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EXIT! Krise und Kritik der Warengesellschaft 12/2014 (Archiv)


EXIT! Krise und Kritik der Warengesellschaft
Heft 12, November 2014

Inhalt

EDITORIAL

Johannes Bareuther
ZUM ANDROZENTRISMUS DER NATURBEHERRSCHENDEN VERNUNFT (TEIL 1)
Dämonische und mechanische Natur

  1. Bockelmanns denkformanalytische Ableitung der Wissenschaftlichen Revolution
  2. Strukturelle Spaltungen im Naturverhältnis
  3. Francis Bacon als Propagandist der naturbeherrschenden Vernunft
  4. Die Hexenverfolgungen als Gründungsverbrechen des warenproduzierenden Patriarchats und ihre Rolle bei der Etablierung der wissenschaftlichen Rationalität
  5. Zusammenfassung und historischer Ausblick

Robert Kurz
DER KAMPF UM DIE WAHRHEIT
Anmerkungen zum postmodernen Relativismusgebot in der gesellschaftskritischen Theorie - Ein Fragment

Roswitha Scholz
FETISCH ALAAF!
Zur Dialektik der Fetischismuskritik im heutigen Prozess des „ Kollaps der Modernisierung“. Oder: Wieviel Establishment kann radikale Gesellschaftskritik ertragen?

  1. Die „Neue Marxlektüre“ – eine kurze Geschichte der Fetischismuskritik seit 1965 und ihre Vervielfältigung/Vermassung heute.
  2. Der „neue Geist des Kapitalismus“, das „unternehmerische Selbst“ und Fetischismuskritik
  3. Fetischismuskritik und Wissenschaftsbetrieb
  4. Fetischismuskritik, Wahrheit und Inhalt
  5. Feminismus und Fetischismuskritik
  6. Resümee: Fetischismuskritik als Widerspruchsbearbeitung oder radikale Kritik?

Daniel Späth
FORM- UND IDEOLOGIEKRITIK DER FRÜHEN HEGELSCHEN SYSTEME II: DAS „SYSTEM DER SITTLICHKEIT“
I. Das „Natursystem“

Roswitha Scholz
NACH POSTONE
Zur Notwendigkeit einer Transformation der fundamentalen Wertkritik. Moishe Postone und Robert Kurz im Vergleich – und die Wert-Abspaltungskritik

REZENSIONEN – GLOSSEN – KOMMENTARE

Gerd Bedszent: Ein altes/neues Gespenst geht um
Gerd Bedszent: Hunger
Udo Winkel: Libido und Gesellschaft
Udo Winkel: Wien, die Juden und der Antisemitismus
Udo Winkel: Der 1. Weltkrieg
Gerd Bedszent: Die Ukraine – Dualität von Nationalismus und Staatszerfall

EDITORIAL

Die mit dem Crash von 2008 manifest gewordene Krise ist längst keine rein ökonomische Krise mehr, wenn sie es denn jemals war. Der Niedergang des durch das Kapital konstituierten gesellschaftlichen Verhältnisses kann keines seiner Subsysteme unberührt lassen, mögen die in ihrem Rahmen Handelnden sich auch von der gesellschaftlichen Totalität unabhängig wähnen: Der bürgerliche Staat ist ebenso in Auflösung begriffen wie die Politik und die bürgerliche Rechtsform. Es sieht so aus, als würde die Krise weltweit in ein allgemeines Gemetzel münden, auch wenn die kapitalistischen Zentren davon bisher weitgehend verschont geblieben sind. Diese Entwicklungstendenz wird inzwischen auch von der bürgerlichen Statistik erfasst und ist Gegenstand amtlicher Verlautbarungen:

Mehr Kriege und kriegerische Konflikte als im Jahr 2013 gab es seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht. Das Heidelberger Institut für internationale Konfliktforschung zählt in seinem Konflikt-Barometer weltweit 20 Kriege, 25 „begrenzte Kriege“ und darüber hinaus 176 „gewaltsame Krisen“, also heftige und mit Waffengewalt ausgetragene gesellschaftliche Konflikte. Davon nicht betroffen sind – von wenigen, kleineren Ausnahmen abgesehen – nur die kapitalistischen Kernstaaten: Europa (ohne Russland), Nordamerika, Australien und Japan.

