Das Selbstmordattentat als emanzipatorischer Akt?
Zu Peter Kleins „Existenz und Terror“
Es klingt unglaublich, ist aber leider wahr: In der neuesten Ausgabe eines „wertkritischen Magazins“ sind Sätze wie die folgenden zu lesen, nicht als Zitat, sondern als Appell ihres Autors Peter Klein in seinem Text „Existenz und Terror. Vorschlag den Terrorismus nicht mit seinen Begründungen gleichzusetzen“, Streifzüge 39/2007, 14-17, nachzulesen unter
http://www.streifzuege.org/texte_str/str_07-39_klein_existenz-und-terror.html
In diesem Sinne ist der Terrorismus ein Menetekel. Die Botschaft, die er dem verstockten, seelisch verhärteten, im Korsett der Objektivität erstarrten westlichen Menschen zuruft, lässt sich, entkleidet von den ideologischen Floskeln, vielleicht in die folgenden Worte fassen: „Ja, das gibt es tatsächlich: Menschen, die derart verzweifelt sind und hassen, dass sie kein Funktionalismus mehr einfangen kann; die so gründlich aus dem Normengefüge der kapitalistischen Gesellschaft herausgefallen sind, dass sie keinem ihrer Effizienzkriterien mehr genügen – und auch gar nicht mehr genügen wollen; die der westlichen Militärmaschinerie hoffnungslos unterlegen sind, sich aber dennoch nicht unterwerfen – weil sie vor lauter Unglück und ohnmächtiger Wut selbst das nicht mehr fertig bringen; die sich lieber selbst in die Luft sprengen, als im Zustand des Elends, der Erniedrigung und der Hoffnungslosigkeit weiterzuleben. Wäre dieses unleugbare Ende der westlichen Ausstrahlungskraft für Dich, westlicher Mensch, nicht endlich ein Anlass zu stutzen und Dich auf Deine eigene existenzielle Situation zu besinnen? Wie lange willst Du in dieser stumpfsinnig rotierenden Maschine des Kapitalismus, die von Dir nur immer noch mehr Anpassung an die sich laufend steigernde Geschwindigkeit verlangt, noch weiterfunktionieren? Wann wirst Du endlich Deine vitalen Bedürfnisse ernst nehmen, Deinerseits Halt rufen und mit dem fälligen Aufstand beginnen?“
Klein geht es offenbar um den Aufstand der „vitalen Bedürfnisse“ gegen die abstrakte Form, und er sieht den Terrorismus als ein Beispiel, der uns „verstockten westlichen Menschen“ zeigen soll, wo es lang geht. Keine Rede davon, dass Terrorismus ja gerade nicht darin besteht, sich bloß selber in die Luft zu sprengen, und dass er sich nur in den allerwenigsten Fällen gegen die westliche Militärmaschinerie richtet. Keine Rede davon, wer die Selbstmordattentäter mit welchen Begründungen gegen wen losschickt, keine Rede daher von Ideologie im Allgemeinen und Antisemitismus im Besonderen. Stattdessen malt er das einfache Bild von der Objektivität des kapitalistischen Funktionalismus auf der einen und den von ihm unter dem Deckel gehaltenen vitalen Bedürfnissen und existenziellen Gefühlsqualitäten auf der anderen Seite, denen daher nur unverfälscht zum Durchbruch verholfen werden müsse. Der im Rahmen der Wertabspaltungskritik doch recht nahe liegende Gedanke, dass Bedürfnisse und Gefühle selber durch das warenproduzierende Patriarchat und die als falsches Bewusstsein zu ihm gehörenden Ideologien präformiert sind, kann so gar nicht aufkommen.
