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EXIT! Krise und Kritik der Warengesellschaft 3/2006 (Archiv)


EXIT! Heft 3

Inhalt

Editorial

Nach den dekonstruktivistischen, differenzbesessenen Neunzigern, in denen der Kasinokapitalismus seinen Höhepunkt erlebte, ist in der Mitte des ersten Jahrzehnts nach der Jahrhundertwende das Thema Prekarität im Gefolge von Hartz IV ein Schwerpunkt linker Beschäftigung. Die sich zuspitzende Krise wird nun zunehmend am eigenen Leib spürbar. Vor diesem Hintergrund erlebt die These vom "Ende der Arbeitsgesellschaft" eine Renaissance. Standen vor ein paar Jahren die "Glücklichen Arbeitslosen" mit ihrer Polemik noch ziemlich allein da, so ist Arbeitskritik und das "Überflüssigwerden" mittlerweile ein Hauptgegenstand nicht nur publizistischer, sondern auch künstlerischer Aktivität. So fragt etwa Martin Rinke in seinem Theaterstück "Cafe Umberto", wie Menschen jenseits von Erwerbsarbeit "sinnvoll leben" können; eine Künstlergruppe gibt sich den provokativen Namen "Club der polnischen Versager"; die Buchautorin Corinne Meier feiert "Die Entdeckung der Faulheit" und Wolfgang Engler geht es um eine Bürgerlichkeit jenseits der Arbeit ("Bürger, ohne Arbeit", so der Titel seines Buches). Beide Publikationen kamen in die Bestsellerlisten. In diesem Zusammenhang hat auch das Thema "Grundeinkommen" wieder Hochkonjunktur, und zwar um kein bisschen reflektierter als in den 80er Jahren. Gesucht wird nach der Quadratur des Kreises, nämlich wie man Arbeitssubjekt ohne Arbeit und Geldsubjekt ohne Geld sein könnte.

In diesem Klima bildeten sich auch einige Wertkritiker ein, groß rauskommen zu können, wenn sie nur eine reduktionistisch zurechtgestutzte Arbeitskritik für das Bewusstsein des "kleinen Mannes" agit-prop-artig präparierten. Das Ergebnis ist, dass eine derart heruntergekommene Wertkritik im bürgerlichen und linksreformistischen Blätterwald unterzugehen droht. Offenbar erschreckt davon, versucht man nun die nahezu verloren gegangene Distinktionsfähigkeit wieder zu gewinnen, die man vor lauter oberflächlicher Vermittlerei und dem Mitschunkeln im linken Szenen-Bierzelt fast schon vergessen hatte; z.B. indem man sich nun wieder (in einer allerdings politökonomisch-objektivistisch beschränkten Weise) gegen die Idee eines Grundeinkommens wendet, die man kurzzeitig selbst einmal gar nicht mehr so abwegig fand, oder indem man eine unhistorisch gesetzte "Sinnlichkeit", wie man sie in einigen Texten selbst suggeriert hatte, nun wieder relativiert. Die angebliche "Öffnung" der Wertkritik für ein breiteres Publikum verwickelt sich in heillose Widersprüche und droht eine immer seltsamere und wahrhaft sektiererische Sozialbastler-Klientel aufzusammeln. Inzwischen ist im Umfeld dieses auf Pseudo-"Gebrauchsanweisungen" verkürzten Ansatzes sogar schon das Konzept einer "wertkritischen Lebenshilfe (!)" und einer "Emanzipation im kleinen Kreise" aufgetaucht. Vielleicht stiftet die Notstandsverwaltung noch einen Preis für diese Sorte "Arbeitskritik".