Noch labiler stellt sich die Lage im Failed State Index dar, also der Liste der Staaten, die ihre Basisfunktionen nicht oder nicht mehr in vollem Umfang wahrzunehmen in der Lage sind. Als voll funktionsfähig sind hier nur noch Nordeuropa, Kanada und Australien erfasst, als weitgehend stabil immerhin noch die übrigen kapitalistischen Kernstaaten, während alle anderen bereits als gescheitert oder gefährdet gelten. Nun lässt sich, wie immer bei empirischen Erhebungen dieser Art, über die ihnen zugrunde liegende Methodik mit Sicherheit streiten, und unbesehen ist davon auszugehen, dass diese Studien auch fragwürdige Teilergebnisse enthalten. Die Tendenz ist jedoch klar: Zwar ist die Krise von den kapitalistischen Zentren ausgegangen, ihre Folgen aber haben zuallererst diejenigen zu tragen, zu deren Lasten die kapitalistische Entwicklung schon immer ging.

Das zeigen auch die immer stärker anschwellenden Flüchtlingsströme. Nach einem Bericht der UN-Flüchtlingsagentur UNHCR waren noch nie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs so viele Menschen auf der Flucht wie im Jahr 2013, nämlich über 51 Millionen, 6 Millionen mehr als im Vorjahr. Die Mehrheit von ihnen ist minderjährig, und die Mehrheit ist weiblich. Die erwachsenen Männer, so ließe sich schlussfolgern, sind im Krieg oder bereits tot. Zwei Drittel der Flüchtlinge sind Binnenflüchtlinge, die vor Bürgerkriegen in andere Teile ihrer zerfallenden Staaten flohen, ein Drittel musste sein Geburtsland verlassen. Sie landen dann zu 86 Prozent in anderen Staaten der kapitalistischen Peripherie, die ihrerseits von Auflösungsprozessen und zunehmenden bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen gekennzeichnet sind, so dass nicht zu erwarten ist, das sie auf Dauer dort bleiben können. „Diesen verzweifelten, ausgestoßenen Menschenmassen eines in Agonie befindlichen kapitalistischen Weltsystems wird gar keine andere Option bleiben als die Flucht in die wenigen Zentren, die noch nicht in Anomie versinken. Das global anschwellende Flüchtlingselend stellt das Endprodukt der Weltkrise des Kapitals dar, das – an seinen inneren und äußeren Widersprüchen kollabierend – eine buchstäblich überflüssige Menschheit produziert.“ (Tomasz Konicz: Im Weltbürgerkrieg)

Obwohl die kapitalistischen Kernländer bisher nur einen geringen Teil der Flüchtlinge bei sich aufgenommen haben, ist ihre Antwort auf die sich hier abzeichnende „Bedrohung“ eindeutig: So wie innerhalb der kapitalistischen Gesellschaften die wenigen Reichen sich zunehmend, von privatem Wachpersonal geschützt, in ihren Ghettos einbunkern, so verschärfen die wenigen vergleichsweise reichen Länder die Zuwanderungsbestimmungen und setzen diese, wo nötig, gewaltsam durch: In Nordamerika durch den an der Grenze zwischen Mexiko und USA errichteten „Eisernen Vorhang“, in der EU durch die dafür eigens geschaffene Grenzschutzagentur Frontex, die illegale Flüchtlinge jetzt schon im Mittelmeer aufgreifen soll, mit dem zynischen Argument, sie dadurch vor dem Ertrinken zu bewahren. Dieser Versuch einer Abschottung kann aber auf Dauer wohl ebenso wenig gelingen wie der inzwischen als gescheitert anzusehende Versuch, die „neue Weltordnung“ mit militärischen Mitteln durchzusetzen.

