Startseite
Schwerpunkte
zurück
Druckversion
Glossar
Deep Link

Kritik & Krise des Werts und des Geldes


em português

erschienen: 2003

Robert Kurz

Die zweite Finanzblase

Der Absturz der westlichen Aktienmärkte, der Zusammenbruch der New Economy und die damit einhergehende Stagnation der Weltkonjunktur bestimmen seit drei Jahren das Bild des kapitalistischen Weltsystems. Trotz aller statistischen Tricks, aller Leistungskürzungen und Zwangsmaßnahmen steigt die Massenarbeitslosigkeit auch in den westlichen Ländern immer weiter an. Sozialstaat und öffentliche Dienste werden in einer bislang nicht für möglich gehaltenen Größenordnung niedergerissen. Genau so hat es auch in den jetzigen Zusammenbruchsregionen der 3. Welt und der europäischen Peripherie (Jugoslawien) angefangen. Ideologische Hysterie und sozialer Masochismus machen sich breit. Große Gegenbewegungen und eine neue radikale Kapitalismuskritik lassen auf sich warten. Der Damm ist noch nicht gebrochen, auch wenn sich zahllose Risse zeigen.

Die kapitalistische Katastrophe einer neuen Weltwirtschaftskrise kommt gebremst und in gedehnten Etappen, dafür wird die schließliche Eruptionsgewalt umso heftiger sein. Der Grund sowohl für die Verzögerung als auch für die zu erwartende finale Durchschlagskraft ist der im Vergleich zur großen Weltwirtschaftskrise des 20. Jahrhunderts (1929-33) weitaus höhere Grad an globaler ökonomischer Vernetzung, wechselseitiger Durchdringung und Abhängigkeit, also der relative Bedeutungsverlust der Nationalökonomien gegenüber dem Weltmarkt in finanzkapitalistischer wie in realökonomischer Hinsicht. Dabei hat sich die Weltökonomie im Verlauf der 90er Jahre nicht nur zunehmend von einer Finanzblasen-Konjunktur genährt, sondern auch zunehmend auf das Zentrum USA ausgerichtet. Daran hat sich auch nach dem Ende der New Economy und dem Rückgang oder Platzen der Finanzblasen auf den Aktienmärkten nichts geändert.

Der Grund dafür besteht nicht nur darin, daß die US-Aktienpreise bislang weniger stark abgestürzt sind als in der übrigen Welt. Wenn die US-Konjunktur trotz eines erheblichen Rückgangs ihre Sogwirkung auf die Weltökonomie noch nicht ganz eingebüßt hat, so ist das hauptsächlich auf eine Explosion der Immobilienpreise zurückzuführen. Mit anderen Worten: Die Aktienblase ist zunächst einmal durch eine Immobilienblase abgelöst worden. In Deutschland ist der Anteil an privatem Wohneigentum relativ geringer und die binnenökonomische Baukonjunktur stagniert seit langem, deshalb konnte es hier keine Immobilienblase geben. In Japan fielen in den 80er Jahren Aktien- und Immobilienblase zeitlich zusammen und platzten auch gleichzeitig Anfang der 90er Jahre; seither sitzt der ehemalige Champion der Weltökonomie in der Falle eines riesigen Überhangs fauler Kredite. In den USA dagegen traten Aktien- und Immobilienblase zeitlich auseinander, sodaß für die letzte Lokomotive der Weltkonjunktur gewissermaßen eine zusätzliche Gnadenfrist ihrer Laufzeit erschwindelt werden konnte.