Recht geschieht’s ihnen! – könnte man sagen, wäre da nicht das verheerende Resultat einer Vulgarisierung der Wertkritik; und nicht bloß das, sondern auch eine Verhunzung und Verdinglichung der Wert-Abspaltungstheorie, die darauf heruntergebracht wird, dass das Formprinzip des Werts eine im Grunde genommen vitalistisch konzipierte Abspaltungssphäre unterjocht. Über eine ableitungslogische "Sphärentrennung" ist dieses Denken nie hinausgekommen, statt sich der komplexen Wert-Abspaltung als einem alle Sphären des warenproduzierenden Patriarchats übergreifenden Prinzip theoretisch zu stellen. Interessant ist es dabei zu sehen, wie man sich in diesem verqueren Kontext in jüngster Zeit fast überschlägt, rein äußerlich Sexismus, Rassismus und Antisemitismus zu thematisieren, ohne einen inneren Zusammenhang herstellen zu können. Hieran wird allerdings auch deutlich, wie sehr die EXIT!-Konkurrrenz greift und man sich genötigt sieht, diverse EXIT!-Interventionen irgendwie "auch" zu berücksichtigen, will man sich legitimatorisch in der "Szene" halten. Schließlich haben gerade die migrantischen Riots in den Banlieus uns nachhaltig darauf aufmerksam gemacht und zu sehen gezwungen, dass es auch noch andere Betroffenheiten jenseits der herrschenden "Dominanzkultur" (Birgit Rommelpacher) und ihren Subjekten im "eigenen Land" gibt. Schaut man genauer hin, ist freilich eine androzentrisch-universalistische Wertformkritik nach wie vor der wesentliche Bezugspunkt.

Jedoch nicht nur aus dem Lager einer krisenverwalterischen Arbeitskritik bekommt eine derart verkürzte Wertkritik konkurrenten Zunder, sondern dem Bestreben, unvermittelt im Schnelldurchgang arbeitskritischen "Masseneinfluß" zu bekommen, ist die Gründung der Linkspartei ins Gehege gekommen. Oskar hat’s vermasselt! Offenbar passt dem gesunden Normalo-Menschenverstand ein linkskeynesianischer Populismus immer noch eher ins Konzept als wertkritische Praxisphrasen und eine Betroffenheitsbetulichkeit, und sei es auch bloß zum Behufe einer Protestwahl, bei der man sich ebenso gut nach rechts hätte wenden können.

In den letzten Jahren ist die Linke eindeutig nach rechts gerückt. Die Fremdarbeiter-Tiraden eines Lafontaine bringen dies nur besonders klar zum Ausdruck. Verstärkt wird dabei wieder anachronistisch auf den nationalstaatlich-keynesianischen Kontext als zentralen Referenzrahmen für mögliche Lösungen zurückgegriffen. Man könnte geradezu von einer rechten Entwicklung im linken Gewand sprechen. Dass dabei eine vulgarisierte Arbeitskritik und eine nationalstaatliche Orientierung bei Otto Normalbürger gut zusammengehen können, zeigt sich allenthalben.

Diese Entwicklung der Linken steht freilich nicht einfach für sich. Insgesamt ist in der BRD unter dem Eindruck der Krise wieder ein Knistern, Rascheln und Raunen im Märchenwald deutschnationaler Ideologie zu vernehmen. Angeführt seien hier bloß die unsägliche "Du bist Deutschland"-Kampagne in den Medien (zur Kritik: Robert Kurz – Neues Deutschland, EXIT-Homepage) und das sogenannte Potsdamer Manifest, das unter Berufung auf die Quantenphysik Anknüpfungspunkte für eine biologistische und völkische Esoterik bietet (zur Kritik: Claus Peter Ortlieb / Jörg Ulrich – Frankfurter Rundschau, EXIT- Homepage). Nation, Leitkultur und Vaterland sind wieder einmal Hauptschlagworte im medialen Diskurs. Eine proto-antisemitische Heuschreckenschelte gegenüber "ausländischem" Finanzkapital hält unvermindert an. Solche Tendenzen dürften sich nicht zuletzt auch infolge des extremen Sparhaushalts, den die Große Koalition beschließen will, noch verstärken.