JustIn Monday hat in seiner Erwiderung auf Trampert in Konkret 08/14 zurecht betont, dass die Krise den ökonomischen Gesamtzusammenhang betrifft. Das scheint etwas zu sein, was Trampert nicht denken will oder kann. Für ihn gibt es nur ein System miteinander konkurrierender Nationalökonomien, aber keine alles umfassende Totalität des Weltmarkts. Bei einer solchen Sichtweise ist allerdings von vornherein klar, dass es immer nur (relative) Gewinner und Verlierer geben kann, aber keinen allgemeinen Niedergang.

Eine weitere und entscheidende Schwierigkeit in der Auseinandersetzung mit einer Kapitalismuskritik à la Trampert liegt darin, dass diese den Unterschied zwischen Gebrauchswert, Wert und Preis ignoriert oder gar nicht kennt und daher – ebenso wie die akademische Volkswirtschaftslehre – den Oberflächenerscheinungen der kapitalistischen Produktionsweise aufsitzen muss. Wer dagegen mit Marx auf der Bedeutung nichtempirischer Größen wie der gesamtgesellschaftlichen Wert- und Mehrwertmasse zur Beurteilung der Entwicklung des Kapitalismus beharrt, wird der „Esoterik“ geziehen. Das hat inzwischen eine mehr als zwanzigjährige Tradition.1 Zueinander kommen werden wir wohl nicht mehr. Deshalb bleibt hier nur übrig, die Differenz, die uns wichtig ist, an einigen Beispielen deutlich zu machen:

Was besagt etwa die Verdreifachung des Containerumschlags in zwölf Jahren? Eigentlich nur, dass die Handelsströme entsprechend gewachsen sind. Das aber ist nicht verwunderlich, wenn die Industrieproduktion in Billiglohnländer verlagert wird, der Konsum der nunmehr dort produzierten Waren aber weiterhin vorwiegend in den kapitalistischen Kernländern stattfindet. Für die Gesamtgröße der Warenproduktion lassen sich daraus keine Schlüsse ziehen. Hinzu kommt, dass hier in Gebrauchswerten gerechnet wird, die für das Kapital aber nur als Träger von Wert und Mehrwert von Interesse sind (diese Feststellung gilt vermutlich bereits als „Esoterik“). Ob der mit den produzierten und in Containern verschifften Waren erzielte Mehrwert gestiegen oder gefallen ist, bleibt aber völlig außerhalb Tramperts Betrachtung. Dazu bedürfte es einer Theorie, auf die er sich nicht einlassen will.

An anderer Stelle stellt Trampert fest, dass die jährlich Wirtschaftsleistung der BRD von 2000 bis 2010 nur noch um 0,9 Prozent stieg. „Gleichzeitig schoß der Kapitalwert in astronomische Höhen.“ Daraus schließt er auf einen „hohen Grad der Kapitalbildung“. Was tatsächlich in dieser Zeit in astronomische Höhen schoss, waren die Aktienkurse. Offenbar liegt hier eine Verwechslung von Wert und Preis vor. Das brachliegende, mangels realem Wirtschaftswachstum nicht verwertbare Kapital drängt in die Aktien- und Immobilienmärkte und treibt dort die Preise hoch (asset inflation), nicht aber seinen Wert. Diese Blasenbildung durch Spekulation ist eine Folge fehlender realer Anlagemöglichkeiten und damit, so Marx, eine Krisenerscheinung. Trampert scheint sie dagegen als Indiz für die Fitness der kapitalistischen Produktionsweise zu deuten.

