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Postmodernes Subjekt, Demokratie & Antisemitismus


erschienen in: Krisis 20

Robert Kurz

WEINKENNER ALLER LÄNDER, VEREINIGT EUCH!
Postmodernismus, Lifestyle-Linke und die Ästhetisierung der Krise

"Ach, die Patschhändchenschläge in die heftig begehrte Fratze des Kapitals"
Eva Demski

"Welch einen Zustand muß das herrschende Bewußtsein erreicht haben, daß die dezidierte Proklamation von Verschwendungssucht und Champagnerfröhlichkeit, wie sie früher den Attachés in ungarischen Operetten vorbehalten war, mit tierischem Ernst zur Maxime richtigen Lebens erhoben wird"
Theodor W. Adorno

An den sozialen Verfall in der smartie-bunten Risikogesellschaft kann man/frau sich gewöhnen wie der Pinguin an die Eiswüste, der Landser an den Schützengraben und der Atlantikschwimmer an den Atlantik. Inflationierte Krisenprozesse werden nicht mehr als solche wahrgenommen, vor allem wenn es immer noch schlimmer kommen kann, wie ein Blick über den mitteleuropäischen Tellerrand beweist. Wenn trotz galoppierender Massenarmut und trotz eines aufgeladenen gesellschaftlichen Angstpotentials radikale Kapitalismuskritik keine Konjunktur hat, dann ist die massenhafte Abstumpfung allerdings keineswegs der einzige Grund dafür. Das kritische Bewußtsein selber kann der Krise nicht standhalten, weil seine Paradigmen Bestandteil gerade jener Geschichte sind, die zu Ende geht. Bloß übriggebliebene historische Irrläufer des Arbeiterbewegungs-Marxismus und marktwirtschaftsfromme Realos erweisen sich gleichermaßen als Dinosaurier eines untergehenden Zeitalters.

Die Krise der Arbeitsgesellschaft ist nämlich nur insofern eine Krise des Klassenkampf-Paradigmas, als sie eine Krise des gemeinsamen Bezugssystems aller modernen Ware-Geld-Subjekte und damit der fetischistischen Subjektivität überhaupt zur Kenntlichkeit bringt. Was historisch veraltet, ist der Arbeitsmarkt und damit die gesellschaftliche Marktbeziehung als solche. Das "Geldmachen" und das "Geldverdienen" werden gleichermaßen obsolet, wenn die Entwicklung der Produktivkräfte erstmals im großen Maßstab die abstrakte "Arbeit" als Substanz des sogenannten Werts überholt, aushöhlt und ad absurdum führt. Diese Essentials einer radikalen Krisentheorie reichen wesentlich weiter, als gewöhnlich angenommen wird. Keineswegs handelt es sich dabei um ein Problem, das auf Ökonomie und Sozialpolitik im engeren Sinne einzugrenzen wäre. Denn zusammen mit dem Fetischismus der Warenproduktion verfallen gleichzeitig alle von dieser Form der Vergesellschaftung konstituierten Sozialcharaktere, ihre Lebenswelten und ihre Lebensweisen, auf die kein positiver emanzipatorischer Bezug mehr möglich ist.

Die Frage der sozialen Emanzipation kann jetzt nur noch entweder gänzlich preisgegeben oder über den Klassenkampf hinaus, der auf das bürgerliche Universum eines warenproduzierenden Systems beschränkt blieb, zu einer radikalen Kritik der Wert- und Geldform selber zugespitzt werden. Diese Kritik verlangt selbstverständlich ein entsprechendes höheres Bewußtsein: jenes von Marx ahnungsvoll imaginierte "enorme Bewußtsein", das nicht mehr an den primitiven warengesellschaftlichen Kategorien der Moderne klebt, sondern gegenüber der eigenen fetischistischen Form-Konstitution aufhebend reflexiv wird. Dieser Impetus muß gleichzeitig auf der Ebene des Alltags als negatorische Haltung erscheinen und bewußt die neue, weitergehende Zielsetzung als radikales Programm entwerfen, um "geschichtsmächtig" werden zu können.

Es sind allerdings keineswegs bloß die altersstarrsinnigen Überreste des "Arbeits"- bzw. Klassenkampf-Marxismus und die eschatologischen Irrealos eines tausendjährigen Marktwirtschaftsreiches, die sich als Zerfallsprodukte der Linken einem neuen wertkritischen Paradigma und dessen Problemstellungen verweigern. In Zeiten des Übergangs und der Unsicherheit schlägt auch die Stunde der pseudokritischen Blender, Glücksritter, Harlekine, Obskuranten, Selbstdarsteller und Subjekt-Feuilletonisten verschiedenster Couleur, mit einem Wort: der Postmodernisten.

Zwar ist der Begriff der Postmoderne ein schillernder, oberflächlicher und bloß modischer; aber gleichzeitig handelt es sich auch um einen wirklichen Epochenbegriff, der allerdings auf eine Epoche der Oberflächlichkeit und des bloß Modischen verweist. Der Postmodernismus kreiert (inzwischen massenhaft und auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens) einen neuen Positivismus dessen, was ist, aber in einem Zustand, wo es schon nicht mehr wahr ist. Die Postmoderne ist nichts als die unaufgehobene alte Moderne, die bloß nicht anständig sterben kann. Von der Philosophie und Erkenntniskritik über die Medientheorie bis zur Architektur, Pop- und Alltagskultur reicht das Spektrum der postmodernistischen Ausdrucksformen, die allesamt vor dem ökonomischen Hintergrund des globalen Kasinokapitalismus erscheinen, wie er aus der strukturellen Überakkumulation des Kapitals herausgewachsen ist. So schwach und substanzlos wie das Geld ist auch die Philosophie dieses Johannistriebs kapitalistischer Zivilisation, den ein "Zeitalter" zu nennen fast schon eine Übertreibung wäre.

Und selbstverständlich hat auch diese Schattenzeit nach der Zeit der Moderne ihre eigene systemimmanente, zeitgeistkonforme Linke hervorgebracht, die (nach einem Bonmot von Helmut Qualtinger) zwar nicht mehr weiß, wohin sie fährt, dafür aber umso schneller ankommt. Diese Linke ist, stromlinienförmig ihrer Epoche entsprechend, nicht mehr die alte, aber auch keine neue - und damit gewissermaßen ein Prototyp für den postmodernen Sozialcharakter, der freilich auch alles andere als links sein kann. Die in galoppierender Auflösung begriffene Modernisierungs-Linke, soweit sie sich im unentschiedenen Zustand des scheinwirklichen postmodernen Zwischenreichs breitzumachen sucht, trägt insofern nicht unerheblich zur gesellschaftlichen Kreation eines Typus bei, der durch die Krisen und Zusammenbruchs-Erscheinungen des Systems glorreich zu surfen hofft. Dieser sich geckenhaft spreizende und in die Krise mediengeil hineinplappernde Postmodernismus, der vorgibt, die alten Konfliktkonstellationen hinter sich gelassen zu haben, erweist sich aber gerade in seiner linken Variante als eine Mischung aus Selbstbetrug und ordinärer Roßtäuscherei, die haarscharf an der ersehnten Eleganz vorbeizielt.

Namen sind hier freilich Schall und Rauch, denn das erste Gebot nicht nur des linken Postmodernismus lautet, daß es ihn gar nicht gibt. Bloß auf nichts sich festlegen, nicht einmal auf sich selber! Zeitgeistkonform postmodern "drauf" zu sein, muß gerade für eine theoretisch lediglich abgerüstete Linke nicht unbedingt bedeuten, auch einen Begriff davon zu haben. Wo die theoretische Bestimmungslosigkeit, Unverbindlichkeit und Beliebigkeit zum Prinzip erhoben wird, kann die Kritik unmöglich auf das historische Niveau der Krise gehoben und gegen die totale Ware-Geld-Beziehung radikalisiert werden. Das ist auch gar nicht beabsichtigt. Trotzdem erhebt der Postmodernismus, den es nicht gibt, die höchsten Ansprüche hinsichtlich seiner Geltung. Ihn "mit den Code-Wörtern Spiel und Beliebigkeit (abzukanzeln)", sei "feuilletonistisch" (Kunisch 1997), sagt das postmoderne Feuilleton.

Mag also der Anspruch auch nichtig sein, so ist doch die Nichtigkeit anspruchsvoll. Sowohl gegenüber dem arbeitsontologischen Altmarxismus als auch gegenüber dem offen marktwirtschaftlichen Vulgärrealismus gibt die postmoderne Linke sich kritisch und "drübersteherisch", ohne wirklich etwas zu riskieren. Was ins Feld geführt wird, ist keine aufhebende Theorie und Praxis, sondern eine sich dennoch "radikal" gebende Mimesis der marktwirtschaftlichen Erfolgsgeierei. Der alte Linksradikalismus wird dabei nicht aufgehoben, sondern zum bloßen Gestus verdünnisiert, bis von ihm wie von der Katze in Carrolls "Alice im Wunderland" nur noch ein Grinsen übrig ist: die postmoderne Gute-Laune-Simulation und das allgemeine Verkäufergrinsen des universellen Marktes.


Jedem Tierchen sein Pläsierchen

Wie die postmoderne Postfeministin "alles will", Model sein und Mutter und marktwirtschaftliche Erfolgsfrau (bloß nicht ernsthafte Kapitalismuskritikerin), und wie der postmoderne Konsumist "alles will", Ketchup und Mayonnaise, Luxus und aparte Askese ("Luxese"), so will erst recht die postmoderne Linke "alles" zugleich: radikal sein und klammheimlich marktrealistisch, superkritisch und stromlinienförmig, antikommerziell und kommerziell begehrenswert, antizyklisch-trendsettend und auf jedem Modesattel reitend, altlinks und neulinks und postlinks - "anything goes". Gegenüber dem verbiesterten Altmarxismus und dem verantwortungsträgerischen Politrealismus stellt die postmoderne Linke keine dritte, transformierende Kraft dar, sondern bloß ein flottes Chamäleon, das mit seiner dekonstruktiven Farbenlehre überall hinkommt und "Beute" macht, wonach ihm gerade der Sinn steht. Die kritische Theorie verkommt dabei im Kontext einer nicht bloß theorielosen, sondern atheoretischen Zeit des sich zeitlos gebenden Marktes zur Attrappe.

Was sich da breit macht, ist ein theoretisierender Snobismus, der mit Begriffen der Kritik nur noch äußerlich kokettiert. Der postmarxistisch räsonierende Snob leidet an der Einbildung, er könne sich "souverän" zu den unaufgehobenen Realkategorien der bürgerlichen Verkehrsform verhalten und mit ihnen spielen wie mit den Accessoires der gängigen Outfit-Stilisierung. Die Orwellsche Sprache des Liberalismus hält Einzug, und so wird die zeitgeistig grassierende Kritiklosigkeit zur besonders "radikalen" Form der Kritik hochgeadelt - eine typische Wendung des Postmodernismus. Geradezu programmatisch erscheint diese kritische Nichtkritik heute in der subkulturellen "grauen" Literatur der blühenden Zeitgeist-Talente, wo sie als das Evangelium der 89er Loveparade-Generation verkündet werden darf: "Besteht nicht gerade in der Verweigerung von intellektueller Kritik, bewußtem Widerständlertum etc. ihre besondere Form von Subjektivität, die sich einer gewalttätigen Welt des Handelns und der Rationalität entgegenstellt?" (Erdmann 1997).

Dieser durchsichtige Sophismus, der Kritik in der Form ihrer Verweigerung anpreist und gleichzeitig gelegentlich jammert, die Kennzeichnung dieser Denkweise als affirmativ operiere mit "altlinken" Totschlägerworten, verrät das allgemein bekannte Geheimnis des zu sich gekommenen Postmodernismus: Die poststrukturalistische Subjektkritik (rezipiert meistens bloß in ihren Fastfood-Versionen oder vom Hörensagen, wodurch sie allerdings zur Kenntlichkeit verplappert wird) verabschiedet sich vom alten sozialen Subjekt der Kritik nicht etwa, um zur aufhebenden Kritik der Subjektform überhaupt als Ausgeburt des Kapitals und seiner Modernisierungsgeschichte zu gelangen, sondern um eine aufs Ganze gehende Kritik klammheimlich zu entsorgen und unschädlich zu machen. Was übrigbleibt als unaufgehobene "besondere Form von Subjektivität", ist eine widerstandslose Beliebigkeits-Form des alten bürgerlichen Willens in Gestalt monadisierter und daher gesellschaftlich handlungsunfähiger Individuen, die hinfort das Erbe des klassischen bürgerlich-aufklärerischen und arbeiterbewegten Subjekts antreten sollen. Die lächerliche Verfallsgestalt wird zur großen Zukunft erklärt.

Wenn der Anspruch radikaler Kritik und die totale Kritiklosigkeit in eins fallen, muß diese Absurdität auf einen Nenner gebracht werden, der durchaus verschiedene Formen annehmen kann. Die meisten linken Publikationen, die heute in den seichten Gewässern des postmodernen "Diskurses" planschen (in Deutschland z.B. die Zeitschrift "Die Beute"), verbinden einen ökonomiekritisch abgerüsteten Popkulturalismus mit durchaus uraltlinken Hintergrundannahmen, die bloß unter der postmodernen Geschenkpapierverpackung schamhaft versteckt werden. Im hippen Popgewand einer herunterästhetisierten Politik darf der unaufgehobene Klassenkampf- und Dritte-Welt-Soziologismus durch die postmodernen Hitparaden spuken. Soweit andererseits Elemente einer scheinbar radikaleren Kritik auftauchen, vor allem die hedonistische Negation der "Arbeit", können diese jedoch im postmodernen Kontext nicht mehr als Moment einer Aufhebung des Warenfetischismus erscheinen, sondern figurieren bloß als schickes Ornament eines warenästhetischen Oberflächenhedonismus, der den totalen Markt gerade zu seiner stillen Voraussetzung hat (und dessen Arbeitskritik daher völlig illusionär bleiben muß).

