-Emanzipation in leeren Du-Sollst-Geboten eingebunkert. Befreiung aus der kapitalistischen Realmetaphysik? Der alte Kant mag für einiges herhalten, jedoch beim besten Willen nicht als Lehrmeister der Sinnlichkeit und Unmittelbarkeit… Ähnlich paradox sind die im Text verstreuten netten Parolen auf den zweiten Blick auch – es sind die Träume des männlich-weißen-bürgerlichen Subjekts in ihrem ideellen Durchschnitt, auf der Höhe der Zeit. Dabei handelt es sich um nichts Geringeres als die Scheinwelt des männlich-patriarchalen Theoriemackers: endlich darf er „die Momente wieder als seine wahrnehmen“, es genießen zu „vögeln“ und „Frauen rumzukriegen“ – die perfekte Erektion inklusive. Ein wahrer Mann also, nicht der kümmerliche Theoretiker, der sich bloß das Denken unterwirft, anstatt die Frau zu beglücken mit dem „Orgasmus, der das Denken für Minuten lahm legt“. Davor bedarf es selbstredend eines deftigen Rausches, um jeglichen Rest „kritischen Denkens auszuschalten“, oder noch besser: „Jazz & LSD“. Sex, Drugs & Rock’n‘Roll für Theoretiker quasi. Es wird schnell offensichtlich, dass dies bloß hohle Projektionen sind. Auf Basis dieser Logik der patriarchalen Abspaltung vermag nichts anderes gedeihen: der Mann als „Sisyphos der Sinnlichkeit“ kann zur sinnlichen Erfahrung nicht durchdringen, gerade wenn er sich die Frau als Objekt der Sinnlichkeit unterwirft. Diese Dialektik des Geschlechterfetischismus sollte eigentlich als Basis jeglicher handlungstheoretischen Perspektive zugrunde liegen. Doch selbst wenn die reflexiven Fähigkeiten nicht so weit gediehen sind – zur Vermeidung vulgärer sexistischer Äußerungen, die Frauen auch noch diskursiv als bloßes Anhängsel und Objekt des „(Non-)Theoretikers mit der Erektion“ degradieren, muss es reichen. Wenn Frauen sich im Gesamtensemble eines Textes nicht einmal mehr wiederfinden können (geschweige denn berücksichtigt werden), kann schlicht nicht mehr von einem emanzipatorischen Rahmen die Rede sein.

Der Versuch des „guten und schönen Lebens“ ist hier also von vornherein ideologisch verbaut. Um eine derart jenseitige Perspektive auf „Unmittelbarkeit“ überhaupt aufrecht erhalten zu können, bedarf es projektiver Verfahren nicht nur hinsichtlich der Ideen von Sinnlichkeit selbst, sondern auch was den/die „GegnerIn“ betrifft. Die Dichotomie zwischen „ihr Theoretiker“ und „uns Menschen“ folgt dabei einem nur allzu bekannten Muster: „Wir“ die eigentlichen, echten Menschen, „ihr“ die besserwissenden KlugscheißerInnen, die uns so einiges antun; uns nicht sein lassen, wie wir sind. Das ist tiefste Schublade, nicht nur dem argumentatorischen Muster nach, sondern auch, weil es anthropologische Essentialismen reproduziert, die so nicht haltbar sind: Es gibt nicht den Menschen, der hinter der Fassade des Kapitalismus (oder seiner Theoretiker) steckt und bloß hervorgebracht werden müsste. Diese Art von krudem Entfremdungsdenken hat nichts mit der Kritik des modernen Fetischismus zu tun, die vielmehr von einer zwar negativen, aber konstitutiv-produktiven wie auch inhaltlich-pluralen Vorstellung der Subjektwerdung ausgeht – das „wir“ muss somit von vornherein als ideologische Schein-Identität entlarvt werden, die nur in der leeren (strukturell männlichen) Subjektform aufgeht. „Die Menschen“, die sozialen Verhältnisse, welche wir suchen, müssen erst noch von uns geschaffen werden. Dabei muss die Basis dessen, was heute die durchschnittliche Sozialisierung (auch der Bedürfnisse, Lüste, Begehren und Wünsche) ausmacht, transzendiert werden. Emanzipation baut zwar auf Bestehendem auf, aber ist eben vor allem ein Prozess der Selbstreflexion, Entwicklung und des inter-subjektiven