Dass die Industrieproduktion in den letzten Jahrzehnten von den kapitalistischen Kernländern – Deutschland ist, was die damit verbundenen Deindustrialisierungsprozesse betrifft,  fast die einzige Ausnahme – in Teile der Peripherie verlagert wurde, ist unbestritten. Robert Kurz hat diesen Prozess in seinem Buch „Das Weltkapital“ als Bestandteil der betriebswirtschaftlichen Globalisierung analysiert.2 Aber was folgt daraus? Das Problem liegt aus Sicht einer wertkritischen Analyse nicht – wie es Trampert unterstellt – darin, dass die Industrieanlagen „auf Pump“ gebaut wurden, das werden seit langer Zeit alle, darin hat er Recht. Das Problem des Weltkapitals ist vielmehr, dass sich die damit erreichte Situation nur durch Defizitkreisläufe, also letztlich einen kreditfinanzierten Warenfluss von der Peripherie in die Kernländer aufrecht erhalten lässt, was auf Dauer nicht möglich sein wird. Die Länder der Peripherie sind nur aufgrund ihrer Hungerlöhne konkurrenzfähig, was Trampert auch irgendwie zu wissen scheint, wenn er ihren Vorteil gegenüber den Kernländern darin ausmacht, dass diese „demokratisch verfaßt und mit leidlichen Sozialsystemen ausgestattet“ sind. Der „neue Kapitalismus“ bleibt damit aber auf den Export in die Länder des „traditionellen Kapitalismus“ angewiesen. Jeder Versuch, ihn durch eine erhöhte Binnennachfrage zu ersetzen, würde sofort die Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt untergraben.

In China übrigens, das nach dem Crash von 2008 ein Konjunkturprogramm nach dem anderen aufgelegt hat, um seine Wachstumsraten zu halten, und dazu kreditfinanziert ganze Geisterstädte aus dem Boden gestampft hat, scheint das Ende der Fahnenstange inzwischen erreicht. Im Juli 2014 ist das Volumen der vergebenen Kredite drastisch eingebrochen, und die Auguren sehen inzwischen einen Crash voraus, der mit dem von 2008 vergleichbar ist. Der muss nicht kurzfristig eintreten, aber dieser Vorgang zeigt doch, wie wackelig das Kartenhaus ist, das den „neuen Kapitalismus“ tragen soll.

Die hierin zum Ausdruck kommende Verkürzung der Kapitalismuskritik liegt – etwas pauschal gesagt – darin, dass das Kapital nicht als übergreifendes gesellschaftliches Verhältnis begriffen wird, sondern als ein Subsystem unter mehreren (die „Wirtschaft“), das irgendwie übergriffig geworden ist („Raubtierkapitalismus“) und das es deswegen wieder einzufangen und zu zähmen gilt. Dass das jeweils eigene Subsystem (Politik, Parteien, Gewerkschaften, Wissenschaftsbetrieb usw.) genauso zum Kapitalismus gehört und daher Teil des Problems und nicht etwa seiner Lösung ist, will dann nicht in den Kopf.

Das führt dazu, dass die kritischen Analysen und Lösungsvorschläge unbemerkt in die je eigenen Strukturen zurückgebogen werden: So lässt sich beispielsweise mit Kapitalismuskritik neuerdings wieder wissenschaftliche Karriere machen, allerdings sind dazu die im Wissenschaftsbetrieb herrschenden Regeln einzuhalten. Insbesondere die Wissenschaft selbst darf nicht infrage gestellt werden, womit freilich ein umfassender Ansatz von vornherein verbaut ist. Entsprechend laufen die innerhalb des politischen Subsystems diskutierten Konzepte immer nur darauf hinaus, das „Primat der Politik“ gegenüber der Ökonomie wiederherzustellen. Dass die Politikform selber mit dem Kapitalismus zu überwinden ist, kann gar nicht gedacht werden.

Völlig außerhalb der Wahrnehmung bleibt schließlich, in welchem Maße die Individuen qua bürgerlicher Subjektform von der Gesellschaft, der sie angehören, affiziert sind. Der Kapitalismus gilt als ihnen äußerlich, so als könne er abgeschafft werden, während seine Geld- und Warensubjekte bleiben dürfen, wie sie sind. Daraus resultieren Konzepte, die die angestrebte Transformation zu einem Automatismus werden lassen. Ihnen zufolge gilt etwa die Entwicklung der Produktivkräfte und das mit ihnen verbundene Verschwinden der Arbeit aus der Produktion bereits als ausreichend für einen quasi von selbst sich vollziehenden Übergang in die neue Gesellschaft;3 oder aber es wird  – das ist die bekannte traditionelle Variante –, angenommen, die objektiven Widersprüche des Kapitalismus und das Leiden der Menschen unter den gesellschaftlichen Verhältnissen müssten notwendig zu revolutionärem Bewusstsein führen. Dabei wird hoffnungsfroh übersehen, dass die real existierenden Individuen mehrheitlich anders auf ihr Überflüssigwerden reagieren, nämlich mit reaktionären Ideologiebildungen, der Organisation insbesondere der männlichen Konkurrenzsubjekte in mafiösen oder faschistoiden Rackets – zu denen mancherorts und nicht nur in der Peripherie auch die Polizei zählt – und dem Umschlagen des bisher noch durch die Rechtsform im Zaum gehaltenen bürgerlichen Krieges aller gegen alle in nackte Gewalt.