Nun handelt es sich hier allerdings keineswegs um einen bloßen Ausrutscher des „wertkritischen“ Autors Peter Klein (und der Streifzüge-Redaktion), sondern das Vorgehen hat System und das aus ihm abgeleitete Ergebnis ist durchaus konsequent. Es wird bereits im Untertitel des Textes angedeutet. Nur geht es Klein nicht bloß darum, den „Terrorismus nicht mit seinen Begründungen gleichzusetzen“, sondern er streicht diese Begründungen und damit die ideologische Ebene, den Einfluss der abstrakten Form auf das Denken der ihr Unterworfenen, vollständig durch. Was dann noch bleibt, sind zwei Prinzipien, die sich völlig unvermittelt gegenüber stehen: Die abstrakte Allgemeinheit der kapitalistischen Objektivität auf der einen und die ebenso abstrakt gefassten und transhistorisch gedachten „vitalen Bedürfnisse“ auf der anderen Seite. Und die Rollen von „Gut“ und „Böse“ sind natürlich schon verteilt. Das von Klein, der von Ideologien nichts wissen will, hier entworfene Bild ist selber ideologisch, gehört zum klassischen Bestand der Gegenaufklärung und ist strukturell antisemitisch konnotiert, worauf hinzuweisen sich in einem wertkritischen Kontext eigentlich erübrigen sollte. Nur scheint das in den „Streifzügen“ entweder niemandem aufgefallen zu sein oder es wurde billigend in Kauf genommen.
Um deutlich zu machen, dass es hier nicht darum geht, Klein böswillig zu unterstellen, was er so gar nicht gemeint hat, folgt noch ein längeres Zitat, aus dem deutlich wird, dass er wirklich einen Querfront-Text verfasst hat, der ebenso gut in der „Jungen Freiheit“ hätte erscheinen können:
Der Gedanke, der zu verbreiten ist, lautet: Nicht nur denen geht es schlecht, die „außen“ sind, weil sie der Kapitalismus ausgespuckt oder noch nie in Verwendung gehabt hat, sondern auch denen, die sich „innen“ befinden, die dem kapitalistischen Funktionalismus unmittelbar unterworfen sind. Nicht nur der Hass, der die Terroristen zu ihren Wahnsinnstaten treibt, ist existenziell nachzuvollziehen, auch jener Hass wäre es, mit dem sich der westliche Mensch gegen seine Existenzbedingungen aufzulehnen hätte – es aber bislang noch nicht tut. Er hätte allen Grund, sich an den Terroristen ein Beispiel zu nehmen – nicht gerade, was ihre Taten, sehr wohl aber, was diese Gefühlsqualität angeht.
Es dürfte sich so ungefähr um die „Gefühlsqualität“ handeln, die jeder antisemitische Parolen grölende und im Zweifel auch dreinschlagende Jungnazi für sich in Anspruch nehmen kann. Weiter im Text:
Dies muss zunächst einmal klar gesagt werden, bevor man den zweiten Schritt tut und ein umständliches Raisonnement darüber beginnt, in welche ideologische Richtung sich dieser Hass, wenn er denn einmal öffentlich wirksam und zur Staatskrise werden sollte, sich möglicherweise zu wenden oder lieber nicht zu wenden hätte. Die Ideologien sind zweitrangig. Noch kein Ideologe ist dort, wo er sich hingeträumt hat, auch angekommen. Aber noch jeder Ideologe musste sich auf die Existenzbedingungen der Menschen einlassen. Erst recht müssen das diejenigen tun, die den Ideologen das Wasser abgraben wollen.
Dass die Berufung auf „die Existenzbedingungen der Menschen“ ihrerseits ideologisch ist, indem sie von der Geschichte abstrahiert und damit die Ansprüche des bürgerlichen Subjekts zum Maß aller Dinge macht, kommt Klein nicht in den Sinn. Unter diesem Label lassen sich so gut wie alle Ideologien eines verkürzten Antikapitalismus versammeln.
Kleins Text ist ein Beispiel dafür, wohin „Wertkritik“ geraten kann, wenn sie theoretisch stehen bleibt und wesentliche Aspekte des warenproduzierenden Patriarchats einfach ausblendet, in diesem Fall die eigenständige Rolle der Ideologie im kapitalistischen Krisenprozess. Roswitha Scholz hat darauf bereits vor zwei Jahren in EXIT! Heft 2 hingewiesen („Der Mai ist gekommen“) und ist dafür in den einschlägigen Mailing-Listen heftig beschimpft worden. Sie hat wohl doch Recht gehabt. Die Möglichkeit des Umkippens auch der „Wertkritik“ in gegenaufklärerische Ideologeme – eine Bewegung also, wie sie früher schon bei einigen Protagonisten der 68er-Bewegung zu beobachten war – bleibt theoretisch noch genauer aufzuarbeiten. Insofern kann die bloße Konstatierung eines solchen Vorgangs nicht unser letztes Wort in dieser Sache gewesen sein.

