Die wundersamen Wandlungen der Wertschöpfung
Translation [pt]: As transformações milagrosas da criação de valor. Uma pequena história
Traslation [it]: Le miracolose trasformazioni della creazione del valore Una piccola storia
Eine Kurzgeschichte
Die Wiederholung eines nicht wert-schaffenden Akts
kann nie ein Akt der Wertschöpfung werden.
(Karl Marx, MEW 42)
Wertschöpfung in Euro =
Produktionskosten minus Vorleistungen minus Abschreibungen
minus Indirekte Steuern plus Subventionen
(BWL – Weisheit)
Die Wertschöpfung in der kapitalistischen Wirtschaft ist seit rund vierhundert Jahren eine feste Größe, aber auch immer wieder Thema von Diskussionen ökonomischer, politischer, sozialer, ja auch moralischer Art. Was früher in Büchern gewälzt wurde und zu immer neuen Büchern führte, wird heute zu einem nennenswerten Teil im Internet hochgeladen, kommuniziert. So stieß ich beim Surfen ebendort vor einigen Monaten auf den Begriff der „digitalen Wertschöpfung“ bzw. der „digitalen Wertschöpfungsketten“. Jetzt war also auch der Wert bzw. seine Schöpfung, seine Produktion, der Digitalisierung anheimgefallen. Wie konnte eine realabstrakte Kategorie „digitalisiert“ werden? Das war nicht sofort einsichtig – also habe ich ein wenig recherchiert, um die Historie dieses Neologismus` ein wenig aufzuhellen – und die Kurzgeschichte war fertig!
Der Ursprung
David Ricardo hat als einer der ersten1, und in seiner Deutlichkeit wohl tatsächlich als Erster, darauf hingewiesen, dass der Wert einer Ware irgendetwas mit der in ihr steckenden, ihr vorausgehenden, menschlichen Arbeit zu tun haben muss: „Der Wert einer Ware oder die Quantität einer anderen Ware, gegen die sie ausgetauscht wird, hängt ab von der verhältnismäßigen Menge an Arbeit, die zu ihrer Produktion notwendig ist“ (Ricardo 2006: 5). Karl Marx hat ein paar Jahrzehnte später dargestellt, dass es genauer die abstrakte menschliche Arbeit ist, die Wert erzeugt, und zwar neuen Wert, Mehrwert. Beide, Ricardo noch ein wenig früher (1772 – 1823) und Marx etwas später (1818 – 1883), lebten zu einer Zeit, in der sich der Kapitalismus, insbesondere und zuerst in England, in seiner frühen Entwicklungsphase befand, also zwar bereits auf seinen eigenen Grundlagen zu prozessieren begonnen hatte, aber noch weit über hundert Jahre brauchte, um auch empirisch wahrnehmbar global zu werden und um so gut wie alle Lebensbereiche aller Menschen zu erfassen. Im Laufe der darauffolgenden Jahrzehnte, ab etwa 1850, verließen die bürgerlichen Nationalökonomen den Pfad Ricardos endgültig2 und behaupteten, der Warenwert entspränge nicht nur der Arbeit, sondern den drei Produktionsfaktoren: Boden, Arbeit und Kapital; und überhaupt: so etwas wie Wert hat ja mit einem (Real-) Abstraktum à la Marx, also das Ergebnis von Erbringung abstrakter Arbeit im Rahmen eines Wert- bzw. Kapitalverwertungsprozesses zu sein, nichts zu tun. Vielmehr müsse man davon ausgehen, dass der sogenannte Wert lediglich der individuellen Einschätzung des jeweiligen Grenznutzens einer Ware für ein Wirtschaftssubjekt entspreche. Diese wegweisende Idee basiert auf den Gedanken von Daniel Bernoulli (1700 – 1782), der schon im frühen Jahrhundert der Aufklärung (in dem Glücksspiele in gewissen Kreisen recht beliebt waren) den Widerspruch zwischen den riesigen Erwartungen, die die Spieler/innen beim Glücksspiel hegten, und den vergleichsweise winzigen Summe, die sie bereit waren einzusetzen, erklärt hatte. Sein Begriff