Da die Überwindung des Kapitalismus kein objektiver Prozess ist, sondern vielmehr „handelnden Menschen aufgegeben“ (Robert Kurz), wird sich die Frage, welchen Ausgang der Verfall der bürgerlichen Gesellschaft nimmt, letztlich daran entscheiden, ob und wie weit es den Individuen gelingt, sich ihrer Zurichtung als Waren- und Geldsubjekte zu entledigen. Für die Wert-Abspaltungs-Kritik bedeutet das, dass wir uns noch stärker als bisher den Verwüstungen zuwenden müssen, die die bürgerliche Gesellschaft im Innern ihrer Mitglieder anrichtet. Gerade die mit der Aufklärung vollzogene Ersetzung äußerer Zwänge durch in den Individuen verankerte Zwangsprinzipien ist es, die den Ausgang aus dem „stahlharten Gehäuse“ (Max Weber) des Kapitalismus für die in ihm Eingeschlossenen so schwierig macht.

Während im 17. Jahrhundert von Figuren wie Francis Bacon, Galilei und Descartes die Programmatik und die ersten Ausführungen einer neuen gesetzesförmigen Naturerkenntnis und der ihr entsprechenden mechanistischen Philosophie formuliert wurden, erreichten in Europa die patriarchalen Gräueltaten der Hexenverfolgungen ihren Höhepunkt. Dieser frappierenden historischen Koinzidenz nachgehend, entwickelt Johannes Bareuther Überlegungen ZUM ANDROZENTISMUS DER NATURBEHERRSCHENDEN VERNUNFT. Es erweist sich dabei, dass sich die mechanische Naturwissenschaft zwar wesentlich der sich zeitgleich durchsetzenden Wertvergesellschatung verdankt, wie bereits Eske Bockelmann nachgewiesen hat. Darüber hinaus lassen sich jedoch Spuren des Gründungsverbrechens des warenproduzierenden Patriarchats, der „ursprünglichen geschlechtlichen Abspaltung“ gewissermaßen, auch in den Kategorien und Bildern der neuen Naturauffassung aufzeigen. Sie werden im Verlauf des Textes in einen spekulativen Zusammenhang mit der Dialektik von innerer und äußerer Naturbeherrschung und der entsprechenden Dynamik des männlich-bürgerlichen Subjekts gebracht, wodurch die geschlechtliche Abspaltung als konstitutive Voraussetzung der neuzeitlichen Naturwissenschaft erkennbar wird.

Das Fragment „DER KAMPF UM DIE WAHRHEIT“ aus dem Nachlass von Robert Kurz richtet sich gegen das postmoderne Relativismusgebot in der gesellschaftskritischen Theorie. Dieses Gebot wird als Resultat einer transitorischen Ungewissheit am Ende der bürgerlichen Epoche identifiziert, in der sich auch das Feld der mit Marxschen Ideen legitimierten Kapitalismuskritik für Außenstehende oft als eine Art Irrgarten darstellt. Die postmoderne Antwort auf diese Situation besteht nun darin, den „Verlust aller Gewissheiten“ nicht etwa als problematisch zu erleben, sondern zum Dogma zu erheben, zur neuen Heilsgewissheit, deren Glücksversprechen darin besteht, sich auf nichts mehr festlegen zu müssen und alles offen zu lassen. Desto schärfer wird von diesem Dogma jede bestimmte Position kritisiert, die nicht auch ihr Gegenteil immer schon anerkennt. Diese Unbestimmtheit und Uneindeutigkeit kann allerdings nicht auf Dauer durchgehalten werden, weil die Schwerkraft der Krisenverhältnisse selbst zu einer Festlegung zwingt. Weil das postmoderne Denken sich einer neuen inhaltlichen Klarheit oder Eindeutigkeit verweigert und ausgerechnet darin das Neue überhaupt sehen will, ruft es nur das in ihm schlummernde Potential der Barbarei ab, indem es von seiner eigenen begründungslosen Entscheidung überrumpelt wird.