Überhaupt besteht der Hauptmechanismus für die postmoderne Umpolung aller Gesellschaftskritik in deren Ästhetisierung. Die postmoderne Linke ist vor allem eine Lifestyle-Linke, die diesen Charakter auch auf ihren "Diskurs" ausdehnt. Die Leitmotive sind entweder "political correctness" oder umgekehrt "sozialästhetischer Tabubruch". Hatte PC in den USA ursprünglich in der Linken eine systemimmanente soziale Reformfunktion (Quotenrechte für Minderheiten), so handelt es sich heute im allgemeinen um ein Ersetzen des Streits über Inhalte durch ein permanentes Aushandeln semantischer Koexistenzen, von dem jede Theorie-, Analyse- und Strategiedebatte verschlungen wird. So kann z.B. das Wort "Weinerlichkeit" in einem polemischen Text die Auseinandersetzung nach sich ziehen, ob dies nicht eine "typische Macho-Vokabel" sei, während der eigentliche Inhalt der Polemik mehr oder weniger gleichgültig bleibt.

Solche Auseinandersetzungen können ohne weiteres inflationiert werden. Dabei geht es weniger um ein (durchaus notwendiges) Ernstnehmen der Sprache und ihrer mit Herrschaft belasteten Geschichte oder um die Überwindung der unproduktiven altlinken "Streitkultur" mit ihrem berüchtigten Fraktionskämpfertum (also um eine Entzerrung von feindseliger Polemik und produktiver Auseinandersetzung), sondern vielmehr um eine radikale Verschiebung des "Diskurses" von der Inhalts- auf die Formebene - in Richtung einer sprachlichen "Korrektheits-Ästhetik", die eigentlich gar nichts mehr will ("Verweigerung von intellektueller Kritik und bewußtem Widerständlertum" eben).

Der Gegenpol innerhalb des Postmodernismus, der "sozialästhetische Tabubruch", geht genau umgekehrt vor: PC wird verspottet, die feministische Schreibweise karikiert, der Habitus bewußt "unkorrekt" gewählt. Die postfeministische Frau will nicht nur "alles", sie stellt auch wieder bewußt sämtliche Weiblichkeitsklischees zur Schau bis zur Claudia-Schiffer-Inkarnation des Blondinenwitzes; aber selbstverständlich als frei gewähltes "Zitat", weil frau sich einbildet, sowohl die sozialhistorische geschlechtsfetischistische Weiblichkeit als auch den Feminismus "hinter sich" gelassen zu haben. Aus demselben Grund kann man sogar wieder Neger- und Judenwitze erzählen oder Hakenkreuz-Knöpfe auf der Bluse tragen - ein uneingeweihter tumber und altmodischer Tor, wer dabei Rassismus und Antisemitismus wittert. Denn man/frau zeigt ja durch all das nur "souverän" an, wie weit die postmoderne Subjektivität längst "über" den veralteten Auseinandersetzungen der klassischen Moderne steht.

Es ist leicht erkennbar, daß die "tabubrecherischen" Anti-PC-ler den "Diskurs" ganz genauso wie ihr Gegenpart auf die formale und ästhetische Ebene verschieben. Auch ihnen geht es eigentlich um nichts mehr, auch für sie ist die "Verweigerung von intellektueller Kritik und bewußtem Widerständlertum" bereits stumme Voraussetzung. So wird jeder Konflikt um Ziele oder Vorgehensweisen gegenstandslos und die Auseinandersetzung läuft ins Leere einer Endlosschleife der Ästhetisierung.

Selbstverständlich ist der Postmodernismus kein im eigentlichen Sinne linkes oder überhaupt gesellschaftskritisches und transformatorisches Projekt, wofür ja immer bewußte und aktivistische Negation konstitutiv wäre. Er ist einerseits ein Projekt des "Abschieds von der Kritik", andererseits ein Produkt des kapitalistischen Zeitgeistes, der für die totale Käufer-Verkäufer-Gesellschaft jede Äußerung, egal auf welchem Gebiet, in eine Art Werbespot verwandelt. Genau hier liegt aber auch das Geheimnis, wie sich dem Anspruch und Selbstverständnis nach scheinbar gesellschaftskritische Positionen in den Postmodernismus einklinken können: indem sie nämlich durch Formalisierung und Ästhetisierung entschärft und auf diese Weise mit dem warenförmigen Beliebigkeits-Universum kompatibel gemacht werden. Denn Formalisierung und Ästhetisierung sind identisch mit Kommodifizierung ("Verwarenförmigung") sämtlicher Inhalte und Gegenstände.

Dieser Sachverhalt darf nicht verwechselt werden mit dem Problem, daß im Kapitalismus auch radikale KritikerInnen notgedrungen ihre Arbeitskraft verkaufen müssen oder daß es notwendig ist, mit kritischen Theorien in die herrschende bürgerliche Zirkulation hineinzukommen, um sich überhaupt verständlich zu machen. Diese Problematik setzt immer schon eine (intuitive wie reflektierte) feindliche Distanz zur eigenen kapitalistischen Formbestimmung voraus: ein Spannungsverhältnis, das durchgehalten werden muß, wenn die Kritik durchgehalten werden soll.

Genau diese Spannung ist im postmodernen "Diskurs" zusammengebrochen. Mit anderen Worten: Die eigenen Inhalte und Gegenstände werden bewußtlos und apriori immer schon als Waren unter Marketing-Gesichtspunkten konzipiert, was nichts anderes heißt, als daß der Inhalt als bloße Form gedacht und somit zum Gebrauchswert eines Tauschwerts degradiert wird. Die Qualität erscheint als beliebig, weil die Form im positiven (statt im negatorischen) Sinne entscheidend geworden ist. Dieser Vorgang, von jeher eine gesellschaftliche Reibungsfläche, hat offenbar in den 80er Jahren eine neue Qualität der Verinnerlichung und Selbstverständlichkeit erfahren und ist gewissermaßen reibungslos geworden. Im Grunde genommen macht dies die eigentliche Qualität des gesamten Postmodernismus aus. Nachdem die Linke unter dem Vorwand einer Abwendung vom öden marxistischen "Ökonomismus" gleich die radikale Ökonomiekritik mitentsorgt hatte, konnte sie sich von den Aporien des Arbeits- und Klassenkampf-Marxismus freisprechen, ohne ihn wirklich überwinden zu müssen, um von nun an umso hemmungsloser einem warenästhetischen Kulturalismus zu frönen.

Nur vor diesem Hintergrund ist es erklärbar, daß und wie sich in postmodernen Kontexten eine Identität von radikaler Kritik und radikaler Kritiklosigkeit verstecken kann, indem sowohl die linken Binnendifferenzen als auch die Differenzen zwischen der linken Kritik und ihren kapitalistischen Gegenständen eingeebnet werden. Ob altlinks-popkulturell oder pseudo-arbeitskritisch, ob PC oder Anti-PC, der gemeinsame Nenner ist immer schon die Formalisierung des Inhalts als Ware und Wertgegenständlichkeit, in der sämtliche qualitativen Differenzen nivelliert und gegenstandslos gemacht worden sind und somit in der Beziehung friedlicher Koexistenz erscheinen können.


Sein als Design

Durch die Tendenz zur totalen Formalisierung aller Inhalte wird irgendwann ein Punkt erreicht, an dem womöglich sogar die radikale Ökonomiekritik als unschädlicher, selber bloß kulturalistischer Gegenstand zurückkehren darf - sie bedeutet dann nichts mehr. Eine Kritik der Wertvergesellschaftung ausgerechnet in der Form der verinnerlichten Wertgegenständlichkeit stellt sich nur vom Standpunkt des Inhalts als unmöglicher und absurder Widerspruch dar. Aber gerade dieser Standpunkt gilt ja dem Postmodernismus als überholt und der altmodischen klassischen Moderne zugehörig. Vom Standpunkt der allumfassenden Formalisierung aus gibt es hier überhaupt keinen Widerspruch, eben weil der eigentliche Gegenstand die Form selber ist.

Im totalen Universum der Ware ist der Inhalt "nur" Inhalt, bloßes (austauschbares) "Sujet" für die Form als Eigentliches; ein Vorgang, der durch das postmodern-dekonstruktivistische Postulat, es gebe gar kein Eigentliches, nur ideologisch eingenebelt wird. Leute, die Inhalte über Gebühr ernst nehmen, sind selber schuld. Zwischen ihnen und den postmodernen Formalisierungsästheten ist eine Debatte ungefähr so sinnlos wie zwischen Wesen, die sich mittels Schallwellen verständigen, und solchen, die diese Leistung durch den Austausch von chemischen Substanzen bewerkstelligen - Ameisen z.B. (Macht daraus eine korrektheits-ästhetische Anklage!).

Die Absurdität einer Affirmation der Ware durch die Kritik der Ware macht also im postmodernen Verständnis durchaus Sinn. Natürlich darf die kulturalistisch heruntertransformierte, in der Form ihres Selbstdementis auftretende Kritik der Warenform nicht allzu explizit oder gar praktisch fordernd werden, wenn sie als besonders aparter Bestandteil eines warenästhetischen Sujets fungieren soll. Nur in diesem Sinne, als Gesamtkunstwerk oder Teil eines solchen, das auf dem Markt der kunsthandwerklichen werblichen Meinungen und "Events" aus- und dargestellt wird ("diese Wertkritik wird Ihnen präsentiert von Krombacher", dem Bier aus dem frischen Quellwasser), kann sogar die Kritik der Warenform sich als harmloser Inhalt in der Warenform rundum wohlfühlen.

Und nur als dekonstruktiv jeden Anspruchs auf Wahrheit und Gültigkeit entkleideter, am allgemeinen Tauschverhältnis (alias "Diskurs" im poststrukturalistischen "Diskurs") teilnehmender Privatsinn wird "radikale" Kritik im postmodernen Kontext überhaupt noch wahrgenommen, und zwar von ihren Produzenten wie ihren Rezipienten gleichermaßen. Ansonsten redet man/frau normalerweise nicht mehr explizit "über" die Marktwirtschaft, ihre Mechanismen und Prozesse, ebensowenig wie die besseren Kreise ihren Stuhlgang oder ihre Krankheiten zum Tischgespräch machen. Der allgegenwärtige Markt ist zum allgemeinen Hintergrundrauschen einer absoluten Selbstverständlichkeit geworden, die auf der praktischen Erscheinungsebene negativ zu thematisieren leicht den Ruf der Vulgarität eintragen kann. Eine ästhetisierte postmoderne Pseudokritik der Warengesellschaft muß sich also von der konkreten Analyse fernhalten und auf eine "philosophische" Ebene entweichen, wo man/frau vermeintlich ungestraft gleichzeitig radikale KritikerInnen und fröhliche MitmacherInnen sein können.

Und deshalb muß auch überhaupt die Formalisierung des "Diskurses", die allzu durchsichtig auf die banale Kommodifizierung aller Inhalte und Gegenstände hinausläuft, durch Ästhetisierung verkleidet werden. Die immergleiche abstrakte Form der Ware, die in ihrer Nacktheit kaum zu ertragen wäre, wird durch ästhetische Verschalung bunt gemacht: Die ehemaligen Inhalte verwandeln sich in Markenzeichen und/oder in pures Design.

Daß ein popkulturell aufgemotzter altlinker Klassen-Soziologismus neben einer postmodern verwässerten Pseudokritik der Warengesellschaft und beide gleichberechtigt neben einer Elvis-Fangemeinde oder einem Netzwerk für die Erforschung der geheimnisvollen Kornkreise stehen können, rechtfertigt sich durch den gemeinsamen Design-Charakter dieser doch ziemlich verschiedenen Gegenstände für das Styling warenförmig durchstrukturierter Lebenswelten. Jeder transzendierende Sinn, was immer dabei ausgesagt wird, ist auf diese Weise gelöscht. Oder, wie es der kapitalistische Medien-Oberguru und Telekom-Darsteller Norbert Bolz auszudrücken beliebt: "Design stellt Sinn dar. Design verschafft und ist selbst Orientierung. Deshalb hat das Design niemals ein Sinnproblem, sondern ist seine Lösung - es zeigt, daß der Sinn kein Was, sondern eine Gegebenheitsweise ist...Wer heute Kants Frage >Was ist der Mensch?< beantworten will, muß Design studieren" (Bolz 1997, 232). Statt Sinn Design? Nein, Design ist Sinn, oder genauer: Jeder Sinn wird zum Design. Ist dieses Kunststück erst einmal gelungen, kann nichts mehr anbrennen für die postmodernen Design-Scheinradikalen.

Nun ist "Sinn" (unabhängig vom Postmodernismus) natürlich immer nur relativ zu verstehen, als allerdings bestimmter, wenn auch historisch begrenzter Inhaltsbezug hinsichtlich gesellschaftlicher Reproduktion und "Stoffwechselprozeß mit der Natur", Erkenntnis, Erotik, Gesellschaftskritik und gesellschaftlicher Umwälzung, Geschichte und sicherlich auch Kultur und Ästhetik usw. Das Spezifikum des Postmodernismus besteht aber darin, daß er ausnahmslos alle Inhaltsbezüge in Ästhetik verwandelt, und zwar in Warenästhetik, also eben in Design. Das ist die Mimesis und gleichzeitig die Nemesis der kapitalistischen Form, die ihren eigenen Inhalt verschlingen möchte. Design muß hier freilich in einem sehr weiten Sinne verstanden werden.