Von derartigen Entwicklungen bleiben freilich auch die Sozialwissenschaften und die Philosophie nicht unberührt. Auch in diesen Bereichen macht sich das Bedürfnis nach einem affirmativen Halt deutlich. War in den 90er Jahren alles konstruiert und trieb man sich gern in virtuellen Welten herum, "völlig losgelöst von der Erde", so besinnt man sich in der Soziologie wieder auf den "Raum" und den "Körper"; es ist geradezu von einem "somatic turn" die Rede. Und in der Naturphilosophie wird neuerlich der "Einklang mit der Natur" gesucht, wobei die Differenz im Verhältnis von Natur und Gesellschaft wieder einmal eingeebnet zu werden droht. Postmoderne Philosophen entdecken nun den Apostel Paulus als neue Lichtgestalt der "ursprünglichen" Subjektwerdung; die katholische Philosophie goutiert dies mit Genugtuung und erklärt die Kirche kurzerhand zur originären und eigentlichen Aufklärerin. Der Neumystifizierung des Zeitgeistes stehen so nun Kämpen gegenüber, die bisher noch nie in einem Boot zusammen saßen: Theologie und Aufklärungsideologie begegnen sich in der fortgeschrittenen Verfallsepoche des Kapitalismus unter dem Dach der "Vernunft" und schließen auf der anderen Seite mit der kapitalistischen Realmetaphysik Burgfrieden. In Treue fest zum gewesenen oder auch erst kommenden "Ereignis" lässt es sich gut ausharren, denn das Wissenwollen gilt nicht viel, wenn es zur Rettung der Moderne nurmehr ums Bekennen geht. Im "theological turn" der Postmoderne wird sichtbar, wie Mystifikation und moderne "Vernunft" ineinander übergehen und sich in der "Dezision" treffen, der begründungslosen Entscheidung, die an die Stelle der kritischen Auflösung tritt.

Verwundern würde es so auch überhaupt nicht, wenn “Geschlecht” wieder zu einer der letzten Vergewisserungen würde, von Badiou über Žižek bis hin zu “Wir sind Papst”: Wenn man schon sonst nichts mehr weiß, dann wenigstens, dass man Männlein oder Weiblein ist; selbstverständlich vor einem androzentrisch-universalistischen Hintergrund. Einschlägig sind auch Anzeichen für eine neue "Alltagswende" in der Soziologie, die das prekäre "Every day life" zum Gegenstand macht. Das Gerede der verkürzten Wertkritik von einer "Alltagsorientierung" passt voll in diesen ideologischen Kontext. Die Themen der 80er Jahre lassen grüßen, nun aber in der fortgeschrittenen Verfallsepoche des Kapitalismus.

In einer solchen Zeit tut eine wert-abspaltungskritische Position, die sich nicht zum populistischen Narren machen will, gut daran, Ideologie nicht nur zu kritisieren, sondern, um es in Anlehnung an Adorno zu formulieren, mit dem Begriff von Ideologie und Geschichte über eben diese Begriffe hinaus zu gelangen. Und hier wären wir auch schon beim Schwerpunkt dieses Heftes, wobei freilich bloß einige Aspekte ausgeleuchtet werden können. Dieser Konnex wird uns jedoch ansonsten – neben der sozialen Analyse und Krisentheorie – noch auf längere Zeit beschäftigen. Es kommt darauf an, sich von einer billigen Praxiseuphorie nicht dumm machen zu lassen, ohne die Notwendigkeit des sozialen Widerstands zu negieren. Die Schwelle des realen Widerstands ist noch gar nicht erreicht, und dieser ist auch gar nicht möglich ohne eine Umwälzungsperspektive, die sich der Geschichtlichkeit und vor allem auch des Begriffs der Geschichte des warenproduzierenden Patriarchats versichert und durch eine nicht bloß äußerliche Ideologiekritik hindurchgegangen ist. "Gebrauchsanweisungen" können da nur eine Mogelpackung sein, nötig ist gerade unter den jetzigen Krisenbedingungen die Behauptung eines eigenständigen Stellenwerts der wert-abspaltungskritischen Theorie.

Frank Rentschler zeigt sodann, dass Schatz über keinen Begriff der symbolischen Ordnung verfügt und darüber hinaus eine Auseinandersetzung mit dem geschlechtlichen Charakter des Kapitalismus schlicht verweigert. Die kategoriale Abwesenheit des Geschlechts führt so letztlich nicht nur zu Analyseschwächen bei Schatz, sondern gerät in der politischen Sphäre – Frank Rentschler geht insoweit insbesondere auch auf die Linkspartei ein – zur Propaganda für die aufklärerische, d.h. männliche, weiße und westliche Subjektform.




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