Der philosophische Hofnarr im Kristallpalast

Peter Sloterdijks intellektuelle Bocksprünge im kapitalistischen Verwöhnraum

Wenn Philosophen das Licht der Aufklärung leuchten lassen, wir wissen es spätestens seit Kant, dann ergeben sich daraus meistens grandiose Blendereien und vor allem eine schier unerträgliche Schönfärberei angesichts des „triumphalen Unheils“ (Adorno), welches mit der kapitalistischen Moderne unter bzw. über die Menschen gekommen ist. Als sei die „Dialektik der Aufklärung“, was immer wir auch heute wohl begründet an ihr kritisieren müssen, nie geschrieben worden, als hätte es einen Karl Marx nie gegeben, zieht Sloterdijk mit seinem philosophischen Suchscheinwerfer los und zaubert damit einen derart grellen Heiligenschein über den globalisierten Kapitalismus, dass man eine helle Freude darüber empfinden könnte, wenn es nicht so traurig wäre, so dürftig und so intellektuell unredlich zudem.

Sloterdijk versteht den modernen Kapitalismus nicht mit Max Weber als das „stählerne Gehäuse“, dessen Bewohnerinnen und Bewohner Zwängen unterliegen, die in der hier freigesetzten abstrakten Unerbittlichkeit geschichtlich so noch nie gekannt wurden, sondern im Anschluss an eine Metapher von Dostojewski als „Kristallpalast“, welcher eben den „Weltinnenraum des Kapitals“ symbolisiert, ein „Treibhaus“, in dem es wächst und sprießt, ein „Palast des Konsums“, in dem sich der „Sinn von Freiheit enthüllt“, und zwar als das „Vermögen, zwischen Produkten für den Markt eine Wahl zu treffen – oder selbst solche Produkte zu erzeugen.“ In dieser Feststellung drückt sich bereits die Quintessenz aus des auf über vierhundert Seiten breit getretenen, mit teils zierlich filigranen, teils kühn ausgreifenden philosophischen Sprachbildern garnierten Quarks.

Das kapitalistische Weltsystem ist der Gipfel der Freiheit, die Warenproduktion das Halleluja auf den durch das um den Globus rotierende Geld „ersetzten“ Gott. Als Mensch zählt hier nur, wer zahlungskräftig ist. „Mit der Vorstellung vom planetenweiten Palast des Konsums läßt sich das Reizklima einer integralen Wareninnenwelt zur Sprache bringen. In diesem horizontalen Babylon wird das Menschsein zu einer Frage der Kaufkraft…“

Wer nicht über die nötige Kaufkraft verfügt, bleibt außen vor. Die Reichen und die Schönen sind die „legitimsten Geschöpfe der glücksschwangeren Neuzeit“, denen die Welt zum Ort der Selbstinszenierung und des unbeschwerten Konsums geworden ist. Sie verkörpern jenen durch seine pure Existenz die Freiheit schlechthin realisierenden homo optionis, der keine Mühe hat, weil er die Kosten nicht scheut. Durch die „gefühllose bare Zahlung“ (Marx) erschließt sich eine Zauberwelt, in der niemand nach Geld fragt, weil alles eine Frage des Geldes ist.

„Die Kristallpalastbewohner profitieren in ihrer großen Mehrheit von dem Zauberzusammenhang der Geldsphäre, die jeden einzelnen Agenten durch die unermeßliche Überbietung der möglichen Eigenleistung bei der Selbstversorgung mit einer beispiellosen Fülle von Optionen ausstattet, Kurzformel: Shoppen und Ficken – solange er die Aufenthaltsbedingung im Wohlstandsraum, Kaufkraftbesitz, erfüllt.“ Shoppen und Ficken als Lebenszweck also – darin kommen sämtliche bürgerlichen Glücksversprechen für die Kaufkraftbesitzer zu sich selbst.

Und damit ist zugleich die Geschichte an ihr Ziel gelangt, das Zeitalter der „posthistorischen Zivilisation“ angebrochen. Es hat einmal eine Geschichte gegeben, aber es gibt keine mehr. „(I)hr ökonomisches Ergebnis ist die Etablierung des Weltsystems.“ Und dass wir in der zum „global village“ zusammengeschrumpften Welt „Mitwisser von fernem Elend“ werden, lässt uns Sloterdijk zufolge keineswegs erkennen, welche gigantischen Destruktivkräfte der Kapitalismus entfaltet, indem er ganze Erdregionen dem Untergang preisgibt, nein, er sieht darin eine „vitale Chance“, nämlich „die Möglichkeit, die Quellen des Glücks und die Strategien des Risikomanagements interkulturell zu vergleichen.“