Das hat auch etwas mit der Struktur des Immobilienbooms zu tun. Während es in Japan und Südostasien vor allem Überkapazitäten bei kommerziellen Bauten, Bürotürmen und staatlichen oder halbstaatlichen Prestige-Objekten waren, die den Immobilienboom parallel zum Aktienboom auslösten, ist die zeitliche Versetzung in den USA durch die Konzentration auf den Eigenheimbau bedingt. Der von der Aktienblasen-Konjunktur profitierende Teil der Bevölkerung finanzierte mit der Beleihung der breit gestreuten Kursgewinne an den Aktienmärkten nicht zuletzt Einfamilienhäuser. Die durch gestiegene Nachfrage zeitversetzt steigenden Immobilienpreise machten den Sektor zum lohnenden Terrain der Spekulation, als die Aktienmärkte einbrachen. So wurden nicht nur Finanzwerte vernichtet, sondern es fand auch eine gewaltige Umschichtung statt, nicht zuletzt durch institutionelle Anleger (Banken, Versicherungen etc.). Deshalb begann der spekulative Immobilienboom erst so richtig, als der Aktienboom endete; vor allem in den USA, aber auch in Großbritannien. Seit dem Ende der Aktienblase stiegen die Immobilienpreise in den USA um etwa 50 Prozent, in Großbritannien um fast 25 Prozent.

Die Folge ist, daß die Hausbesitzer auf wundersame Weise bei den Immobilien gewinnen, was sie bei den Aktien verloren haben; ganz oder wenigstens teilweise. Im Zuge dieser Entwicklung gruppierten auch die Privathaushalte entsprechend ihr Vermögen um. Ersparnisse, soweit vorhanden, flossen nicht mehr an die Aktienmärkte, sondern in Anleihen und andere Papiere des Immobiliensektors. Auch die Privatleute begannen sich also an der neuen, zweiten Finanzblase zu beteiligen; nicht bloß durch realen Eigenheimbau, sondern auch durch den Erwerb von entsprechenden spekulativen Papieren. Auch der Erlös von Aktienverkäufen, ob mit oder ohne Verlust, floß zunehmend in diesen Sektor. Das Resultat ist eine dramatische Umschichtung in der Vermögensstruktur: Der Anteil der privaten US-Vermögen im Aktiensektor schrumpfte binnen drei Jahren um 40 Prozent, während er im Immobiliensektor um 30 Prozent anstieg.

Dieselbe Umschichtung ist es auch, von der die wundersame Kauflust der US-Konsumenten erhalten wird, wenn auch in etwas vermindertem Umfang. Wie man vorher den fiktiven Wertzuwachs bei den Aktienpapieren beliehen hat und damit einkaufen konnte, so macht man dasselbe jetzt bei den Immobilienpapieren. Schon seit einiger Zeit stellen sich die Finanzanalysten der US-Banken die bange Frage, wie lange das gut geht. Irgendwann muß auch die zweite Blase platzen, und erst dann wird der große Einbruch kommen. Der realistische Wert einer Immobilie wird normalerweise mit der damit zu erzielenden Jahresmiete berechnet, multipliziert mit dem Faktor 20. Nach dieser Meßlatte sind die US-Eigenheime derzeit extrem überbewertet.

Hinzu kommt, daß sich das Gros des fiktiven Wertzuwachses auf ganz wenige US-Hausfinanzierer konzentriert, deren Papiere die meisten Banken dick in ihren Büchern stehen haben. Bei einem drohenden Absturz der Immobilienpreise würde das gesamte Finanzsystem der USA in Schieflage geraten, mit entsprechenden Folgen für die ohnehin schon angeschlagenen Aktienmärkte. Sobald aber die US-Konsumenten, de facto jene Hälfte der Bevölkerung, die bislang direkt oder indirekt ihren Lebensstandard durch die Finanzblasen-Konjunkturen erhalten oder sogar gesteigert hat, endgültig auf ihre seit langem gesunkenen "reellen" Lohneinkommen zurückgeworfen werden, muß ihnen auch die Puste der vielgepriesenen Kauflust ausgehen. Erst dann naht die Stunde der Wahrheit für die US- und damit für die Weltökonomie, erst dann wird der Damm brechen.




zurück
Druckversion
Glossar
Deep Link