des „Grenznutzens“ löste diesen Widerspruch, und „schon“ gut hundert Jahre später formulierte Hermann Heinrich Gossen (1810 – 1858) das in der VWL grundsätzlich bis heute akzeptierte Gesetz vom abnehmenden Grenznutzen. Dieser Grenznutzen ist der (subjektive) Wert einer zusätzlichen Ware, meist eine von derselben Art wie bereits einmal (oder mehrmals) erworben; dass dieser mit zunehmender Warenmenge abnimmt, wird klar, wenn man sich vorstellt, man habe erst drei Mercedes S600; der vierte mag ja noch einigermaßen begehrlich sein, also Wert für einen selbst haben, aber dann der fünfte – der muss nun wirklich nicht mehr sein, hat also für einen selbst so gut wie keinen Wert mehr (vgl. dazu: Ortlieb 2004: 166ff.)! Die Marxist/inn/en dagegen beharrten auf der Marxschen Erkenntnis, dass ausschließlich die Arbeit (der Arbeiterklasse) in der Lage sei, Wert, Mehrwert zu schaffen. Auf die Idee, dass noch andere Faktoren oder andere Quellen bei der Erzeugung von Wert (wie auch immer definiert) eine Rolle spielen könnten, kam – vielleicht außer einigen religiösen Eiferern – zunächst kein Mensch. Das ging aber nur solange, als sich der Kapitalismus munter weiter entwickelte, nach und nach alle Bereiche der Erzeugung von Gütern erfasste, alle Menschen in allen Gegenden der Erde unter das Kapitalverhältnis subsumierte, ehemalige Luxusgüter in die Massenherstellung überführte, sowie immer neue, mehr oder weniger sinnvolle, Gegenstände auf den Markt brachte und damit zu Waren erklärte. Diese zwar teilweise mörderische, brutale, rücksichtslose und blutige, teilweise aber auch Wohlstand bringende Entwicklung, fand einigermaßen kontinuierlich statt, wenn auch an einigen Stellen und einige Male von zum Teil heftigen Krisen für ein paar Jahre unterbrochen. Diese relative Kontinuität war einer der Gründe, weshalb die beiden feindlichen Lager der politischen Ökonomie (schlagwortartig benannt: Nationalökonomie und Marxismus) ihre Theorie über mindestens hundertfünfzig Jahre hinweg (von 1776 , Adam Smiths „An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations“ erschien, bis zur Weltwirtschaftskrise von 1929 bis 1933/45) zum Thema Wertschöpfung und Wert sowie dessen Herkunft nur sehr allmählich und zäh, wenn überhaupt, geändert haben. Erst als während der genannten Weltwirtschaftskrise zahlreiche Selbstverständlichkeiten in Frage gestellt wurden, gab es ein paar zarte Hinweise darauf, dass auch die Quelle des Wertes zu überdenken sein müsste – noch waren nur die bürgerlichen Ökonomen mit diesem Problem konfrontiert; die Marxist/inn/en hatten derweil ganz andere Themen abzuarbeiten. Mit der sogenannten Drei-Sektoren-Hypothese legten unter anderen der Neuseeländer Allan George Barnard Fisher (1895 – 1976), der Engländer Colin Grant Clark (1905 – 1989), sowie der Franzose Jean Fourastié (1907 – 1990) die theoretische Grundlage dafür, dass sich die Volkswirtschaftslehre (VWL) weltweit vermehrt um den Dienstleistungssektor kümmerte. Deren Hypothese3 teilte das wirtschaftliche Geschehen auf der (kapitalistischen) Welt in drei Sektoren ein, die allesamt in gleicher Weise, nur eben zu unterschiedlichen Prozentsätzen, zum Wohlstand und damit zur Wertschöpfung beizutragen in der Lage seien: in den Primärsektor (also Landwirtschaft, Fischerei, Bergbau, Öl- und Gasförderung, allgemein: Rohstoffgewinnung), in den Sekundärsektor (also Industrie, allgemein: Rohstoffverarbeitung) und den Tertiärsektor, also Dienstleistungen.