In ihrem Artikel: „FETISCH ALAAF! Zur Dialektik der Fetischismus-Kritik im heutigen Prozess des ‚Kollaps der Modernisierung‘. Oder: Wieviel Establisment kann radikale Gesellschaftskritik ertragen?“ geht Roswitha Scholz der Frage nach, inwieweit Fetischismus-Kritik im kollabierenden Kapitalismus  heute nicht selbst einen Hintergrund von Krisenideologie bildet. War Fetischismus-Kritik einstmals bestimmt von Hinterzimmer-Existenzen, so gibt es sie heute in verschiedensten  Farben und Formen. Sie ist nicht bloß in den linken Diskurs eingesickert, sondern beschäftigt selbst bürgerliche Kreise. Dabei gerät sie immer mehr in die Gefahr, Bestandteil der Krisenverwaltung und eines neuen Entrepreneurships (Unternehmertum) zu werden. Die Fetisch-KritikerIn bewegt sich längst in einem neuen opportunistischen Netzwerkkontext im Abstieg des Kapitalismus, was sie im Grunde auch weiß. Stattdessen ginge es darum, Distanz zur eigenen Theoriegeschichte zu gewinnen, auf einer Dialektik der Fetischkritik zu bestehen und kompromisslos in der Einsicht eines notwendigen „kategorialen bzw. ontologischen Bruchs“ (Robert Kurz) weiterhin auch „abgehoben“ zu intervenieren. Einfachen Lösungen im Sinne einer heruntergebrochenen Wert-Abspaltungskritik sowohl im Kontext wissenschaftlicher Verarbeitung als auch in Form von praktischen Pseudo-Konzepten gilt es somit mit Misstrauen zu begegnen.

Im zweiten Teil seiner „FORM- UND IDEOLOGIEKRITIK DER FRÜHEN HEGELSCHEN SYSTEME“ zeichnet Daniel Späth das „System der Sittlichkeit“ nach, in dem Hegel ausführlich Zeugnis über sein Verständnis von Dialektik abgibt. Der vorliegende Text beschäftigt sich mit dem ersten System dieser Hegelschen Schrift, dem „Natursystem“. Anschließend an das Verhältnis von Anschauung und Begriff, wie es von Kant in seiner „Transzendentalphilosophie“ entwickelt wurde, geht es in ihm darum, die epistemologischen Gemeinsamkeiten von Kant und Hegel herauszuarbeiten, um sowohl die „Transzendentalphilosophie“ als auch die „Philosophie des Geistes“ hinsichtlich des kategorialen Bruchs zwischen Subjektphilosophie und Fetischkritik, positiver und negativer Dialektik einzuordnen. Vor diesem Hintergrund ermöglicht sich sodann eine ausführliche Reflexion der Hegelschen Dialektik, die nicht zuletzt auf ihren gesellschaftlichen Bezugspunkt untersucht wird, wodurch bereits in diesem ersten Teil die kategoriale Befangenheit Hegels in einer identitätslogischen Subjektphilosophie deutlich wird.