Das postmoderne Designer-Bewußtsein ist sich dabei schon längst selber auf die Schliche gekommen, natürlich durch und durch affirmativ. Noch genauer als bei Bolz findet sich diese selbstaffirmative Darstellung in dem deutschen Bestseller "Die Tugend der Orientierungslosigkeit" von Johannes Goebel und Christoph Clermont. Offenbar selber linker Herkunft und (wie Bolz) wohlvertraut mit den abgeschliffenen Statements der Kritischen Theorie, stimmt bei diesem Duo (Jahrgang 1968 und 1970) das postmodernistische Klischee bis aufs I-Tüpfelchen. Diese Autoren reden nicht nur Klartext über das Postsubjekt einer nur noch schein-emanzipatorischen kulturalistischen Linken, sie sind es geradezu mit Leib und Seele, selbstverständlich ohne sich zu genieren. Der pseudosouveräne Gestus und die dazugehörige Talkshow-Schnoddersprache korrespondieren mit einer sansoschäfchenweichen Kritiklosigkeit, die in sanftem Einverständnis die Selbstverständlichkeit des ökonomischen Imperativs feststellt: "Marktwirtschaft ist mehr Praxis als welterklärende Ideologie" (Goebel/Clermont 1997, 20) und überzeugt ist von der "offensichtlichen Unbrauchbarkeit marxistisch inspirierten Denkens" (a.a.O., 21).

Hier wird frischfrommfröhlichfrei alles ausgeplaudert, was die postmoderne Linke noch in entfernt an den Marxismus erinnernden Phrasen verklausuliert: Es bedarf keiner "Welterklärung" mehr, weil die apriorische Praxis sowieso immer schon da ist. Dieses Grundeinverständnis und Urvertrauen in die Marktwirtschaft ist für Goebel/Clermont die Voraussetzung, um sich folgerichtig statt gesellschaftskritisch fortan "trendforscherisch" (und in Konkurrenz zum Hamburger "Trendbüro" des ebenfalls exlinken Zeitgeist-Publizisten Matthias Horx) als "New Sign - Werbe- und Trendagentur GmbH" zu institutionalisieren, die übrigens ironischerweise in der Karl-Marx-Straße zu Berlin firmiert.

Die kulturalistischen Illusionen und die warenästhetische Praxis der postmodernen Linken müssen nicht einmal besonders verbogen oder umdefiniert werden, um dieses Treiben direkt in eine Marketingsprache zu übersetzen: "Die New Sign Werteagentur beschäftigt sich intensiv mit den Lebens- und Wertewelten der 18- bis 35jährigen. Dabei steht die qualitative Erforschung von Präferenzen und Imaginationen der für die Zukunft entscheidenden Zielgruppen im Vordergrund. Um die inhärenten Mechanismen schwer durchschaubarer Handlungs- und Motivationscluster zu beschreiben und handhabbar zu machen, analysiert die Werteagentur Wertelinks auf Mikro-Ebene. Sie zeichnet die Käufer-Produkt-Beziehungen nach und operationalisiert neue Werteverbindungen zur Erstellung konzeptioneller Rahmenwerke. Wertelinks beschreiben die konkreten Bezüge zwischen Individuum, Motivation und Produkt. Die Arbeit der Werteagentur ersetzt strategische Planung und liefert die Grundlagen für plausible Kampagnen. Sie bietet unverzichtbare Entscheidungshilfen in Märkten, die mit dem traditionellen Instrumentarium der Marktforschung nicht mehr erforschbar sind" (a.a.O., 205).

Ist das nicht eine geeignete Tätigkeitsbeschreibung für aufstrebende junge Gesellschaftskritiker, die als ambulante Händler mit Kritikware im Kasinokapitalismus an ihrem Bauchladen basteln und Radikalität gerade als "Verweigerung intellektueller Kritik" verkaufen möchten? Kein Wunder, daß dieses Buch Furore macht in den deutschsprachigen Niederungen des Postmodernismus. Immerhin ist auf diese Weise herauszufinden, was die Welt des Designer-Bewußtseins im Innersten zusammenhält und auf welcher Sozial- und Persönlichkeitsstruktur sie gründet.


Jede ihre eigene Domina, jeder sein eigenes Gesamtkunstwerk

Die Entdeckung und begriffliche Kreation von Goebel/Clermont in ihrer kapitalismuskonformen Deskription ist die Figur des "Lebensästheten", eine durchaus treffende Bezeichnung. Der/die "LebensästhetIn" ist ein Mensch, der sich selber als wandelndes Gesamtkunstwerk begreift. Ohne ihn zu erwähnen (womöglich sogar ohne ihn zu kennen) erinnert diese Kreation an den späten Foucault und seine "Ästhetik der Existenz". Dieser Ausdruck verweist auf die affirmative Zurückbiegung der Foucaultschen Gesellschaftskritik mit ihrem expliziten Verzicht, die "großen Strukturen" angreifen und aufheben zu wollen: Wenn die fetischistische Formkonstitution der Moderne außerhalb der Reichweite von Kritik bleibt (und das gilt nicht nur für Foucault, sondern für die gesamte Riege der postmodernen Philosophen ohne Ausnahme), dann kann das Ende vom Lied immer nur darin bestehen, auf den Partikularismus der falschen Unmittelbarkeit und zuletzt auf die "Techniken des Selbst" zurückzufallen, um den einsamen Überlebenskampf in der sozialen Wüste des Marktes ästhetisch zu maskieren.

Nicht umsonst greift schon Foucault wie seine postmodernen geistigen Brüder im Grundsätzlichen nicht auf Marx, sondern auf Nietzsche zurück; wie ja überhaupt die Ästhetisierung des kapitalistischen Elends und der dazugehörige Begriff des "Gesamtkunstwerks" schon eine lange Tradition haben. Man/frau muß nicht an Richard Wagner oder Gabriele d'Annunzio (oder gleich an die Diktatoren des 20. Jahrhunderts) erinnern, um zu begreifen, daß es sich hier um eine Ausgeburt des konstruktivistischen Wahns aus der Modernisierungsgeschichte handelt. Es gibt verschiedene Versionen des Gesamtkunstwerks; die radikalste ist natürlich die diktatorische, auf die gesamte Gesellschaft bezogene.

Der Diktator ist der gesellschaftliche Gesamtkunsthandwerker. Voraussetzung dieses Wahns ist die warenförmige Monadisierung des Individuums, denn nur in dieser Form kann der gesamte Weltbezug als permanent ästhetisierender Selbstbezug erscheinen (Die Welt ist mein Design, also bin ich). Der "Führer" als Obermonade hat diesen Bezug am weitestgehenden verwirklicht; nicht umsonst haben sämtliche Galionsfiguren der Modernisierungsdiktatur jeglicher Couleur immer künstlerisch-gestalterische Interessen am Gesellschaftskörper zu erkennen gegeben. Die Nazi-Inszenierungen, noch heute zu besichtigen in Leni-Riefenstahl-Filmen, stellen Gesamtkunstwerke in diesem Sinne dar. Vielleicht kann sogar der 2. Weltkrieg, wenigstens in einem seiner Aspekte, als eine Art blutige Neronische Inszenierung eines Gesamtkunstwerks betrachtet werden (Anklänge einer solchen Haltung und Betrachtungsweise finden sich bekanntlich bei Ernst Jünger).

Goebel/Clermont zeigen unfreiwillig, was aus der finsteren Selbstheroisierung kapitalistischer Geschichte durch die Modernisierungsdiktaturen und aus dem philosophischen Abgesang radikaler Kritik bei Foucault in den konsumentendemokratischen Köpfen der kleinen postmodernen Scheißerchen wird. In der Postmoderne steigt der Gesamtkunsthandwerker vom Sockel des Maximo Leader herab und wird in Gestalt der vielen kleinen "Lebensästheten" zur Massenerscheinung. Voraussetzungen sind die volle kapitalistische Monadisierung des Subjekts (für die der "Führer" in seinen verschiedenen Gestalten ein traum-artiger und traumatischer Archetypus oder einfach ein Prototyp der Moderne war) sowie die volle Kommerzialisierung der Reproduktion und die Totalisierung der Warenästhetik als demokratische Nachkriegsresultate, die nach der fordistischen Inkubationsepoche erst in den 80er Jahren zur Blüte gelangten und erst in den 90er Jahren ihre Früchtchen tragen: "In den Demokratien wurde so aus dem großen Diktator eine unüberschaubare Zahl kleiner Tyrannen, und je mehr Egozentriker ein Gemeinwesen aufweist, desto freiheitlicher ist es in der Regel auch" (Goebel/Clermont, a.a.O., 56). Mit neoliberaler ideologischer Weihe dürfen also die vermassten "Lebensästheten" als "Alltagsexzentriker" marktwirtschaftliche Kundschaft darstellen; in der Praxis freilich weniger exotisch, als man erwarten sollte.

Wir können sicher sein, daß für etliche dieser "Lebensästheten" z.B. Richard Wagner, der Faschismus, Leni Riefenstahl usw. "Faszinosa" darstellen, allerdings weniger in direkt ideologischer als eben in ästhetischer und selbstästhetisierender Hinsicht (bzw. auch die Ideologie erscheint ästhetisch, als bloße Form). In demokratisch vermasster und kommerzialisierter Gestalt umfaßt aber der Herrschaftsbereich des diktatorischen Gesamtkunsthandwerkers "nicht mehr als eine Person" (a.a.O., 52), deren Ziel eine absurde "Perfektionierung des Seins...und die Inszenierung einer glorreichen Geschichte" (ebda), also die permanente Erfindung einer Biographie ist, die das reale Dasein als Arschloch der Marktwirtschaft in eine Art ritterliche Lebensaventüre uminterpretiert.

Der kapitalistisch monadisierte Mensch wird in seiner letzten Gestalt zum Selbstdarsteller, das Leben zu einer einzigen Selbstinszenierung, die Welt zur Bühne für die Qual des abstrakten "Selbst". Dementsprechend werden Outfit und Ambiente mit einer überdimensionalen Bedeutung aufgeladen. Nicht sich wohlzufühlen oder in einer angenehmen Umgebung zu leben (um dabei zur jeweiligen Sache, d.h. zum Inhalt zu kommen) ist "eigentlich" die Frage, sondern ob und wie die Requisiten zur selbstdarstellerischen Realinszenierung passen.

Keineswegs nur Kleidung und Mode gewinnen auf diese Weise gewissermaßen "inszenierungspolitische" Bedeutung, sondern (einer Zwangsneurose vergleichbar) überhaupt jedes Alltagsdetail: "Einen Staubsauger oder gar Kaffeefilter zum bedeutungsschweren Bestandteil einer in sich stimmigen Biographie machen zu müssen, ist ein Unternehmen, das vor zwanzig Jahren Kopfschütteln ausgelöst, vor fünfzig Jahren den direkten Weg in die Psychiatrie bedeutet hätte...Wo jedes noch so winzige Detail zum Baustein des Gesamtkunstwerks >Ich< werden kann, gibt es einfach nichts Unwichtiges...Das frei schwebende Angstpotential hat sich letztlich von der Apokalypse abgewandt und beschäftigt sich eher mit Fragen wie >ist der grüne Badezimmerschrank nun ein adäquater Ausdruck meines Lebensgefühls oder nicht?<..." (a.a.O., 42, 46).

Das ist keineswegs beißend ironisch, sondern ganz ernsthaft markt- und trendforscherisch gemeint. Und in diesen Kontext gehört, wie ein anderer Zeitgeistbeobachter bemerkt, auch das Postulat, daß jeder Mensch ein Künstler sei: "Die kommunikativen Möglichkeiten der Oberbekleidung sind in diese immer fieberhafter werdende Ausdruckstätigkeit längst ebenso fugenlos eingearbeitet wie die Weltreligionen, die künstlerischen Stile seit dem Barock, sämtliche symbolisch verwertbaren Reiseziele und Weltgegenden oder die Lebensentwürfe der Boheme von Franziska Gräfin zu Reventlow bis Rudi Dutschke und Johnny Rotten" (Wackwitz 1996).

Es ist leicht absehbar, wie sich für die "lebensästhetische" Selbstdarstellungs-Monade ihre Gesellschaftlichkeit gestalten muß. Die Gesellschaft als diktatorisch inszenierter Ausdruck des eigenen Selbst kommt nicht mehr in Frage, jedes Individuum ist nur noch sein eigener Diktator. Die "Lebensästheten" kommen der Thatcher-Definition ziemlich nahe, daß es "keine Gesellschaft gibt, sondern nur Individuen". Goebel/Clermont veredeln diesen Sachverhalt zur marktwirtschaftsdemokratischen Tugend: "Die Heimat des Lebensästheten ist die Zivilgesellschaft...Der Lebensästhet benötigt die liberale, demokratische Gesellschaft zum Erhalt seines kleinen >Imperiums<..." (a.a.O., 84 f.). Womit schon gesagt ist, wohin auch der linkspostmodernistische Lebens- und Politästhetizismus eigentlich gehört, der den "intellektuelle Kritik und bewußtes Widerständlertum verweigernden" Sozialcharakter der "Lebensästheten" geradezu als eine Art revolutionäres Subjekt stilisiert.

Die Feier des "demokratischen Bargaining" zwischen "souveränen" Individuen ideologisiert nur die höchstentwickelte Form eines warenfetischistischen Systems, in dem bekanntlich jeder Mensch den anderen zum Mittel seines ökonomischen Selbstinteresses machen muß und so eine wechselseitige Verdinglichung entsteht. Der Postmodernismus erweitert diesen sozialökonomischen Grundsachverhalt nur um die warenästhetische Dimension, d.h. alle machen sich wechselseitig zu Requisiten des eigenen Ich als Gesamtkunstwerk - nicht nur einzelne andere Personen, sondern Gesellschaft und Welt überhaupt.