Die erste Wandlung
Diese Idee kam gerade rechtzeitig, zeigten sich doch in den Jahrzehnten nach der großen Krise, insbesondere nach dem Ende des zweiten Weltkrieges, immer stärkere Tendenzen dahingehend, dass, zumindest und zuerst in den kapitalistischen Zentren, die extraktive und die industrielle Produktion Schritt für Schritt von Unternehmen verdrängt wurde, die gar keine konkreten, materiellen Waren mehr herstellten und anboten, sondern nur noch reine Dienstleistungen, wie z. B. Werbung, Bilanzbuchhaltung, Autowäsche, Schuhe putzen, Personenschutz, u. v. m. Als in den 1970er Jahren diese Tendenz in einigen Ländern dazu führte, allen voran in den USA und im UK, dass in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) die Dienstleistungen prozentual am Industrie- und Extraktionssektor vorbeizogen, meldeten sich die ersten Propheten zu Wort, die das Ende des Industriezeitalters voraussagten, und eine Dienstleistungsgesellschaft am Horizont heraufdämmern sahen. Das nahmen dann einige von ihnen zum Anlass, auch die Wertschöpfung vom Agrar-, Montan- und Industrie- in den Dienstleistungssektor auszudehnen – die erste Wandlung der Wertschöpfung war schon so gut wie vollzogen. Was dabei stets, unhinterfragbar, apriorisch und vollkommen bewusstlos, unterstellt wird, ist, dass, ganz positivistisch, die Wertschöpfung das Ergebnis von indifferenter wirtschaftlicher Tätigkeit schlechthin ist. Eine Unterscheidung wie Marx sie vorgenommen hat, nämlich dass es produktive, also Mehrwert erzeugende, und unproduktive, also nur Mehrwert erhaltende, sichernde und verteilende, Arbeit im Kapitalismus gibt, und dass daher Einzelkapitale ebenfalls entweder neuen Mehrwert schaffen oder bereits produzierten nur verteilen, sichern oder erhalten, bleibt völlig außen vor. Diese Herangehensweise unterscheidet schon seit längerem Gewerkschafter, Unternehmer, Wissenschaftler, Journalisten und Durchschnittsbürger, ja auch viele sich marxistisch dünkende Linke, nicht oder kaum mehr voneinander. Ergo sind sich beinahe alle darin einig, dass, wenn denn nun der Primär- und der Sekundärsektor im Rückzug begriffen sind, das alles kein nennenswertes Problem darstellen kann, von ein paar Übergangsfriktionen einmal abgesehen, denn die Rettung, sprich: die Sicherung der Kontinuität in der Gesellschaft und diejenige der zur Verfügung stehenden Arbeitsplätze, ist grundsätzlich gewährleistet – es gibt ja jetzt den wachsenden Dienstleistungsbereich. Es ist sogar noch viel besser als vorher, denn der Tertiärsektor wird auch gleich als brummender Wachstumsmotor ausgemacht. Und das liegt natürlich nicht daran, dass dort immer mehr Wert produziert würde, sondern einzig daran, dass dort Arbeitsplätze geschaffen werden (die vorher im Primär- und Sekundärsektor weggefallen waren oder outgesourced wurden). Und, wie so oft, wird die Realität der kapitalistischen Verhältnisse übersehen: „Die falsche Hoffnung, die kapitalistische »Beschäftigung« könne vom industriellen in den terziären Sektor umgeschichtet werden, beruht auf demselben Trugschluß wie die Hoffnung auf grenzenlos wachsende Freizeit im Kapitalismus durch Steigerung der Produktivität: In beiden Fällen werden »naturale«, technisch-materielle Potenzen aufgerechnet, ohne die (als selbstverständlich vorausgesetzten) ökonomischen Verhältnisse des Kapitalismus zu berücksichtigen.“ (Kurz 2009: 745). Dennoch war die erste Wandlung vollendet.