In dem Text „NACH POSTONE. Zur Notwendigkeit der Transformation einer ‚fundamentalen Wertkritik‘. Moishe Postone und Robert Kurz im Vergleich – und die Wert-Abspaltungskritik“, legt Roswitha Scholz das Augenmerk auf die Unterschiede zwischen Kurz und Postone unter dem Gesichtspunkt des (von Kurz inkriminierten) „methodologischen Individualismus“. Formelhaft ausgedrückt verhält es sich so: Während Kurz darauf pocht, das „Kapital“ als Ganzes zu lesen und erst danach die Warenform in den Blick nimmt, wobei dem dritten Band des „Kapital“ gerade für den realkategorischen Prozess eines heute auch empirisch beobachtbaren Zusammenbruchs/Verfalls des Kapitalismus Bedeutung zukommt, setzt Postone an den ersten 150 Seiten des Kapitals an und entwickelt hieraus den Gang des Kapitalismus, ohne krisentheoretische Konsequenzen. Postone rekurriert grundsätzlich auf die Warenform, Kurz auf die Kapitalform. Postone verficht dabei implizit einen Standpunkt, der ideologisch tendenziell mittelschichtsgefällig ist, nicht zuletzt, weil er vor allem die Ökologie in den Vordergrund rückt, während Kurz, durchaus der ökologischen Frage gewahr, Mittelschichtsinteressen gleichzeitig als Ideologie entlarvt; bei Postone existiert eine „innere Schranke“ im Grunde bloß auf der Ebene der Ökologie, nicht aber der Ökonomie. Postone und Kurz (zumindest in seinem letzten Buch „Geld ohne Wert“) bewegen sich dabei beide auf der Ebene des Kapitals als Gesamtprozess. Die Ebene einer negativ dialektisch verstandenen „Abspaltung des Weiblichen“  vom (Mehr-)Wert kommt bei beiden nicht bzw. bloß nebensächlich vor. Aus der Sicht der Wert-Abspaltungskritik müssten jedoch die verschiedenen Ebenen, die materielle, die kulturell-symbolische und – last, but not least – die psychoanalytische Ebene in ihrer dialektischen Verschränktheit und damit gleichzeitigen Geschiedenheit in ihrer  prozesshaften  Entwicklung zueinander in Beziehung gesetzt werden. Nur so ließe sich die negative Totalität, jenseits eines androzentrischen methodologischen Individualismus, wie auch ein androzentrischer Universalismus überwinden, der überhaupt den krisenhaften Zerfall des kapitalistischen Patriarchats erst wesentlich ausmacht.

Die abschließende Rubrik REZENSIONEN – GLOSSEN – KOMMENTARE enthält sechs Beiträge. Im ersten kommentiert Gerd Bedszent unter der Überschrift „Ein altes/neues Gespenst geht um“ die Herausgabe des „Kommunistischen Manifests“ als Hörbuch, gelesen vom Schauspieler Rolf Becker, dessen Lesung am 3. März 2013 Beifallsstürme hervorgerufen hatte. Ebenfalls Gerd Bedszent setzt sich dann im Beitrag „Hunger“ kritisch mit den Verdiensten und Defiziten von Jean Ziegler und seinem Buch „Wir lassen sie verhungern. Die Massenvernichtung in der dritten Welt“ auseinander. Udo Winkel kommentiert in „Libido und Gesellschaft“ die Neuherausgabe der gleichnamigen Schrift von Helmut Dahmer, in „Wien, die Juden und der Antisemitismus“ die zum 90. Geburtstag von Egon Schwarz erschienenen Essays zum Fin de siècle und in „Der 1. Weltkrieg“ die zahlreichen im Jubiläumsjahr 2014 erschienenen Bücher zu diesem Thema. Die Rubrik schließt mit dem längeren, Anfang September 2014 fertiggestellten Beitrag „Die Ukraine – Dualität von Nationalismus und Staatszerfall“ von Gerd Bedszent, der auf die historische Genese des dort ausgebrochenen Bürgerkriegs eingeht und damit eine adäquatere Deutung des sogenannten „Russland-Ukraine-Konflikts“ ermöglicht, als sie in der Konfrontation von westlichen Mainstream-Medien auf der einen und Teilen der Linken auf der anderen Seite verbreitet wird.

Claus Peter Ortlieb für die Redaktion, im September 2014




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