Und da dies in der marktwirtschaftsdemokratischen Weltversion eben nur nach deren Spielregeln gehen kann, also über die verinnerlichte bürgerliche Rechtssubjektivität, werden Markt und Geld (oder symbolisch-interaktionistische Markt- und Geldsurrogate) zu zentralen Medien dieser wechselseitigen Instrumentalisierung als Design-Requisiten. Natürlich ist der Begriff des/der "LebensästhetIn" eine (induktive) Abstraktion, in der niemand völlig aufgehen kann. Aber es handelt sich um eine gesellschaftliche Großtendenz des kapitalistischen Endstadiums in den westlichen Metropolen, die samt der dazu passenden Ideologie diesen Typus hervorbringt und zum unbewußten Leitbild macht, dem sich die Mainstream-Individuen so weit wie möglich anzunähern suchen.

Dieses Realkonstrukt weist verdächtige Ähnlichkeit mit Wahnvorstellungen von Schizophrenen auf, die alle Erscheinungen, Ereignisse, sogar Landschaften usw. zwanghaft auf sich beziehen. In der gesellschaftlichen Lebenspraxis auf allen Ebenen bedeutet dies eine solide Basis von Beliebigkeit und letzter Unverbindlichkeit: "Der lebensästhetische Utilitarismus ist einzig und allein der jeweiligen individuellen Biographie verpflichtet" (a.a.O., 89). Dies gilt allerdings nicht unmittelbar, sondern durchaus vermittelt über Beziehungen, Inhalte und Gegenstände, die den abstrakten Stoff des Selbstdarstellungs-Design bilden müssen, ganz wie die abstrakte Materie des Gebrauchswerts der Wertform einen Körper verleiht.

Die "Lebensästheten" können sich also im Einzelfall vordergründig durchaus engagiert, altruistisch, gesellschaftskritisch usw. (möglicherweise sogar wertkritisch) verhalten - aber eben nicht aus einem verbindlichen persönlichen und inhaltlichen Bezug heraus, sondern einzig und allein deswegen, weil sie den jeweiligen Gegenstand oder die jeweilige Beziehung mehr oder weniger zufällig in ihre Selbstinszenierung eingebaut haben. Wie die bizarren kriegerischen Taten des "politexzentrischen" Poeten Gabriele d'Annunzio nicht das geringste mit der realen Geschichte zu tun hatten (oder nur indirekt, insofern diese Geschichte eben solche Figuren hervorgebracht hat), sondern einfach im Drehbuch seiner Selbstinszenierung standen, so folgen auch die postmodern vermassten "Lebensästheten" nur den selbstverfassten Regieanweisungen ihrer jeweiligen gesamtkunsthandwerklichen Realinszenierung, wenn auch in einer vergleichsweise alltagsbanalen Art und Weise.

Als soziale Wesen, die sie trotz alledem sein müssen, schreiten die "Lebensästheten" somit über morastigen Grund. Da die Selbstinszenierung immer zweifelhaft ist und die Selbstdarsteller deswegen ewig "an der eigenen Biographie, der eigenen Moral (basteln)" (a.a.O., 92) müssen, bleibt alles im Zustand der permanenten Unsicherheit und Wechselhaftigkeit. Soll ich nun Maler oder Filmregisseur werden oder doch lieber Lokomotivführer? Paßt der grüne Badezimmerschrank eigentlich zur gegenwärtigen Entwicklung meines Stils? Entspricht meine Freundin oder überhaupt meine sexuelle Orientierung noch dem gegenwärtigen Stand meines Gesamtkunstwerks? Ist die Stadt Nürnberg, Hamburg, Berlin weiterhin ein zureichender Ausdruck meiner Persönlichkeit? Ist dieser Kontinent es noch wert, daß ich auf ihm verweile?

Und was für Dinge oder Personen gilt, das gilt selbstverständlich erst recht für Ideen oder gesellschaftskritische Positionen, die ihren Wert in letzter Instanz nicht aus sich selbst beziehen, sondern daraus, daß sie (temporäre oder längerfristige) Requisiten MEINER Selbstinszenierung sind. So erklärt sich auch letzten Endes die "korrektheits-ästhetische" Formalisierung von zunehmend inhaltslosen Debatten, wie Goebel/Clermont in aller affirmativen Unschuld ausplaudern: "Diskussionen drehen sich in der Regel dann auch weniger um Inhalte als um persönliche Verletzungen...die Trennung von Sache und Person ist heute im Streitfall nicht mehr möglich" (a.a.O., 84).

Mit bloßem Auge ist zu erkennen, daß es hier um Reinformen abstrakter Individualität, um das warenförmige Styling kapitalistischer Persönlichkeitsattrappen mit einem ungeheuren Illusionspotential geht, wie es der Individualanarchismus schon im 19. Jahrhundert mit Max Stirners "MIR GEHT NICHTS ÜBER MICH" vorgedacht hat. Aus einer damals bizarren Ideologie, die nur im Randgruppenmilieu einer intellektuellen Boheme gedeihen konnte, hat sich dieser Typus über viele Stationen hinweg (und immer wieder begleitet von der konstruktivistischen Idee des Gesamtkunstwerks) in der kapitalistischen Durchsetzungsgeschichte weiterentwickelt, bis zu seiner Banalisierung und (relativen) Vermassung in der Postmoderne.

Daß dabei die "neue Linke" und ihre Nachfahren eine bedeutende Rolle gespielt haben, ist keineswegs zufällig. Die 68er Bewegung hat ja weder theoretisch noch praktisch den Arbeiterbewegungsmarxismus historisch aufheben können, und das gilt für ihre Ausläufer und Nachfolger erst recht. Sämtliche Emanzipationstheorien und -Bewegungen der Vergangenheit wurden vielmehr gewissermaßen auf einer kulturell beschränkten Ebene "nachinszeniert", bis der Mainstream der Realos wieder dort ankam, von wo die "neue Linke" einst ausgezogen war: bei Marktwirtschaft und Demokratie, also im bürgerlichen Heimathafen. Aufs Ganze gesehen war die gesellschaftskritische Radikalität insofern in den letzten 30 Jahren immer nur Attrappe, wie Goebel/Clermont mit interessierter Schläue feststellen: "Die Revolutionäre von 68 waren die Entdecker der Lebensästhetik. Ihr Widerstand war nicht zuletzt ästhetisch motiviert, die kommunistischen Ideale wohlgestaltete Selbstinszenierungen" (a.a.O., 81).

Mit fortschreitender Entwicklung löste sich allerdings die Ästhetisierung und Selbstinszenierung von den ererbten gesellschaftskritischen Bezügen und Theoriegebäuden ab, insbesondere von der Ökonomiekritik. Jede neue Bewegungsgeneration wurde um einiges "kulturalistischer" als die vorhergehende und damit zum Bühnenboden von immer offener produzierten Selbstdarstellungen. Schon Ende der 70er Jahre sprach der US-Historiker Christopher Lasch vom "Zeitalter des Narzißmus" und ordnete die "neuen sozialen Bewegungen" trotz ihres vordergründigen Moralismus (oder gerade deswegen) als Schrittmacher dieses Zeitalters ein: "Die Popularisierung psychiatrischer Denkweisen, die Verbreitung der >Neuen Bewußtwerdungsbewegung<, der Traum vom Ruhm und das gequälte Gefühl des Versagens, welche die Suche nach geistigen Allheilmitteln allesamt noch dringlicher machen, haben eins gemeinsam: eine ungewöhnlich starke Beschäftigung mit dem Ich. Diese Selbstbezogenheit prägt das moralische Klima der zeitgenössischen Gesellschaft. Es geht nicht mehr darum, die Natur zu erobern oder neue, gesellschaftliche Herausforderungen zu suchen, sondern um Selbstverwirklichung...Der Narzißmus scheint praktisch die beste Art und Weise zu sein, sich den Spannungen und Ängsten des modernen Lebens gewachsen zu zeigen, und die herrschenden gesellschaftlichen Umstände bringen deshalb die narzißtischen Charaktereigenschaften deutlich zum Vorschein, die in unterschiedlichem Grade bei jedem einzelnen anzutreffen sind" (Lasch 1986/1979, 42, 69).

Der Postmodernismus scheint diesen bewußtlos gesellschaftlich produzierten Impetus vollenden zu wollen, und die postmoderne Linke schwimmt voll in diesem Mainstream des kapitalistischen Bewußtseins mit. Die "Lebensästheten" stellen nur eine Radikalisierung der schon seit 1968 und in den neuen sozialen Bewegungen spukenden Idee der "Selbstverwirklichung" dar, nunmehr getragen vom Individualisierungsschub der 80er Jahre. Dieser Begriff bezieht sich nicht mehr (wie gelegentlich im Marxismus) auf ein bewußt mit allen anderen vermitteltes Selbst, auf die "Verwirklichung" des konkreten gesellschaftlichen Menschen, sondern nur noch auf die "verwirklichte" Selbstdarstellung der atomisierten "vereinzelten Einzelnen", deren gesellschaftlicher Status vor aller Kritik zum bewußtlosen Apriori geworden ist. Es ist keineswegs erforderlich, konservative Tugenden á la Gräfin Dönhoff oder Bürgersinn nach kommunitaristischer Art zu beschwören, um diesen narzißtischen Begriff der "Selbstverwirklichung" radikal kritisieren zu können. Denn ganz offensichtlich wird hier die abstrakte Individualität ontologisiert statt emanzipatorisch aufgehoben. Was sich da "verwirklichen" soll, ist das immer schon unkritisch vorausgesetzte verdinglichte Ich des fetischistisch konstituierten Menschen.

Lasch, der selber gelegentlich in kulturkonservative Argumente abgleitet, macht andererseits deutlich, daß der Narzißmus eigentlich Selbsthaß ist, geboren aus dem irrational, affirmativ und destruktiv verarbeiteten Versagen an den kapitalistischen Kriterien, die gar nicht real durchgehalten werden können. Hatte sich aber der scheinpolitische Narzißmus der 70er und frühen 80er Jahre noch an die Kategorie der "Echtheit" oder Authentizität geklammert (die eine letzte ideologisch verzerrte Erinnerung an den verlorenen Inhaltsbezug darstellte), so erscheint der postmodern-dekonstruktiv geläuterte Narzißmus umgekehrt schon als "echte Falschheit", die virtuos und nahezu vollautomatisch jeden Inhalt in Form und jede Beziehung in Design verwandelt.

"Selbstverwirklichung" ist insofern nichts anderes als die Verdrängung von Gesellschaftskritik durch ihre Umwandlung in Sinn- und Persönlichkeits-Design, das den affirmativen Selbsthaß der kapitalistischen Verlierer narzißtisch maskiert (auch die vorläufigen Gewinner sind unter dem Damoklesschwert der Konkurrenz immer schon potentielle Verlierer). Das Verschwinden der gesellschaftlichen Konstitutionsproblematik und die Reflexionslosigkeit auf die eigene fetischistische Bewußtseinsform mündet in die Parolen "Let it be", "Steh dazu" und den jugendkulturellen Spruch "Sei es einfach" (in dieser Reihenfolge); und gerade deswegen erübrigt sich ja auch jede inhaltlich verbindliche Auseinandersetzung über intersubjektive Strukturen, Bedrängnisse und Projekte, die allesamt nur noch Requisiten des biographischen Selbstinszenierungs-"Films" abgeben können.

Diese paradoxe Art der Amalgamierung von Realität und Illusion, Sieg und Niederlage, Gewinn und Verlust, Echtheit und Falschheit, Kritik und Kritiklosigkeit usw. im System der totalen Konkurrenz macht auf perfide Weise wehrlos. Auch die Politik wird, ebenso wie die Kunst, nicht aufgehoben, sondern in Design umgeformt. So stellt der dekonstruktiv fortentwickelte Postmodernismus die vielleicht raffinierteste kapitalistische Integrationsleistung dar, vorgedacht und vollbracht von den Borderliner-"Lebensästheten". Die radikale Kritik der Wertvergesellschaftung ist der einzig mögliche Ausweg aus dem Labyrinth der warenproduzierenden Moderne. Aber gerade deswegen ist die wertkritische Polemik gegen den Postmodernismus eine veritable Notwehr. Denn in den Händen der narzißtischen "Lebensästheten" kann sogar der Sprengstoff der Wertkritik zu Limonade werden.


Keine Krise, nirgends

Der linke Lifestyle-Postmodernismus, wie er heute an den meisten Unis und in bestimmten "Selbstverwirklichungsmilieus" als "expressiver Individualismus" komplementär zum klassischen, sozialökonomisch zentrierten "utilitaristischen Individualismus" der Volkswirtschaftslehre (vgl. Früchtl 1994) grassiert, stellt in gewisser Weise ein Nachhutgefecht dar. Der Zeitgeist ist eigentlich schon weitergezogen und hat den Marxismus als intellektuelle Modeerscheinung der 70er Jahre längst hinter sich gelassen, denn der Postmodernismus als solcher stellt den Kapitalismus ja explizit nicht mehr in Frage; freilich nicht in Form einer traditionellen ideologischen Konversion, sondern er erklärt die Problemstellung und den feindlichen Gegensatz von Gesellschaftskritik und antikritischer Affirmation als solche für gegenstandslos. Aber gerade deswegen kann eine Art dekonstruktiv kupierter Marxismus vielleicht unter postmodernen Umständen auf eine gespenstische Weise wiederkehren.