Die zweite Wandlung
Das eben gesagte spielte sich im Wesentlichen vom Anfang der 1950er Jahre bis etwa Ende der 1970er Jahre ab, dauerte also knapp dreißig Jahre. In den 1980er Jahren begann dann eine weitere Entwicklung, die aber nun nicht mehr primär vom Industrie-, sondern vom Dienstleistungssektor ausging. Getriggert wurde sie durchaus vom (von vielen immer noch als dem basalen angesehenen) sekundären Sektor, doch die Hauptakteure kamen ausnahmslos aus dem tertiären, speziell aus dem universitären Bereich. Diese Entwicklung aus dem Dienstleistungssektor heraus hat verschiedene Bezeichnungen bekommen: Wissensrevolution, Wissensökonomie, ja sogar „Wissenskapitalismus“ (André Gorz). Jetzt sind nicht einfach nur Dienstleistungen (wie Friseure, oder Paketzusteller) für die Wertschöpfung hauptverantwortlich, sondern ganz speziell die „Wissensarbeiter“. Während in der bürgerlichen Ökonomik diese Wissensgesellschaft weiterhin ein ordinäres Bruttoinlandsprodukt (BIP) hervorbringt, halt getragen jetzt von immer mehr Menschen, die im Wissensbereich (Universitäten, Schulen, Beratungsfirmen, IT-Firmen, Konstruktions- und Designabteilungen, Ingenieurbüros, usw.) arbeiten, ist die Sache mit dem Wert von Waren aus diesem Bereich ein Problem bei den Linken geworden: „Wissen ist keine ordinäre Ware, sein Wert ist unbestimmbar“ (Gorz 2004: 79). Nachdem also die bürgerliche VWL/BWL den Wert als gesellschaftliche Kategorie schon seit der Grenznutzentheorie4 „überwunden“, also individualisiert hatte, die meisten Marxist/inn/en aus den Reihen der Arbeiterbewegung mit der Werttheorie vom alten Meister im Laufe der Zeit überhaupt nichts anzufangen wussten, gab André Gorz diesem Wert nun einen allerletzten Fußtritt mithilfe des Wissenskapitals – und die zweite Wandlung der Wertschöpfung war getan – ohne dass die Anhänger/innen des Marxismus davon etwas verstanden hätten..
Die dritte Wandlung
Dieser Wissenshype dauerte noch weniger lang als der allgemeinere der Dienstleistungseuphorie, nämlich vielleicht knapp zwanzig Jahre, von den frühen 1980er bis in die späten 1990er Jahre. Dann nämlich, also während der 1990er Jahre, drängte sich das „www“, das world wide web, in den Vordergrund. Jetzt reichte es nicht mehr aus, ganz ordinär dienstleistende/r Wissensarbeiter/in zu sein, jetzt sollte es schon irgendetwas mit Internet sein, wenigstens web designer oder vielleicht auch dotcom entrepreneur. Und schon waren wieder ganz herausragende Seherinnen und Seher im medialen Spektakel zu vernehmen, die den Kapitalismus im Netz aufgehen und erblühen sahen. Nunmehr müsste die gesamte Wirtschaft sich über das web vernetzen, eben dort ihre Produkte entwickeln, herstellen und vertreiben, und schon wäre die ganze Sache krisenfrei abzuhandeln. Die Jahre 2000/01 brachten dann eine für viele vertrauensselige Menschen die grausame Erfahrung einer sich in Nichts auflösenden Hoffnung: die dotcom Blase war geplatzt. Trotzdem aber setzte sich die Meinung durch, irgendwie war das Internet in der Lage, die inzwischen längst mit Wertschöpfung gleichgesetzte Schaffung von Arbeitsplätzen, zu befördern, nur dass eben leider doch auch das Internet keine echte Krisenfreiheit sicherstellen konnte. Aus all diesen Erfahrungen einmal den Schluss zu ziehen, dass irgendetwas faul im Staate Dänemark, hier: im Kapitalismus, sein könnte, fiel so gut wie niemandem ein. Die dritte Wandlung der Wertschöpfung war ja über uns gekommen.
