Das ökonomische Paralleluniversum

erschienen im Neuen Deutschland
am 14.08.2009

Die ideologisch und kulturell als „postmodern“ und ökonomisch als „neoliberal“ bezeichnete Epoche der Simulation geht ihrem schmählichen Ende entgegen. Ein spielerisches Verhalten zur Welt bricht sich an den harten materiellen Tatsachen. Auf der Ebene des fiktiven Kapitals hat der globale Finanzcrash bereits die verdrängte Wirklichkeit der substantiellen Kapitalverwertung unangenehm in Erinnerung gerufen. Dagegen scheint sich das technologische Paralleluniversum des „Virtualismus“, das vielfältige „second life“ des Internet, eines munteren Daseins zu erfreuen. Von den 7 Milliarden Menschen dieser Welt sind gerade einmal 1,6 Milliarden „User“; die größte Population dieser Art stellt mit 298 Millionen China, was aber nur 22 Prozent der dortigen Bevölkerung ausmacht. In der globalen Öffentlichkeit nimmt die Debatte um das Internet einen überproportionalen Raum ein, als käme das reale Leben einer erdrückenden Mehrheit der Weltbevölkerung gar nicht mehr in Betracht. Dabei waren mit dem Dotcom-Crash um die Jahrhundertwende die Illusionen über die eigenständige Tragfähigkeit einer virtuellen Internet-Ökonomie bereits zusammengebrochen.

Tatsächlich ist das technologische Paralleluniversum eng mit der sich auflösenden Finanzblasen-Konjunktur verschränkt. Nur auf diese Weise konnte sich die verlogene Gratis-Mentalität der „User“ entfalten, als würde mitten im Kapitalismus ein kostenfreier Raum entstehen. Von links kam das in Parolen zum Ausdruck wie „download is communism“. Printmedien, Verlage und Buchhandel werden kaputt gemacht. Aber abgesehen von der kulturellen Verödung, die mit einer Flut von besinnungslosem Blogger-Geplapper einhergeht, hat die Flucht ins Netz ihren Preis. In Wirklichkeit läuft die vermeintliche Kostenlosigkeit von Inhalten über die Expansion der Werbewirtschaft in den virtuellen Raum. Die Privatsender mit ihren ätzenden Werbe-Unterbrechungen des Programms sind Waisenknaben im Vergleich zum Internet-Angebot. Selbst bei virtualisierten linksalternativen Medien muss man sich durch Werbung für Autos, Duftwässer, Penisverlängerung und sonstige obskure Produkte hindurchklicken. Diese Entwürdigung des Inhalts zeigt aber nicht nur die Kapitulation vor der kapitalistischen Verfasstheit an. Im Internet wird nichts produziert, nur geworben. Auch die Betreiber des Zugangs zu dieser Parallelwelt sind davon auf Gedeih und Verderb abhängig. Wenn der Absatz der beworbenen Produkte einbricht, werden auch die Budgets der ins Internet verlagerten Werbung zurückgefahren.

Absehbar ist aber auch eine zweite „Erdung“ der virtuellen Spielwiese. Die Gratis-Anklickerei setzt ein riesiges infrastrukturelles Aggregat mit hohem Energieaufwand voraus, für dessen Installation den meisten Ländern die Finanzkraft fehlt. Deshalb sind der Ausdehnung des Netzes Grenzen gesetzt; sie dürfte ihren Zenit überschritten haben. Aber auch in den kapitalistischen Zentren stellt der derzeit noch latente Bankrott der Staatsfinanzen im Zuge der Krisenbewältigung das flächendeckende infrastrukturelle Angebot mittelfristig in Frage. Es kann genauso ausgedünnt werden wie die medizinische Versorgung; das gilt erst recht für die privatisierten Sektoren. „Gratis“ dürfte ziemlich teuer werden, wenn man sich erst durch hohe Zugangsgebühren schleusen muss. Auch das „second life“ ist nicht beliebig, offen, kontingent, ambivalent usw., sondern gehört mit Haut und Haar dem geschlossenen System der Verwertungslogik an. Den „Usern“ steht das Erlebnis bevor, dass sie immer noch in der materiellen Welt des Kapitalismus leben, der nur ganz oder gar nicht abgeschafft werden kann.