Denn erstens gibt es jetzt bereits Generationen, die nicht mehr in den Kategorien des 70er-Jahre-Marxismus intellektuell sozialisiert worden sind, sondern von Haus aus in den kulturalistischen Kategorien der Postmoderne. Sie können nun den Marxismus unbefangen wiederentdecken, allerdings eben in ihren ansozialisierten Kategorien des Designer-Bewußtseins, d.h. als "frei verfügbares Zeichensystem", das dem eigenen "lebensästhetischen" Sinn-Design möglicherweise einverleibt wird (die eigentliche gesellschaftskritische Entdeckung dieser Generationen wäre es, diesen Zusammenhang zu durchschauen und zu durchbrechen, wovon weit und breit nichts zu sehen ist).

Zweitens aber gibt es natürlich auch jede Menge mehr oder weniger angejahrte Neupostmodernisten, die schon etliche Durchläufe von Bewußtseinskonjunkturen hinter sich haben und von denen einige nicht ganz damit zurechtkommen, ihre linke oder gar linksradikale Vergangenheit ordnungsgemäß zu entsorgen. Gewohnheitsmäßig färben sie die neueste Masche mit den schon etwas blassen Tönen ihres alten Begriffsapparats ein (oder umgekehrt, was auf dasselbe hinausläuft). Das gilt nicht bloß für die heutigen Rezipienten, sondern sogar für die theoretischen Protagonisten des Postmodernismus selbst, die ja fast alle in ihren jüngeren Jahren mehr oder weniger den damaligen neomarxistischen intellektuellen Milieus angehört haben (zu denken wäre etwa an die direkten und indirekten Beziehungen von Althusser, Foucault, Derrida usw.), sodaß in ihren Texten noch Elemente eines marxistischen Kauderwelsch herumspuken und ihnen den Anschein eines (selbstverständlich soziologistisch verkürzten) Sinnbezugs verleihen. Die "Bourgeoisie" z.B. führt ein höchst eigentümliches Dasein im postmodernistischen Schattenreich der abgerüsteten Theorie.

Der alte Modernisierungs-Marxismus wurde im Kontext der postmodernen Linken ebensowenig kritisch aufgehoben wie im Kontext der alt-neuen 68er Linken. Aber ist er auch als Potential einer realen gesellschaftlichen Transformation endgültig kraftlos und obsolet geworden, so kann er als Bewußtseins-Design dennoch in Gestalt einer billigen Retro-Mode wiedererscheinen. Daß der ehemalige Inhaltsbezug sich zur Gegenstandslosigkeit verflüchtigt hat, ist ja geradezu Voraussetzung dafür. Was auf diese Weise herauskommt, ist eine Art posthistorische Karikatur auf den Arbeiterbewegungs-Marxismus, dessen unaufgehobene Requisiten allesamt in teils bizarren postmodernistischen Verkleidungen wieder auftauchen (nicht nur die "Bourgeoisie").

Und es gibt sogar ein Moment von Stimmigkeit dabei, denn wie der Postmodernismus insgesamt nichts weiter als ein schräger Fortsetzungsbegriff der unaufgehobenen Moderne ist, die sich selber überleben will, so steht auch das postmoderne Linkssein noch auf demselben Boden wie das alte "klassisch moderne" Linkssein. Wertkritisch gesehen ist die alles durchdringende gemeinsame Essenz von Moderne, Postmoderne und bisheriger Gesellschaftskritik natürlich der gemeinsame Fetischismus des warenproduzierenden Systems, der sich nur von verschiedenen systemimmanenten Standpunkten aus und in verschiedenen Entwicklungsstadien des Systems unterschiedlich darstellt.

Ein Gegenstand, an dem sich dies besonders deutlich zeigt, ist das Problem der Krise. Der Postmodernismus im allgemeinen und seine linken Versionen im besonderen haben nicht nur die Ökonomiekritik kulturalistisch eskamotiert, sondern damit auch die Krise überhaupt und als solche. In den postmodernen Theoremen kommt die Krisentheorie nicht einmal mehr als Schatten vor (oder nur insofern, als sie abgewehrt und madig gemacht werden soll). Das ist kein Zufall. Schon im alten Arbeiterbewegungs-Marxismus war die Krisentheorie immer ein Fremdkörper, auch wenn die marxistische Orthodoxie natürlich die einschlägigen Bestandteile der Marxschen Theorie notgedrungen aufnehmen mußte. Aber die gesamte klassische krisentheoretische Debatte samt ihren Nachzüglern im 70er-Jahre-Marxismus läßt sich als einzige Abwehrschlacht gegen die darin enthaltene Zumutung lesen.

Denn die Krisentheorie war schon von Anfang an derjenige Bestandteil des Marxismus, in dem die innere Schranke der Wertform als solcher und damit der fetischistischen Subjektivität aller kapitalistisch konstituierten Klassen und Sozialcharaktere aufscheinen mußte. Krisentheorie und Fetischkritik bilden eine logische Einheit, die implizit bereits auf eine historische Problemstellung jenseits des soziologistisch beschränkten Klassenkampf-Denkens verweist. Deswegen machte sich in diesem Kontext stets etwas Unerträgliches für jeglichen Arbeiterbewegungs-Marxismus geltend, der ja als historisches Subjekt der Modernisierung an die Wertform gefesselt blieb. So mußte der alte Marxismus stets der Krisentheorie den Zahn ziehen und sie in ein harmloses zyklisches Modell verwandeln, um den eigenen Status als Binnensubjekt des warenproduzierenden Systems erhalten zu können.

Kein Wunder also, daß heute eine radikale Krisentheorie mit der Hypothese einer historisch aktuell werdenden, absoluten inneren Schranke der Wertvergesellschaftung trotz aller empirischen Evidenz den Abscheu und die Entrüstung von Resten des alten Marxismus wie von postmodernen Linken gleichermaßen hervorruft. Besonders das Reizwort "Zusammenbruchstheorie" läßt die Jalousien quer durch das wertimmanente linke Spektrum heruntergehen. "Zusammenbruch" der Wertform (was immer darunter jeweils verstanden und herausgehört wird) darf nicht sein, weil die eigene Subjektivität letzten Endes daran gebunden ist.

Die Krise darf also nur vorkommen im Zusammenhang eines Räsonnements über "das neue Gesicht des Kapitalismus" (Hirsch/Roth 1986), denn stets soll es "auf ein neues" gehen im warenförmigen "Gehäuse der Hörigkeit" (Max Weber); niemals kann die Möglichkeit ernsthaft in Betracht gezogen werden, daß wir es mit einer Epoche der strukturellen Grenze, der objektivierten Selbstzerstörung und des Zusammenbruchs von Wertsubstanz und Warenform zu tun haben. Demnach erübrigt sich dann auch die Entwicklung einer neuen, anderen Kampfperspektive, die auf eine reale Aufhebung warenförmiger Beziehungen abzielt. Stattdessen begnügt man/frau sich mit der Eruierung der vermeintlichen "neuen Bedingungen" innerhalb der unaufgehobenen, nicht ernsthaft gefährdeten und auch nicht ernsthaft anzugreifenden oder gar aufzuhebenden Verkehrsformen der Wertvergesellschaftung.

Ökonomiekritik, Krisentheorie und Fetischkritik müssen somit als logischer und analytischer Zusammenhang bei den Resten des Altmarxismus ebenso wie bei der postmodernen Linken gänzlich zum Verschwinden gebracht werden, gerade weil das Ende der aufsteigenden Modernisierungsbewegung es nicht mehr erlaubt, diese Gegenstände der Theorie "nebenseitig", verwaschen und entschärft in ein positives Modernisierungs-Paradigma mehr oder weniger elegant hineinzuschmuggeln. Je brüchiger die fetischistische Konstitution wird und je massiver die reale Krise den Subjekten auf den Pelz rückt, desto mehr wird eine in den Handlungs- und Denkformen der Wertvergesellschaftung befangene Restlinke "wie von selbst" von diesen Gegenständen abrücken und sie geradezu tabuisieren.

Soweit also radikale Kritik in postmodernes Sinn-Design verwandelt werden soll, muß zwangsläufig als erstes die krisentheoretische Seele der Radikalität wegoperiert werden, und zwar auf allen Ebenen: von der wert- und akkumulationstheoretischen Abstraktion bis zu den empirischen Befunden. Natürlich kann und will die krisentheoretische Analyse der unter unseren Augen aufscheinenden absoluten Schranke der Wertvergesellschaftung keinen positivistischen, quasi mathematischen Beweis für einen bestimmten Zeithorizont und eine bestimmte Verlaufsform geben; aber sie kann zeigen, daß und wie jede neue finanztechnische Auffangstellung oder umgekehrt jede neue Flucht nach vorn (gegenwärtig in die Globalisierung des Kapitals) nur neue Widersprüche aufreißen und den historischen Krisenprozeß weitertreiben wird. Aber nicht um eine Analyse der realen Verlaufsform geht es dem (linken) Postmodernismus, sondern um die ideologische Entsorgung des Krisenproblems überhaupt.

Denn seinem affirmativen und kulturalistischen Wesen nach ist das postmoderne Lebensgefühl bereits "vortheoretisch" völlig auf systemkonforme warenästhetische Erwartungen und Hoffnungen fixiert, die gar keine Krise mehr brauchen können und überhaupt nur noch in den westmitteleuropäischen Fußgängerzonen mit ihren demokratischen Tempeln des warenkonsumierenden Schwachsinns angesiedelt sind. Deshalb ist speziell vom linken Postmodernismus auch keine akkumulations- und krisentheoretische Argumentation als Teil einer inhaltlichen Auseinandersetzung zu erwarten, die sich auf das Krisenproblem ernsthaft einließe, sondern eher eine von Schutzbehauptungen geprägte "Antikrisentheorie" (die nur wie gehabt die ewige "Anpassungsfähigkeit" des Kapitalismus ideologisch verteidigt) - oder überhaupt das schiere Desinteresse am Gegenstand. Mehr noch, die Krisentheorie wird bereits als solche in einen grundsätzlich denunziatorischen Zusammenhang gebracht, indem die theoretische Argumentation zur inneren Schranke der Verwertung, zur strukturellen Überakkumulation des Kapitals, zur historischen Expansion der unproduktiven Arbeit, des fiktiven Kapitals usw. im neopositivistischen postmodernen Bewußtsein nur noch unter dem Rubrum "orakelhafte Prophezeiungen" erscheint, um sich der Problemstellung als solcher entledigen zu können.

Keineswegs zufällig stößt gerade "Die Beute" in dieses Horn, indem sie die wertkritische Krisentheorie mit einem gelegentlichen Seitenhieb als "apokalyptische Zukunftsprognosen, wie sie bei manchen linken Wirtschaftswochen-Ökonomen mit Blick auf die (ökonomische) Globalisierung beliebt geworden sind" (Die Beute 11/1996) eilfertig zu denunzieren sucht. Eine leicht erklärbare Abneigung; ist es doch offensichtlich, daß diese kulturalistische Zeitgeist-Gazette, die kapitalistische Ökonomie für ein "Wirtschaftswoche"-Phänomen hält, schon länger daran bastelt, ihren hippen Postmodernismus mit dem altlinks-abgestandenen vulgärdemokratischen "Radikalreformismus" eines Seitenzweigs der Habermas-Dynastie zu verheiraten. Bezeichnenderweise kam dieselbe Denunziation schon früher aus einer ganz anderen Ecke der altmarxistischen Restlinken, die mit dem Postmodernismus sicherlich nichts am Hut hat, nämlich von der Zeitschrift "Gegenstandpunkt" der ehemaligen "Marxistischen Gruppe"; dort figurierte die wertkritische Krisentheorie als "Der Untergang des Abendlandes - linksherum" (Gegenstandpunkt 2/1992).

Die Gemeinsamkeit der Anwürfe über alle sonstigen Grenzen hinweg verrät nicht nur, daß arbeitsontologische Steinzeitmarxisten und postmoderne Linke hinsichtlich der Krisentheorie in demselben Sack stecken und sich theoretisch wie praktisch nur innerhalb der fetischistischen Konstitution (wenn auch auf unterschiedliche Weise) bewegen können. Vor allem wird auch deutlich, daß sie ebenso gemeinsam mit den Wölfen des bürgerlichen Aufklärungsdenkens heulen, das schon immer jedes auch nur angedeutete Aufscheinen einer immanenten Fundamentalkrise der kapitalistischen Moderne als Propaganda der "finsteren Reaktion" abqualifizieren wollte. Es gehört zu den ältesten Essentials des Liberalismus, daß er jede Benennung der evidenten Katastrophenpotenz, wie sie die Vergesellschaftungsform des warenproduzierenden Systems auszeichnet, als "apokalyptische Prophezeiung" in die Ecke eines abergläubischen und irrationalen, rückwärtsgewandten und "antizivilisatorischen" Denkens drängen will. Verhöhnt werden damit nicht nur die Hekatomben von Schlachtopfern der Modernisierung und die im 18. und frühen 19. Jahrhundert vom Liberalismus blutig erstickten sozialemanzipatorischen Bewegungen (wie es etwa Edward P. Thompson gezeigt hat); mit bodenloser Ignoranz ignoriert werden auch sämtliche Signale der zeitgenössischen Situation, die auf das Erreichen einer absoluten inneren Schranke der Wertvergesellschaftung hindeuten.