Die vierte Wandlung
Wir haben nun, seitdem David Ricardo und dann begrifflich weitaus stringenter Karl Marx, den Begriff des Wertes oder der Wertschöpfung der Arbeitskraft zugeordnet hatten, schon einiges erlebt. Erst wurde die Dienstleistung ganz allgemein in den Kreis der Wertschöpferinnen und Wertschöpfer aufgenommen, ja hypostasiert, danach war der Wissenssektor dran, zuletzt dann das Internet. Da aber auch das nicht lupenrein als idealer Wertschöpfer oder Wachstumsgarant für alle Zukunft herhalten wollte, war in der Zwischenzeit zum Glück ein neuer Kandidat für die Rolle als Wachstums- und Wertschöpfungsmagier herangereift: der Finanzsektor. Galt dieser bis ins späte 20. Jahrhundert einfach nur als Dienstleister für die Finanzierung der Realwirtschaft, also auch für den tertiären Sektor, inklusive des Wissensbereichs und des Internets, so entdeckten plötzlich einige aufmerksame Beobachter der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung, dass ja der Finanzbereich im weiteren Sinne, also Banken, Fonds, Versicherungen, Fiskus, Schattenbanken, usw., eine geradezu gigantische Ausdehnung seit etwa 1970 und noch einmal stark beschleunigt seit etwa 2000 hinlegte. Das musste doch wohl daran liegen, dass, von beinahe allen bürgerlichen, konservativen, liberalen, grünen und anderen, ja am Ende sogar von den marxistischen Gelehrten, übersehen worden sein musste, dass auch der Finanzsektor einen Beitrag zur Wertschöpfung, obendrein einen rasant steigenden, leisten können musste. Wie konnte es ansonsten sein, dass die Arbeitsplätze in diesem Finanzsektor explosionsartig zunahmen, und die (in Euro, Franken, Dollar, Yen oder Yuan gemessene) Wirtschaftsleistung schier unaufhaltsam anstieg. An dieser Stelle sollte ich vielleicht an die oben angeführte BWL-Weisheit erinnern, nach der sich Wertschöpfung im herkömmlichen Sinne so definiert (an die Terminologie der Banken wenigstens ein wenig angepasst): Einnahmen aus Zinsdifferenzen, Gebühren und Kursgewinnen minus Kosten des Geschäftsablaufes und der Beratung minus Abschreibungen, alles in Euro. Was ist hier der Trick? Genau: die Wertschöpfung ist ein wenig schwerer zu erfassen als in der Industrie und bei den anderen Dienstleistern, aber sie wird ohne weitere Hinterfragung einfach als selbstverständlich gesetzt und das Problem lediglich bilanzarithmetisch abgehandelt. Somit haben wir auch die vierte Wandlung der Wertschöpfung geschafft.
Die fünfte Wandlung
Erst Arbeit (nur Arbeit: für die Marxist/inn/en; Arbeit plus Kapital plus Boden: für die Bürgerlichen), also extraktive und industrielle Produktion, dann Dienstleistungen, dann Wissen, dann Internet, dann Finanzen als Wertschöpfer, das ist schon kompliziert und komplex genug; was kann jetzt noch kommen? Das ist ganz easy: wir fassen die Schritte eins bis vier in der Eucharistie der Wandlungen zusammen, schütteln das Ganze, vermengen es mit modernster Elektronik – und es kommt heraus: die digitale Wertschöpfung5 bzw., weiter verbreitet: digitale Wertschöpfungskette(n)! Diese fünfte, vorläufig (?) letzte Wandlung bringt wie in der römisch-katholischen Kirche möglicherweise die finale Erlösung. Ob der Kapitalismus durch diese Erlösung endgültig optimiert und gerettet, bewusst von allen aufgehoben, oder dann doch chaotisch und barbarisch enden wird, das sollte sich in nicht allzu langer Zeit zeigen.
