Die neoliberale Revolution frißt ihre Kinder

erschienen im Neuen Deutschland
am 02.09.2005

Die Lage ist meist anders, als man denkt. Während die Linke kurz vor den Wahlen fast nur den politisch kanalisierten Protest gegen die rotgrünen antisozialen Reformen im Auge hat, walzt die Globalisierung bereits über die Träger dieser Politik auch im Management hinweg. Peter Hartz, Symbolfigur des neoliberalen Kahlschlags bei den Transfereinkommen, musste im Zuge der wie bestellt gekommenen VW-Korruptionsaffäre unehrenhaft zurücktreten. DaimlerChrysler-Chef Jürgen E. Schrempp, der sich gern als „Mr. Shareholder value“ titulieren ließ, wurde in die Wüste geschickt. Und plötzlich erscheint auch der Absturz von Rotgrün in neuem Licht. Die „Wirtschaftswoche“ machte sich den Spaß, auf ihrem Titelcover Noch-Kanzler Schröder, den abservierten Schrempp und den ebenfalls als Fossil gehandelten VW-Aufsichtsratsvorsitzenden Piech im Stil der Marx-Engels-Lenin-Posters abzubilden mit der Headline: „Wir machen den Weg frei – Ende einer Epoche“. Wer hätte das gedacht: der clevere Medienkanzler ebenso wie „Mr. Shareholder value“ in der undankbaren Rolle von Gorbatschow oder gar von Honecker u. Co.

Schrempp muß sich vorhalten lassen, dass er mit Chrysler und Mitsubishi Todeskandidaten der globalen Überkapazitäten teuer eingekauft hat, um in alter fordistischer Manier nunmehr als Welt-AG wirklich Autos zu bauen. Aber die Krise der Realökonomie verlangt den Autokannibalismus der Konzerne, die tranchiert und in die Zirkulation der Finanzmärkte geworfen werden sollen, weil nur dort noch Gewinne zu erzielen sind. Das gilt auch für die Kernunternehmen selbst. Deutsche Bank-Chef Josef Ackermann verkaufte am Abend von Schrempps Sturz 35 Millionen DaimlerChrysler-Aktien und beendete damit abrupt 80 Jahre traditionelle Verbindung. Überall stoßen die Banken ihre Industriebeteiligungen ab. Und gleichzeitig sollen alle Betriebsvereinbarungen mit den bisherigen Kernbelegschaften, wie sie noch Hartz und Schrempp abgeschlossen hatten, liquidiert werden. Was zur Disposition steht, ist der gesamte alte Korporatismus mit seiner Verfilzung von Management, Banken, Gewerkschaftsapparaten, Betriebsratsfürsten der Konzerne und Politik. Hartz, Schrempp und die rotgrüne Regierung standen für eine zynische Minderheits-Version der Deutschland-AG, die auf Kosten einer millionenfachen Verlierermasse in die Globalisierung hinübergerettet werden sollte. Aber soziale Ausgrenzung allein reicht nicht; das neue Finanzkapital verliert jetzt sogar die Fähigkeit zur Integration einer privilegierten Restklientel.

Das korporatistische Modell der Deutschland AG stand schon bei den Nazis für eine nationale Formierung und Verschränkung von (altem) Finanzkapital, Politik, Lohnarbeit, Massenkonsum und Sozialstaat auf einer Basis, die nicht anders als rassistisch bezeichnet werden kann. Nicht umsonst war gerade VW eine Lieblingsgründung Hitlers. Die fordistische „Automobilmachung“ fand im Namen der deutschen Volks- und Blutsgemeinschaft statt. Nach 1945 wurde dieses Modell ökonomisiert und individualisiert, ohne die Gründungsgeschichte kritisch zu verarbeiten. Jetzt ist Schluß mit lustig. Die Deutschland-AG wird im Krisenprozeß der dritten industriellen Revolution aufgekündigt und abgewickelt. Der Sozialprotest hat die Wahl. Entweder er kündigt dieses Modell seinerseits auf, um sich transnational zu radikalisieren und endlich „Abschied von der Volksgemeinschaft“ zu nehmen. Oder er läßt sich zum Sprachrohr der bislang privilegierten Restklientel machen, um deren nationale Fleischtöpfe zu verteidigen und die soziale Ausgrenzung bloß selektiv zu gestalten. Dann wird er nicht nur reaktionär, sondern auch illusionär.