Die Ideologen des Marktsystems und ihre linkspostmodernistischen nützlichen Idioten möchten die Krisentheorie in eine Fin-de-siècle-Stimmung einordnen und die rein äußerliche Zufälligkeit der Jahrtausendwende in der christlichen Zeitrechnung dafür ausnutzen, den strukturell kollapierenden inneren Selbstwiderspruch des warenproduzierenden Systems durch Verweis auf irgendwelche unbegründeten, bloß irrationalen Milleniums-Ängste wegzudefinieren. Dabei merken sie nicht einmal, daß sie sich sogar innerhalb dieses kruden Konstrukts blamieren. Denn immerhin behielten bei der letzten Fin-de-siècle-Stimmung selbst noch die verrücktesten Krisenheiligen gegenüber den damaligen bürgerlich-"vernünftigen" Entwarnern insofern recht, als wenig später das Wilhelminische Reich und überhaupt der bürgerliche Fortschrittsoptimismus im Inferno des 1. Weltkriegs verglühten. Und die Folgeereignisse (Weltwirtschaftskrise, Faschismus und Holocaust, Zweiter Weltkrieg) übertrafen bei weitem sämtliche mittelalterlichen Milleniums-Katastrophenszenarios.

Als kaum weniger affirmativ und ignorant erweist sich der heutige "antifundamentalistische" Feldzug seichter prokapitalistischer Ideologen, die mit ganz ähnlichen Motiven wie die postmoderne Linke gegen die "Endzeit-Propheten" als "Offensive der Antiwestler" (Herzinger/Stein 1995) mobil machen wollen. Hier wird die durchaus kapitalimmanent erklärbare Existenz eines rechtskulturalistischen und neonationalistischen Antiamerikanismus samt seinen antisemitischen Ober- und Untertönen dafür instrumentalisiert, jegliche Kapitalismuskritik als reaktionäre Ideologie zu identifizieren und damit die soziale Emanzipation von den kapitalistischen Zumutungen für unmöglich zu erklären. Die Kritik des Warenfetischismus soll als "gegenaufklärerische These..., die Erfolgsgeschichte des Kapitalismus beruhe auf einer magisch-blendenden Wirkung des Geldes" (Herzinger/Stein, a.a.O., 182) dem Reich des Irrationalismus zugerechnet und damit abgeblockt werden. "Widerwillen gegen die Moderne", und jedwede Aufklärungskritik usw. erscheinen wie selbstverständlich unter dem Rubrum des Bösen, als hätte es die "Dialektik der Aufklärung" niemals gegeben und als wäre das Aufklärungsdenken nicht selber zutiefst vom Irrationalismus durchdrungen, der von Anfang an die Kehrseite (die Nachtseite) derselben Medaille bürgerlicher Rationalität darstellte.

Die Menschen sollen nur noch zwischen der Pest der kapitalistischen Aufklärungsmoderne und der Cholera apokalyptischer Blutopferideologien wählen können (dürfen) und sich schließlich angesichts dieser famosen Alternative aufatmend "zur befreienden Durchsetzungskraft des Geldes bekennen" (Zielcke 1995). Ausgeblendet wird dabei nicht nur jegliche Möglichkeit emanzipatorischer Kapitalismuskritik; unterschlagen wird auch der doppelte innere Zusammenhang von Liberalismus und Neofaschismus/Fundamentalismus. Denn erstens sind es die marktwirtschaftlichen Katastrophen und die "stummen", subjektlosen Blutopferrituale des Liberalismus und seiner institutionellen Ausgeburten selbst, aus denen das Gespenst des Stahlgewitter-Irrationalismus hervorkriecht; zweitens ist der rechte Neofundamentalismus auch ideologisch kein Gegenpol, sondern ein historisches Derivat des Liberalismus, eine Ideologie der "Fortsetzung der Konkurrenz mit anderen Mitteln" (eine Schnittmenge stellt z.B. der Sozialdarwinismus dar). Prokapitalistische Hurraliberale wie Herzinger/Stein haben überhaupt kein Recht, sich als Warner und weiße Ritter gegen die Bocksgesänge neurechts raunender Edelirrationalisten aufzuspielen, denn ihr Denken gehört demselben ideologischen Kontinuum an und ist ebenso blutopferträchtig.

Die Restlinke altmarxistischen oder postmodernen Zuschnitts kann demgegenüber eine soziologistisch verkürzte Kapitalismuskritik, die nichts weiter ist als eine Variante bürgerlicher Modernisierungsideologie, in der strukturellen Krise der Wertvergesellschaftung nur noch schwächelnd und unglaubwürdig geltend machen; eben weil ihre Voraussetzung, die historische Aufstiegsbewegung des warenproduzierenden Systems, zum Stillstand gekommen ist. Der historische Nebel lichtet sich und zum Vorschein kommt auch die innere Verwandtschaft der gesamten Linken mit dem Liberalismus, aus dem sie ja ursprünglich im 19. Jahrhundert als illegitimer Bastard hervorgegangen war. Auch wenn natürlich Liberalismus, Sozialismus und Faschismus nicht identisch sind, sondern den Kampf um die Gestalten der Modernisierung führten, so sind sie doch feindliche Brüder, entstammen derselben Wurzel und trugen ihre Konflikte auf dem gemeinsamen Boden der unreflektierten, zum neutralen Gegenstand geronnenen Wertform aus. Was die "neue Unübersichtlichkeit" (Habermas) der gegenwärtigen Epoche ausmacht, ist die Tatsache, daß jetzt dieser gemeinsame Boden der Wertform ins Wanken gerät.

Die Linke wollte immer nur die bürgerliche Aufklärung verlängern oder vollenden, ohne deren Charakter jemals zu durchschauen. So mußte sie in der Nachkriegsgeschichte immer wieder hinter das theoretische Niveau der "Dialektik der Aufklärung" zurückfallen (geschweige denn, daß sie jemals darüber hinausgekommen wäre). So ist sie jetzt unter allem Niveau angelangt und es ist absehbar, daß sie sich nur noch mehr oder weniger verschämt dem Neoliberalismus an den Hals werfen kann - ganz besonders in ihrer kulturalistisch-warenästhetischen postmodernen Gestalt, die das Paradox eines neoliberalen Linksradikalismus darstellt.. Die gemeinsame, wörtlich identische Sprache mit den neoliberalen Ideologen gegen die wertkritische radikale Krisentheorie ("apokalyptische Prophezeiungen", "orakelhafte Endzeitideologie" usw.) zeigt bereits diesen Schulterschluß an.

Das Mitschwimmen auf der Welle des postmodernistischen "lebensästhetischen" Waren-Konsumismus im Windschatten der kapitalistischen Globalisierung macht postmoderne Linke und Neoliberalismus gleichzeitig auch auf der Alltagsebene in einem gemeinsamen Bewußtsein der Krisenignoranz kompatibel. Der vordergründige postmodernistische Antirassismus und Antinationalismus etc., zunehmend von jeder ernsthaften Kapitalismuskritik entkoppelt und eingebaut in die Selbstinszenierungen der "Lebensästheten" mit ihrer narzißtischen "Sorge um sich" (Foucault), ist schon längst völlig zahnlos geworden und lebt nur noch auf neoliberalen Kredit. War aber einst der Arbeiterbewegungs-Marxismus in der Weltkriegsepoche von der faschistischen Nachtseite der Aufklärung zermalmt worden, weil er in den Schrecken der kapitalistischen Katastrophe nur einen schwachen Aufguß der Modernisierungsideologie zu bieten hatte, so könnte die postmoderne Linke ein ähnliches Schicksal umso mehr erwarten, als sie noch viel weniger ausgerüstet und vorbereitet ist.

Die Ahnung dieser katastrophalen Zukunft kann aber für den Postmodernismus nur in eine starke Verdrängungsleistung münden. Das beste Mittel dafür ist es, die Krise radikal zu subjektivieren, etwa nach dem Motto: "Wie du hinschaust, so schaut es zurück"! Auch ökonomietheoretisch nähert sich so die postmoderne Linke in gewisser Weise dem Liberalismus an, der in Gestalt der Grenznutzenlehre schon vor mehr als hundert Jahren die Wertkategorie (im Unterschied zu seinen eigenen Klassikern wie Smith und Ricardo) radikal subjektiviert und in ein System von Käuferpräferenzen (subjektiven Nutzenschätzungen) aufgelöst hat. Der substantielle Wertbegriff verschwindet dabei letzten Endes völlig und wird vom bloß relativen Preisbegriff aufgesaugt. In ähnlicher Weise läßt die postmoderne Linke nun die Krisentheorie in den subjektiven Präferenzen der Marktteilnehmer verschwinden; eine fundamentale Krise erscheint als gar nicht möglich, solange es mehrheitlich "eine Art Gottvertrauen" in das Funktionieren des Systems gibt.

Eine solche Denkweise, die das Problem der fetischistischen Konstitution "hinter dem Rücken" der munteren Marktwirtschaftler vollständig ignoriert, ist natürlich dem Postmodernismus umso mehr eigen, sobald er sich von der linken Kapitalismuskritik endlich ganz "emanzipiert" hat. Die "apokalyptischen Prophezeiungen" der finsteren "Endzeitpropheten" erscheinen dann nur noch als dumme oder bösartige "Miesmacherei", von der die Krise womöglich noch "herbeigeredet" wird, ganz wie die Postmodernisten selber sie wegreden wollen, um ihren irren Frohsinn nicht unterbrechen zu müssen. Während die wunderbare marktwirtschaftliche Welt in Elend und Barbarei versinkt, wollen sie rosige Zeiten heraufdämmern sehen. "Nur Mut" und "Keine Panik", mit diesen Roman-Herzog-Parolen endet denn auch die postmoderne Eloge auf den Kapitalismus von Goebel/Clermont; werden für sie doch "heute die Umrisse einer zivilen Arbeitsgesellschaft der Zukunft sichtbar", in der "das innovative Biotop unternehmerischer Lebenskünstler blüht" (a.a.O., 196 f.).

Die Reihen der großen Koalition von "prowestlichen" Antikrisenideologen und Mutmachern des "positiven Denkens" im Namen der kapitalistischen Globalisierung schließen sich, wenn auch noch Warnfried Dettling in der "Zeit" gegen die "Miesmacher" leitartikelt, die sich weigern, marktwirtschaftlich anzupacken: "Statt dessen entwerfen die Meisterpsychologen unserer Tage ein Szenario der Bedrohung, sie beschreiben Globalisierung, Digitalisierung und die Folgen als Niedergang der Arbeitsgesellschaft...Von den Zinnen kündet derweil Posaunenschall die Katastrophe: Terror der Ökonomie; Globalisierungsfalle...Von Tony Blair ließe sich lernen, daß die Rhetorik der Bedrohung keinen Aufbruch schafft. Die Rhetorik der Chancen könnte von Zielen sprechen, die die Mühen des Weges lohnen" (Dettling 1997). Und der liberalkonservative Standort-Ideologe weiß auch gleich, wo die chancenreichsten Chancen-Rhetoriker zu finden sind: "Die beiden jungen Autoren Johannes Goebel und Christoph Clermont beschreiben eine - ihre - Generation, die sich längst aufgemacht hat,...ihren Teil am 21. Jahrhundert zu erobern" (ebda).

Na wunderbar. Statt Krise und Zusammenbruch also Entwarnung und "Entdramatisierung". Alles halb so wild. Der Postmodernismus beschert dem Kapital endlich die ersehnte "Wagniskultur", das positive Denken triumphiert über die Wahrnehmung des Elends (sogar des eigenen, wie sich noch zeigen wird). Alles im Griff auf dem sinkenden Schiff: keine Angst, keine Angst, Rosmarie. Nur allzu durchsichtig ist es, daß der antikrisentheoretische linke Postmodernismus am Rande dieser Chancen-Rhetorik mitschwimmt und daß die "neue Subjektivität", mit der er liebäugelt, als Chimäre einer kritiklosen Kritik oder kritischen Kritiklosigkeit voll und ganz in diesen Kontext gehört.


Love Parade

Wenn die Krise am Ende des 20. Jahrhunderts eine Krise der Wertform als solcher ist, dann kann sie nicht bloß als äußere soziale, ökonomische und ökologische Krise in Erscheinung treten, sondern muß auch die Subjektform selber erfassen. Die warenförmige Subjektkonstitution bricht in sich zusammen. Das bedeutet vor allem, daß der schon immer prekäre Subjekt-Objekt-Dualismus der Wertvergesellschaftung gewissermaßen implodiert und das vormals selbstherrliche Subjekt gerade dadurch negativ zu sich kommt, daß es sich nicht nur auf der unaufgehobenen Objektseite wiederfindet, sondern sich an diesem Ort auch noch selber in seiner ebenso unaufgehobenen Form affirmiert. Gerade diese Haltung macht das Gespenstische an der infantil vor sich hin schäkernden postmodernen Unbeschwertheit aus. Diese falsche Lustigkeit mit flackernden Augen, so offenkundig sie ein Krisenphänomen kapitalistischer Subjektivität darstellt, muß von den affirmativen postmodernen Jungideologen jeglicher Couleur geradezu zwanghaft zum transzendierenden Phänomen umgeschminkt werden.

Als Symptom und gleichzeitig leuchtendes Exempel erscheint die mittlerweile institutionalisierte Berliner Love Parade, die nicht nur alljährlich das Tiergartengelände zupißt und einige hundert Tonnen Müll hinterläßt, sondern auch die Vermüllung der bürgerlichen Subjektivität demonstriert, aus dessen Krise sie hervorgegangen ist. "Eine Art Freiheitsbewegung" sei dieser Aufmarsch der "Techno-Generation", wie die Deutsche Presseagentur für den Durchschnittsjournalismus titelt; und der Unterschied zum bedröhnten, sektflaschenschwingenden deutschen Vereinigungsirresein an derselben Stelle kann wohl eher vernachlässigt werden. Kein Zufall ist es auch, daß die nach scheinemanzipatorischen Potentialen fahndenden linken Postmodernisten ausgerechnet in diesem Spektakel die "neue Subjektivität" ihrer wundersamen kritischen Kritiklosigkeit entdecken möchten, die dieses Kunststück durch ebenso wundersame Verhaltensweisen zu bewerkstelligen scheint, mit denen sie die obsolet gewordenen bürgerlichen Ideale seit Iphigenie und Siegfried vermeintlich transzendiert: "Könnten die Idealsubjekte nicht der sogenannten >verlorenen Generation< angehören, die sich angeblich >sinnlos< berauscht mit Drogen und Musik, nur ihren eigenen, marginalen Zwecken folgend, jenseits der >substantiellen< Werte und vorgeformten Gefühle, der äußeren Erfolgszwecke und der Geld- und Arbeitslogik? Besteht eine durchschnittliche >Loveparade< nicht aus Iphigenien und Siegfrieden, die ihre Naivität und nicht ihren Intellekt der rationalisierten Welt entgegenstellen?" (Erdmann 1997).