Allen Leserinnen und Lesern, denen bereits an dieser Stelle die Spucke wegbleibt, sei gesagt, dass wir uns hier auf einer noch relativ harmlosen Ebene des Machwerks befinden. Es kommt schlimmer. Der abstrakte Universalimus der heute zum Weltsystem gewordenen europäischen Moderne ist für Sloterdijk die „semantische Spiegelung des Großwerdens der Welt“, die nun sozusagen ins Mannesalter und damit in ihre Blütezeit eintritt, denn Sloterdijk spricht ausschließlich vom männlichen, westlichen, weißen Subjekt der aufklärerischen Tradition, dessen Urgestalt sich ihm idealtypisch in den kühnen Seefahrern des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit darstellt, die er als Pioniere der Globalisierung feiert. Entdeckergeist, Eroberungen, reiche Beute – fremde Häfen, schöne Frauen: In der völlig ohne Scham vorgetragenen Glorifizierung patriarchalisch-universalistischer Omnipotenzphantasien findet Sloterdijk zur Heiligsprechung des weltumspannenden Systems der kapitalistischen Moderne. „Universalismus: ein Stadium der Reife.“ Denn es ist eine ausgemachte Sache, eine „Tatsache“, wie der philosophische Schwadroneur betont, dass „die Seelen mit den Weltformen wachsen, in den Städten, in den Steppen und in den Reichen.“ Davon soll angeblich „die Philosophie ihren Ausgang“ genommen haben. Deshalb kommt am Ende auch der weise Ratschlag, man solle es angesichts der Globalisierung doch bitteschön mit Aristoteles halten und sich klar machen, dass „Bürger nur sein könne, wem großseelisches Empfinden (megalopsychía) zur zweiten Natur geworden sei.“

Mit einer großen Seele also lässt es sich behaglich leben im Kristallpalast. Und der ist nicht nur ein Ort der Freiheit und des Wachstums, sondern ein „Verwöhnraum“ gar und Ergebnis des „Entlastungsvorgangs, der dem Prozeß der Zivilisation von Beginn an inhärent ist, jedoch erst im Zeitalter der radikalen Entknappung von Gütern zur vollen Sichtbarkeit ausreifen konnte.“ Da ist sie schon wieder, die Reife, und der philosophische Hofnarr tanzt weiter im Kristallpalast vor dem Thron des abstrakten Universalismus, um den er seine von kaum einem Fünkchen Kenntnis getrübten ökonomietheoretischen Seifenblasen schweben lässt, während die Verwöhnraumbewohner shoppen und ficken, was das Zeug hält. Hier schreibt einer der oftmals so genannten bedeutendsten deutschen Philosophen der Gegenwart, und man könnte sich die Haare raufen vor Verzweiflung über die hier einmal mehr mit unbeschreiblicher Frechheit und in aller Öffentlichkeit vollzogene Schriftmüllverklappung.

Das Buch gehört zu denjenigen Druckerzeugnissen, welche die Leserinnen und Leser nicht notwendigerweise dümmer machen müssen, wohl aber bisweilen zornig, traurig oder einfach nur enttäuscht darüber, welche Gehirnblähungen hierzulande unter dem Etikett Philosophie herumgereicht werden.

Hinzuweisen ist zum Schluss noch auf den an manchen Stellen des Buches aufzufindenden apodiktischen Herrenreiter- bzw. Kasernenhofton, wenn es z.B. zackig heißt, es sei „das Merkmal der Hochkultur, daß sie der Einpflanzung des Unmöglichen ins Reale Vorschub leistet.“ Oder wenn der Autor wenig später auf „den Elan der Zivilisation“ zu sprechen kommt, „die sich erhält, indem sie sich erweitert, steigert, differenziert.“ Jawoll! möchte man da fast wie ein gut dressierter Rekrut sagen, Hochkultur. Jawoll! Elan, Zivilisation. Jawoll! und die Hinterbacken zusammenkneifen, dass eine Euro-Münze, wenn man sie denn vorher dazwischen geklemmt hätte, die Prägung verlöre.

Vielleicht hat Sloterdijk eine Überdosis Texte vom „Denkwebel“ Heidegger zu sich genommen. Wie dem aber auch immer sein mag: Der Befehlston, das müsste deutlich geworden sein, ist nicht das einzige Ärgernis in diesem Buch, vielmehr das ganze Buch ein Sammelsurium von philosophischen Sprechblasen, selbstverliebter Gockelgesang eines bildungsbürgerlich wohlstandsverwahrlosten Panegyrikus der Modernisierung, jedenfalls keineswegs ein „Verwöhnraum“ und beim besten Willen kein intellektuelles Vergnügen.


Peter Sloterdijk, Im Weltinnenraum des Kapitals. Für eine philosophische Theorie der Globalisierung, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005