Ausprobierens, kurzum: der radikalen Transformation. Hierfür kann es keine Rezepte geben, schon gar keine kategorischen Imperative im Sinne des „du sollst“ (allerhöchstens klare Vorgaben von „du sollst nicht“). Aber dass es die nicht gibt, ist eigentlich auch kein Problem – wenn eins nicht vereinzelt dasteht, sondern Teil eines Ensembles ist, in dem sich individuelle und kollektive Lernprozesse gegenseitig stützen. Der/die TheoretikerIn kann und muss sich nicht noch seine/ihre Emanzipation selbst denken. Emanzipative Prozesse funktionieren aber auch kaum vereinzelt. Sie setzen soziale Bewegungen voraus, in denen – politisch wie auch antipolitisch – alternative und widerständige Praxisformen gedeihen können. Und diese Bewegungen gibt es, mit all ihren Schwächen und Macken. Sinnlichkeit mag sich dann nicht nur auf Rausch oder überhaupt nur „Positives“ reduzieren (wobei jener und jenes schlechthin natürlich genauso ihren Platz haben); auch ein Bullenknüppel, die mühsame Gestaltung alternativer Freiräume oder die wenig wohl riechende Erfahrung des Containerns (Bio-Müll Recycling für den gemeinsamen Kochtopf) können etwas sehr unmittelbares sein, das vielleicht eindringlichere Transformationen im gequälten bürgerlichen Subjekt hervorruft, als zig Stunden Jazz&LSD. Können, müssen aber nicht, denn es gibt weder einen Masterplan der Emanzipation, noch für die Sinnlichkeit.

Klar ist nur, dass sie nicht bloß als persönlicher Prozess der „Wiederaneignung“ und des „Genießens“ verstanden werden kann. Diese individualisierte Vorstellung ist nicht nur konform mit der bornierten Sichtweite des klassischen bürgerlichen Subjekts, das sich und andere gar nicht anders als vereinzelt wahrnehmen kann (Stichwort: methodologischer Individualismus). Sie ist auch Ansatzpunkt für die „Abstraktionsschwierigkeiten“, die sich im Text auftun. Der Grundtenor ist hier ein trotziger: ich kann auch nicht-kapitalistisch handeln (wenn ich unmittelbar-sinnlich bin), ich reproduziere nicht immer die Strukturen und kann mich losreißen von der ganzen Scheiße. Der große Fehler liegt hier in der aktualistischen Perspektive. Ebenso wie das Konzept der Totalität nicht nur als Summe vieler Einzel-Handlungen verstanden werden kann (das wäre voluntaristisch), darf auch die unmittelbare Handlung nicht als bloßes Abziehbild einer vorgegebenen Struktur verstanden werden (das wäre funktionalistisch). Die Wechselwirkung zwischen beiden Abstraktionsebenen auszumachen ist ja gerade das geniale an der Marx`schen Fetischkritik. Dementsprechend gibt es so etwas wie „kapitalistisch handeln“ gar nicht und die postulierten dahingehenden Verbote können wohl kaum von einem/r ernst zu nehmenden TheoretikerIn kommen. In das apologetische Schema des Textes passen sie viel eher, wenn sie als Konstruktionen des bürgerlichen Individuums verstanden werden, das seine eigene Haut, das „praktisch sein“ für den angepassten „guten Moment“ (der im Gesamtensemble der Momente meist ohnehin verblasst), retten will. Es bedarf der FeindInnen, auch da, wo sie gar nicht zu finden sind – die einfache Feststellung von Funktionalitäten des Rausches wird zum persönlichen Affront emporgehoben. Denn dieser Befund spricht sich ja noch nicht einmal gegen den Rausch aus, er situiert ihn nur. Sowieso geht es bei Scheuringer gar nicht mehr um den Rausch, sondern um eine Vorstellung über das „gute Leben“ schlechthin. Dass hier alles in einen Topf geworfen wird – Kritik an der „abstrakten“ Theorie, Vorstellungen über Sinnlichkeit, (vermeintliche) anthropologische Konstanten und konkrete Handlungsanweisungen – ist Resultat dessen, was in der Kritischen Theorie „Identitätslogik“ geheißen hat. Das Bedürfnis, die (unverstandenen) Widersprüche des warenproduzierenden Patriarchats einfach in eins zu setzen, auf die eine oder andere Seite hin aufzulösen, ist ein starkes und ständig lauerndes. Gleichzeitig ist aber kaum je eine Lösung auch nur annähernd befriedigend, weil beide Seiten eben nicht das sind, was sie auf den ersten Blick zu sein scheinen. Die eine Seite inkludiert ein Stück weit immer schon die andere und umgekehrt. Das ist nicht nur abstrakt-wissenschaftstheoretisch so, sondern trifft auch für die unmittelbare Lebenspraxis zu: die Widersprüche werden nicht besser, wenn eins sie einfach ignoriert. Das heißt also nicht, dass jede Form der Praxis nur nach abstrakten Kriterien der Kritischen Theorie bemessen werden sollte oder müsste; die „Theorie-Polizei“ ist bloßes Produkt des unter Verfolgungswahn leidenden bürgerlichen Subjekts, das sich vor sich selbst beständig dafür rechtfertigen muss, nicht genügend eins mit sich und der Warenwelt zu sein – auch und gerade bis hin in die glorifizierte unmittelbare Sinnlichkeit hinein, die ihm nur als absolute Abstraktion der „Sinnlichkeit schlechthin“ in den Sinn zu kommen vermag. Wenn alles nichts mehr hilft, dann wird die Welt zu bloßem Willen und Design: „Was wir wahr-nehmen, entscheiden wir auf Grund unserer Urteile“ heißt es im Text. Bravo, wir sind bei postmoderner Ideologie der Beliebigkeit angelangt, und die Frage, woher „unsere Urteile“ kommen, darf bzw. kann gar nicht mehr gestellt werden.

Leider ist die Welt aber keine creatio ex nihilo, sonst bräuchten wir Marx und die Kritische Theorie wirklich nicht mehr. Prozesse der Suche einer Sinnlichkeit, damit der Ent- und Neusubjektivierung, der sozialen Veränderung, schließlich der gesellschaftlichen Transformation sind nicht so einfach zu haben und schon gar nicht jetzt, sofort und mit mir selbst. War zwar Marxens Hypostasierung der Klasse als ultimativem Subjekt der Emanzipation verfehlt, so war der Grundgedanke dahinter natürlich richtig: alleine geht’s nicht, wir brauchen eine soziale Gegen-Bewegung. Und die sollte Alternativen so radikal als nur möglich umsetzen – auch auf die Gefahr hin, den einen oder anderen Fehler zu machen. Bewegung kann natürlich nicht mehr nur als politische verstanden werden, die anti-politischen Momente (sub-)kultureller Bezüge sind genauso von Bedeutung und stehen in einem stets auszubalancierenden widersprüchlichen Verhältnis. Dass kritische Theorie hierfür als Rahmen gebende negative Instanz notwendig, beständig falsche Wege aufzudecken verpflichtet ist, sollte sich von selbst verstehen (paradoxerweise ist es meistens ja umgekehrt – AktivistInnen wünschen sich mehr theoretische Entwürfe für ihre Praxis, als ihnen kritische Theorie geben kann). Das ist hart, enttäuschend (gerade wenn eins sich selbst auf einer widersprüchlichen Linie zwischen Theorie und Praxis bewegt), oft aber auch schön und durch die Vitalität des Unbestimmbaren, der Hoffnung auf das Bessere vielfach sinnlicher, als die Perspektiven, die sich in der vereinheitlichten bürgerlichen Lebenswelt bieten. Wem dies zu mühsam ist, wer lieber nur im Denken radikal sein will, soll das tun, wichtig ist auch dies allemal. Was aber gar nicht geht, ist einfach so zu tun, als ob es keine Schwierigkeiten gäbe, sich in den eigenen identitär-patriarchalen Mustern suhlen und dann auch noch „Übungsbeispiele“ für das Richtige im Falschen aufgeben. Die Realität ist voller Widersprüche und es bedarf nichts weniger als der radikalen, organisierten, utopischen und gerade deswegen subjektkritischen Bearbeitung dieser Widersprüche!




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