Wer hätte das gedacht, daß am Ende der kritischen Reflexion das Lob der Naivität steht, die aber natürlich leider keine waldursprüngliche mehr ist, sondern eine durch und durch vom Kapitalismus geformte; gewissermaßen eine sekundäre Naivität jener falschen Unmittelbarkeit, auf deren Geltenlassen mehr denn je Adornos Verdikt in den "Minima Moralia" zutrifft: "Die Verteidigung des Naiven, wie sie von Irrationalisten und Intellektuellenfressern aller Art betrieben wird, ist unwürdig. Die Reflexion, welche die Partei der Naivetät nimmt, richtet sich selbst: Schlauheit und Obskurantismus sind immer noch dasselbe. Vermittelt die Unmittelbarkeit behaupten anstatt diese als in sich vermittelte begreifen, verkehrt Denken in die Apologetik seines eigenen Gegensatzes, in die unmittelbare Lüge. Sie dient allem Schlechten, von der Verstocktheit des privaten Nun-einmal-so-Seins bis zur Rechtfertigung des gesellschaftlichen Unrechts als Natur" (Adorno 1983/1944, 89 f.).

Gerade in der popkulturalistischen Affirmation "naiver" postmoderner Massenkultur lauert der Absturz in eben jenen Irrationalismus, den die postmoderne Linke der wertkritischen Krisentheorie gern anhängen möchte; wie überhaupt die ästhetisierende Entsorgung der Ökonomiekritik durch den Postmodernismus generell einen anti-reflexiven, "intellektuellenfresserischen" Zug aufweist. Wenn in diesem Zusammenhang die postmoderne Linke eine ideologische Grundhaltung auszeichnet, dann ist es wahrhaftig genau die "Verstocktheit des privaten Nun-einmal-so-Seins", die an den stumpfsinnigen Massen der Love Parade deswegen so gern gesehen wird, weil sie der eigenen Befangenheit in der Welt der Warenästhetik entspricht, die dieselbe "Verstocktheit" nur noch einmal pseudo-reflexiv als ideologischen Bezug verdoppelt, statt sie radikal zu kritisieren.

Das wirkliche Apriori der falschen Unmittelbarkeit und ihrer scheinbaren "Naivität" sind längst schon die Imperative des fetischistischen Formzwanges. Daß die bewußtlosen Träger dieser Imperative im Zustand der Infantilität angelangt sind, macht sie nun wirklich nicht zum Widerstandspotential. War das Friede-Freude-Eicherkuchen-Bewußtsein der Friedensbewegung in den 80er Jahren schon unter aller Sau mit seinem seichten bürgerlichen Moralismus, so steigert die Love Parade die damaligen Dummdeutschparolen mühelos zum frühkindlichen Lallen. Wie hinter dem Eiapopeia-Friedensgeseiche der 80er Jahre schon der neue "sekundäre Nationalismus" lauerte (früh erkannt von Wolfgang Pohrt), so ist Schlimmeres noch von der Love-Parade-Generation zu erwarten, die keinerlei Gesellschaftskritik mehr hinter sich zu lassen hat. Das unzurechnungsfähige Love-Gedröhn kann jederzeit umschlagen in ein ebenso primitives Pogrom.

Denn im Bewußtsein der Love Parade hat die Beliebigkeit des "dezentrierten Subjekts" bereits die Grenze zur absoluten Beziehungsunfähigkeit überschritten und damit jeden Maßstab verloren: Alles kann auch alles andere sein, Emanzipation und Affirmation sind gleich-gültig wie überhaupt alle Gegenstände vor der scheinbar totalisierten Warenform gleich-gültig sind, und so wäre es auch keine Überraschung mehr, wenn der "Schrei nach einem menschenwürdigen Leben" übergangslos als "Ausländer raus" artikuliert wird. Warum auch nicht, sind die Worte doch allesamt bloß bedeutungslose "Zeichen", mit denen man/frau spielen kann. Soziale Beziehungslosigkeit heißt nichts anderes, als eine Ware auf zwei Beinen zu sein; der "expressive Individualismus" muß sich auch deswegen aufs Outfit verlegen, weil es hinter den Klamotten nur noch das Gespenst eines Individuums gibt: Nie war Adorno aktueller als in den postmodernen Zeiten der Love Parade, deren Mitläufer wirklich eine grobe Unverschämtheit begehen, wenn sie "Ich" sagen.

Der Begriff der "lebenden Ware" ist keine Metapher, sondern durchaus wörtlich zu nehmen. Die Karikatur einer Massendemonstration, die keinen Inhalt mehr artikulieren kann, hebt selbstverständlich das politische Bewußtsein nicht auf, sondern erscheint in der lückenlosen Formalisierung unmittelbar als Kommerz, die einzige noch mögliche Pseudo-Vermittlung. Und darin ist auch die Expressivität des Outfits aufgehoben: "Große Modefirmen wie H&M lassen Trendscouts durch die Techno-Keller rennen; und auf der Love Parade stehen sie mit großen Augen am Straßenrand. Die Berliner Parade ist eine endlose Modenschau. Schutzanzüge, Armeejacken, Trevirahosen, Russenmützen, alles ist möglich, alles kann mit allem kombiniert werden - vor ein paar Jahren hieß dieses Konzept Grunge, heute heißt es Urban Tribal Wear" (Der Spiegel 30/1996).

Die affirmative Scheinreflexion des linken, popkulturalistischen Postmodernismus möchte daraus einen emanzipatorischen Ansatz destillieren, von dem nicht einmal Spurenelemente vorhanden sind, und die verklärten intellektuellen Mitläufer möchten wenigstens eine "ursprüngliche" Subkultur erkennen, die noch nicht vom Warenuniversum aufgesaugt war. Aber die Requisitenhändler wissen es besser: "Techno hat keine Weltanschauung, und wenn doch, dann ist es die Betriebswirtschaftslehre. Unternehmen gründen und ruinieren und neue gründen gehört zur Techno-Welt wie das Auf und Ab der Basslinie. Ein paar Leute, die an Techno nichts verdient haben, beklagen den Ausverkauf einer Kultur, die angeblich mal von unten kam...Aber in Wahrheit war Techno immer kommerziell, und >es war immer wichtig..., die richtige Marke zu tragen<. Sneakers von Airwalk, Hosen von Carharrt und Shirts von Diesel sind Propaganda für ein besseres Leben; die falsche Marke steht für ein falsches Leben, da ist der Raver dogmatischer als jeder Stalinist" (a.a.O.).

Wie man/frau es auch dreht und wendet: Was hier sichtbar wird, ist weder direkt noch indirekt und nicht einmal um fünf Ecken herum ein Ausdruck emanzipatorischen Willens, sondern bloß die als Event organisierte Willenlosigkeit der massenhaft zur Schau gestellten Selbstinszenierung von Volltrotteln der Warengesellschaft. Wenn im losgelassenen Narzißmus die Individuen bis zur offenkundigen Ichlosigkeit regrediert sind, kann auch der Gedanke der Emanzipation nur noch in der Form seines Gegenteils formuliert werden, eben selber als Ware, und dementsprechend das "richtige Leben" nur noch als Greifen nach der "richtigen Marke" erscheinen. Dieses Zusammenbrechen der Subjekt-Objekt-Differenz ist bereits die Krise der gewissermaßen implodierenden gesellschaftlichen Form sowohl auf der subjektiven wie auf der objektiven Seite.

Wenn so das substantiell schon immer illusionäre und lediglich in seiner historischen Durchsetzungsgeschichte scheinbar wirkmächtige moderne Subjekt ganz im Objektivismus seiner eigenen Form verschwindet, kann es sich demzufolge in dieser Form nur noch als Idiot verhalten; und zwar im wörtlichen Sinne, denn für den ursprünglichen antiken Sprachgebrauch ist das "Idiotische" ja gerade die abstrakte Selbstbezüglichkeit: Der "Idiot" ist der asoziale, seinem eigenen gesellschaftlichen Zusammenhang gegenüber ebenso blinde wie gleichgültige Geldverdiener und Geldausgeber, der sich hinsichtlich seines eigenen sozialen Wesens hat dumm machen lassen und deshalb der Verächtlichkeit anheimfällt. Das auf den äußersten Punkt der Abstraktheit zusammengeschnurrte Individuum, das nicht einmal mehr ein Binnensubjekt der Warengesellschaft genannt werden kann, ist damit auch auf dem äußersten Punkt der Idiotie angekommen.

Am deutlichsten wird dies in der elementarsten sozialen Beziehung, nämlich der intimen und sexuellen. Das idiotische Individuum, das sich der gesellschaftlichen Realabstraktion bedingungslos ergeben hat, wird notwendigerweise gleichzeitig zwanghaft beziehungsunfähig sogar (oder gerade) auf dieser Ebene. Weil "alles geht", geht am Ende gar nichts mehr, nicht einmal mehr der Sex. Die narzißtische Dummheit ist vor allem zu einem unfähig, nämlich zur Intimität. Wenn nichts mehr selbstverständlich ist, nicht einmal die Bestätigung der eigenen Sexualität, sondern alles im universellen Supermarkt ausgewählt (und an der universellen Kasse bezahlt) werden muß, bedarf es des permanenten therapeutischen Konsums von Lebenshilfen, die dennoch wirkungslos verpuffen. Das Angebot von Instant-Packungen für alle Lebensbezüge ist uferlos, aber die narzißtische Therapie für Narzißten dreht sich logischerweise im Kreis.

Die Aporien eines narzißtischen "Privatismus", der gerade aus dem Mangel an realer Privatheit erwächst und diesen Mangel reproduziert oder sogar steigert, hat Christopher Lasch schon vor fast zwei Jahrzehnten an den Anfängen des selbstdarstellerischen postmodernen Persönlichkeitskonsums gezeigt: "Wenn persönliche Beziehungen mit keinem anderen Ziel als dem des psychischen Überlebens aufgenommen werden, bietet das >Private< keinen rettenden Hafen in einer herzlosen Welt mehr. Im Gegenteil, das persönliche Leben nimmt dann genau die Merkmale der anarchischen Gesellschaftsordnung in sich auf, gegen die es ein Refugium bilden sollte. Was kritisiert und verurteilt werden muß, ist die Verwüstung des Privaten und keineswegs der Rückzug ins Private. Das Fragwürdige an der Bewegung für ein Neues Bewußtsein rührt nicht daher, daß sie sich mit trivialen oder irrealen Problemen befaßt, sondern daß sie selbstzerstörerische Lösungen anbietet. Sie erwächst aus der vorherrschenden Unzufriedenheit mit der Qualität der persönlichen Beziehungen und rät den Menschen, sich nicht zu sehr auf Liebe und Freundschaft einzulassen, sich nicht unmäßig von anderen abhängig zu machen und für den Augenblick zu leben - und eben so ist die Krise der persönlichen Beziehungen entstanden" (Lasch 1986/1979, 44).

Wie der warenförmige Narzißmus das Ich nicht etwa erhebt, sondern vernichtet, so erweist sich die warenförmige Betonung des Persönlichen nicht als Renaissance der Privatsphäre, sondern als deren Zusammenbruch. Das heißt aber nur, daß die äußere (soziale und ökonomische) Krise des warenproduzierenden Systems gewissermaßen im "Atomkern" des warenförmig sozialisierten Individuums und seiner Subjektivität, auch seiner sexuellen, angekommen ist. Lasch nimmt deshalb mit Recht die altlinke oder demokratisch-politizistische Kritik am vermeintlichen "Rückzug ins Private" nicht mehr ernst. In eine rauchende Ruine kann man/frau sich nicht gemütlich "zurückziehen". Wenn Autoren wie Richard Sennet (und in Deutschland das markt- und staatsrealistische exlinke Nachplappermaul Cora Stephan) gegen die angebliche "Tyrannei der Intimität" (Sennet 1986/1974) die klassische öffentliche Sphäre der Politik einklagen möchten, dann ignorieren sie den wirklichen Zusammenhang dieser komplementären Sphären des warenproduzierenden Systems ebenso wie den Zusammenbruch ihrer systemstabilisierenden Wechselseitigkeit.

Das "öffentliche Leben" verfällt nicht etwa deswegen, weil die Privatheit überhand nähme, sondern weil diese ihrerseits verfällt: "Die Sozialisierung der Jugend reproduziert politische Herrschaft auf der Ebene der persönlichen Erfahrung. In unseren Tagen ist dieser Eingriff von Mächten organisierter Herrschaft in die Privatsphäre so umfassend geworden, daß es ein privates Leben kaum mehr gibt. Weil Sennet Ursache und Wirkung verwechselt, legt er die zeitgenössische Malaise dem Eindringen des Persönlichen und Privaten in den öffentlichen Bereich zur Last. Für ihn...stellt die gegenwärtige Beschäftigung mit Selbst-Entdeckung und -Verwirklichung, psychischer Entwicklung und intimen persönlichen Beziehungen eine ungehörige Selbstbezogenheit und zügellos um sich greifende romantische Schwärmerei dar. In Wirklichkeit aber rührt die Betonung des Privaten keineswegs aus einer starken Geltung der Persönlichkeit her, sondern aus ihrem Zusammenbruch...Unsere Gesellschaft fördert mitnichten die Privatsphäre auf Kosten der öffentlichen und hat dauernde und tiefe Freundschaften, Liebesbeziehungen und Ehen zunehmend schwieriger gemacht. In dem Maße, wie das gesellschaftliche Leben immer barbarischer und kriegsähnlicher wird, geraten die persönlichen Beziehungen, die scheinbar Linderung dieser Bedingungen verheißen, selbst zu vehementen Auseinandersetzungen. Einige der neuen Therapien beschönigen diesen Kampf als >Selbstbehauptung<...Andere loben unbeständige Bindungen mit Formeln wie >offene Ehe< und >Beziehungen auf unbestimmte Zeit<. So intensivieren sie das Übel, das sie zu heilen vorgeben. Sie tun das aber nicht etwa, indem sie die Aufmerksamkeit von sozialen Problemen auf persönliche, von realen auf falsche ablenken, sondern dadurch, daß sie die gesellschaftlichen Ursprünge des Leidens verschleiern" (Lasch, a.a.O., 47 f.).

War Anfang der 80er Jahre die Therapie noch Bestandteil des Übels, das sie kurieren sollte, so ist heute, auf dem Höhepunkt des Postmodernismus, nicht einmal mehr ein Bewußtsein des Übels vorhanden, gerade weil der massentherapeutische Unfug sich zum Normalzustand gemausert hat. Das Leiden ist damit nicht verschwunden, aber es wird nicht mehr offen benannt und sucht sich deshalb indirekte, bewußtlose Ausdrucksformen. Die Love Parade und verwandte Erscheinungen sind nur besonders signifikante Beispiele dafür, wie die fetischistische Konstitution der Moderne auf der Ebene der Persönlichkeit zusammenbricht: Der emanzipatorische Impuls, das Private öffentlich zu machen oder zu "politisieren", der mit falschen (systemimmanenten) Begriffen operierte und nur durch eine bewußte Radikalisierung gegen die Warenform der sozialen Beziehungen selber hätte weiterentwickelt werden können, hat sich aufgelöst in eine "postsubjektive" Subjektivität des bürgerlichen Endstadiums, die in ihrer narzißtischen Regression gar nichts mehr ist. Das Private und das Öffentliche der bürgerlichen Gesellschaft brechen gleichermaßen und gemeinsam zusammen; und in dem Maße, wie das geschieht, entschwindet natürlich auch das Verhältnis der beiden Pole in einem aufgelösten Persönlichkeitsbrei, der nur noch vor sich hinblubbert.

Diese sekundäre Pseudonaivität und "Verstocktheit des privaten Nun-einmal-so-Seins" nach dem Ende der Privatheit, worin die selber schon von diesem Zerfallsstadium eingefangene postmoderne Linke stochert und mit ihrem gar nicht mehr ernst gemeinten restmarxistischen Gestammel daraus eine Art "gesellschaftskritisches" Design zusammenbasteln möchte, setzt die narzißtische "Lebensästhetik" bis zur Preisgabe realer Sexualität fort. Die Unfähigkeit der postmodernen kapitalistischen Monaden und Persönlichkeits-Attrappen zur Intimität scheint zumindest in den Spitzen der Entwicklung bereits in einen nicht mehr überschreitbaren Grenzbereich eingedrungen zu sein.

Der idealtypische postmoderne Sozialcharakter könnte sich jederzeit vor laufenden Kameras vollständig entblößen, aber nicht mehr mit einem anderen Menschen ins Bett gehen. Medialer oder verbaler Exhibitionismus und reale Beziehungsunfähigkeit erweisen sich als die beiden Seiten derselben Medaille. Die Schamlosigkeit im traditionellen Sinne wird identisch mit einem aseptischen Asexualismus, der sich in immer absurdere mediale Simulationen zurückzieht, von denen die Erbärmlichkeit seiner trostlosen, entsinnlichten Einsamkeit nicht mehr kaschiert werden kann: "Wir knipsen uns gegenseitig nackt - aber es ist kein Film drin!" (Kleinanzeige in einem exlinken Stadtmagazin).

Das Doktorspiel von Fünfjährigen wirkt geradezu erwachsen und von sinnlichem Raffinement erfüllt im Vergleich zu diesem erotischen Elend der 89er Love-Parade-Generation, die sich nur noch von der Marktwirtschaft ficken läßt. Nach übereinstimmenden Berichten geht bei der Love Parade alles ab, bloß kein Sex. Die exhibitionistisch inszenierte Fleischbeschau ist bloß Modenschau, aber nicht einmal mehr Knutschen, als wäre die reale Berührung die eigentliche Todsünde. Jeder für sich und Gott gegen alle, auch in der sogenannten Beziehung, wie eine Teilnehmerin der Love Parade ganz unschuldig bestätigt: "Was ihr Freund in den letzten Stunden getrieben hat, kann sie nicht sagen. Er war mit seinen Leuten in der tobenden Menge untergetaucht, sie mit ihren. Jeder für sich auf der Suche nach dem besten Platz, dem größten Spaß, dem lautesten Tieflader. Kontakt hatten sie nur per Handy" (Der Spiegel 30/1996).

Daß es sich hier um keine Ausnahmesituation, sondern um ein bereits vermasstes alltägliches Verhalten handelt, bestätigen Goebel/Clermont als glaubwürdige Gewährsleute des postmodernen Sozialcharakters. Ihre "Lebensästheten" können per definitionem nur noch gespenstische, medial entwirklichte soziale und sexuelle Beziehungen aufnehmen. Die Abstraktion der Wertform hat sich längst wie Reif auf die intimen Verhältnisse der Selbstdarstellungs-Monaden gelegt, und zwar schon meilenweit vor jeder erotischen Aktion: "Der Feind lauert nicht mehr in Moskau, sondern im gemeinsamen Bett, Saddam Hussein verliert im Gegensatz zu Katja, Ralph oder Peter jeden Schrecken...Allein ein gemeinsamer Lebensmitteleinkauf läßt Welten kollidieren - vor dem Käseregal kommt es nicht selten zum beziehungstherapeutischen Showdown! Wenn schon die Wahl der Käsesorte selbst den vertrauten Partner zum unberechenbaren Alien werden läßt, welche Fallen lauern dann noch im lebensästhetischen Miteinander?" (Goebel/Clermont, a.a.O., 39).

Als Satire wäre das nicht schlecht, als affirmative Beschreibung (die bei aller Witzischkeit bluternst gemeint ist) handelt es sich um eine geradezu grauenhafte Dummheit, die sich prompt als Schnappen nach der "Chance" outet: "Doch die Inflation des Fremden relativiert Fremdheit...Die Kommunikation mit dem Unvertrauten ist zur alltäglichen Aufgabe geworden. Wenn der Feind in meinem Bett lauert, so ist umgekehrt die Welt auch voller potentieller Freunde" (a.a.O., 39). Vergessen wir das Bett. Denn zu welcher Konsequenz diese "Chance" treibt, wurde schon vorher ausgeplaudert am Beispiel von Miriam, 24, Psychologiestudentin: "Ihr Freund lebt in Australien. Den größten Teil ihrer Beziehung managt sie über E-Mails (!). Sicher, sie liebt ihn, (aber) er ist schon lang nicht mehr der einzige Garant für Wärme und Nähe. Ihr großer Freundeskreis ist für sie da, und doch fühlt sie sich diesen Freunden gegenüber nicht verpflichtet" (a.a.O., 12).

Der psychische Horror dieser Beziehungslosigkeit kann nur noch in Filmen aufscheinen wie in "Bettlektüre" von Peter Greenaway, wo eine der "Körpertypographie" verschriebene "Lebensästhetin" ihrer Passion frönt, Körper mit kalligraphischen Zeichen zu bemalen: "Unwichtiges, wie ihr Freund, hat in ihrem lebensästhetischen Gebäude keinen Platz, er ist Teil einer irrelevanten Außenwelt" (a.a.O., 58), auch wenn er sich nebenbei umbringt. In einer paradoxen Verkehrung erscheint der Wahn eines derartigen Narzißmus der Realität gegenüber geradezu als eine neue Art der Beziehungsfähigkeit: "Der Freund in Kanada ist dann schließlich doch näher als der Nachbar hinter der Wohnzimmerwand" (a.a.O., 37).

Woraus folgt, daß die ferne Nähe, die schon keine Nähe mehr ist, zum Idealzustand avanciert: "Der Lebensästhet arbeitet an sich. Auch die Liebe dient nur der Vervollkommnung seiner selbst als Gesamtkunstwerk...Auslagerung von Problemfeldern (!) und räumliche Distanz (!) sind daher die naheliegenden Reaktionen...Somit steigt die Funktionsfähigkeit einer Partnerschaft direkt mit der Größe der Distanz...Die oft beschworene elektronische Beziehung im Labyrinth von Chat-Boxen und E-Mails ist der Inbegriff einer perfektionierten Partnerschaft. Kein anderes Medium hält einem die Schwächen und Macken seines Partners besser vom Hals als das Internet. Der Mensch am anderen Ende der Welt kristallisiert zum reinen Abbild seiner lebensästhetischen Konstruktion. Beide >Netties< idealisieren sich und den anderen. Kein Pickel und keine geschmacklose Cordhose steht dem ehrlichen Glauben an die Perfektion des elektronischen Freundes im Weg. Im global village ist sowohl totale Ablehnung wie auch grenzenlose Anbetung des Partners zu Hause - was außen vor bleibt, sind die Mühen der Ebene. Ist die Leidenschaft erst einmal entbrannt, gibt es nur noch einen wirklichen Horror: die leibhaftige Begegnung mit dem Fremden...Dabei bilden vor allem zwei Modelle den Rahmen des lebensästhetischen Beziehungsspektrums: die gemeinsame Wohnung ohne Sex, aber mit allen Spielarten der bürgerlichen Ehe, und Sex ohne gemeinsame Wohnung, aber mit den Idealen der romantischen Zweisamkeit" (a.a.O.,101 ff.).

Ich kann mir gut vorstellen, daß die postmoderne Linke Autoren wie Goebel/Clermont nicht ausstehen kann und vielleicht gar nicht zur Kenntnis nehmen will, gerade weil diese die Wahrheit ausplaudern über jene "nicht-traditionellen Formen von Subjektivität", denen man/frau emanzipatorische Potentiale andichten möchte. Genausogut wäre es allerdings möglich, einem Rindvieh das Schlittschuhlaufen beizubringen. Natürlich kann kein Mensch seinen warenästhetischen Narzißmus so weit treiben, daß er in dieser Karikatur real aufginge; und wie im 18. Jahrhundert die zynische "Bienenfabel" des Bernard de Mandeville immer wieder fälschlich als radikale Kritik der heraufdämmernden Marktwirtschaft gelesen wurde, so könnte auch das Elaborat von Goebel/Clermont ewig zweifelhaft bleiben. Entscheidend ist, daß es sich in beiden Fällen um eine realgesellschaftliche Tendenz handelt, der gegenüber radikale Kritik und nichts als Kritik angebracht ist. Die Realexistenz des Leidens und der (vom Postmodernismus verleugneten) Fundamentalkrise machen diese Kritik längerfristig erfolgversprechend, aber nur wenn sie in ihrer Negativität durchgehalten wird, etwa im Sinne der Devise von Guy Debord und den französischen Situationisten der 60er Jahre: nämlich die Schmach bewußt und dadurch noch schmachvoller zu machen. Der linke Postmodernismus dagegen appelliert nicht an das Bewußtwerden des Leidens, der Krise und der Schmach, sondern im Gegenteil an die blinden Verlaufsformen und an die Verdrängungsleistungen des "dezentrierten Subjekts", die er in ebensoviele "emanzipatorische Potentiale" umlügt und umfrisiert. Er kennt gar keine Schmach der Selbstanpassung an die idiotischen Lockungen des Marketings mehr, weil er selber so dumm und schamlos geworden ist wie die Post-Subjekte seines gesellschaftlichen Bezugssystems sich vielleicht bloß geben. Denn die ideologischen Affirmateure sind allemal schlimmer als die bloßen Charaktermasken des postmodernen "So-Seins".

 

Literatur

Adorno, Theodor (1983, zuerst 1944): Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben; Frankfurt/Main.

Bolz, Norbert (1997): Die Sinnengesellschaft; Düsseldorf.

Erdmann, Jürgen (1997): Für Theresa; in: Karoshi Nr. 1./ 1997.

Früchtl, Josef (1994): Was heißt es, aus einem Leben ein Kunstwerk zu machen? Eine Antwort mit Foucault; in: Kuhlmann, Andreas (Hg.): Philosophische Ansichten der Kultur der Moderne; Frankfurt/Main.

Goebel, Johannes / Clermont, Christoph (1995): Endzeit-Propheten oder die Offensive der Antiwestler; Frankfurt/Main.

Hirsch, Joachim / Roth, Roland (1986): Das neue Gesicht des Kapitalismus; Hamburg.

Kunsich, Hans-Peter (1997): Sie sagten, dachten, glaubten; in: Süddeutsche Zeitung v. 10. Dezember 1997.

Lasch, Christopher (1986, zuerst 1979): Das Zeitalter des Narzismus; München.

Roth, Roland: s. Hirsch, Joachim.

Sennet, Richard (1986, zuerst 1974): Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität; Franfurt/Main.

Stein, Hannes: s. Herzinger, Richard.

Wackwirt, Stephan (1996): Akten, Akten, Akten. Über die Underground-Anthologie "speak"; in: Der Spiegel 8/1996

Zielcke, Andreas (1995): Die Entwaffnung des Volkes; in: Der Spiegel 48/1995.




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