Die bittere Realität als Kontrast
Als „Wertschöpfung“ im bürgerlichen betriebs- oder auch volkswirtschaftlichen Sinne wird in der Regel das am Markt verwertbare Ergebnis der Anwendung der Produktionsfaktoren Arbeit, Kapital und Boden verstanden. Dagegen ist der Begriff der Wertschöpfung bei Marx eher weniger gebräuchlich, vielmehr ist dort häufiger von „Wert“ als das Resultat von verausgabter abstrakt menschlicher Arbeit, die Rede, und nur ab und an von Wertschöpfung. Diese Selbstverständlichkeit marxistischer Gesellschaftsanalyse und -kritik scheint in letzter Zeit mehr und mehr verloren gegangen zu sein. Gerade auch die seit etwa 1970 zu beobachtende Tendenz des akkumulierten Kapitals, seine Verwertung, sprich: Vermehrung, im Finanzhimmel anstatt im bodenständigen „realwirtschaftlichen“ Sektor zu versuchen, trägt dazu bei, die traditionellen Begrifflichkeiten vom Verwertungsprozess des Kapitals in Frage zu stellen, zu konfundieren und zu ersetzen entweder durch buchhalterische Algebra des betrieblichen Rechnungswesens, oder durch die höhere Mathematik der VGR, immer unter der Maßgabe der alten Behauptung, auch reines Geld könne die Ursache von Wertschöpfung sein. Die Analysen und Kritiken von Karl Marx werden in diesem Zusammenhang von allen Seiten bestenfalls immer mehr auf das eingedampft, was Robert Kurz als den „exoterischen Marx“ bezeichnet hat: „Der exoterische Marx ist der positiv auf die immanente Entwicklung des Kapitalismus bezogene“ (Kurz 2006: 28). Und noch viel schlimmer: Einstige Marxist/inn/en übernehmen hemmungslos, ja ab und an mit stolz geschwellter Brust, die Sprache der BWL und der VWL und merken dabei gar nicht, dass sie von einer Gesellschaftskritik ganz leise, aber sehr erfolgreich zu einer Ökonometrie der Begriffslosigkeit oder sogar zu einer Art bürgerlich-demokratischer Krisenverwalterei übergelaufen sind, und dabei die einmal möglicherweise angedeutete radikale Gesellschaftskritik zunehmend vergessen. Zum Beispiel ist es schon recht schwierig, die folgenden Sätze korrekt zuzuordnen (einer stammt von Hans-Werner Sinn, der andere von der Memorandum-Gruppe – es darf geraten werden): a) „Die Finanzkrise hat im Bankensystem riesige Abschreibungsverluste erzwungen, die seine Existenz in Frage stellen.“ b) „Ein großes Risiko auf den Finanzmärkten geht inzwischen vom Sektor der Schattenbanken (Hedge Fonds, Private Equity Fonds, Geldmarkt- und Pensionsfonds etc.) aus.“6
Nun ist die Wertproduktion oder genauer: die Wertverwertung um ihrer selbst willen, in der Tat alles andere als anschaulich und daher für viele nicht auf Anhieb (und damit leider so gut wie nie) begreiflich. Dies liegt an dem weit verbreiteten und sich immer weiter ausbreitenden Tabu der Abstraktion: was nicht konkret rezipient ist, das ist nicht real, kann gar nicht real sein, in Verbindung mit einem Betroffenheitswahn, hinter dem sich alle verstecken, die nicht über den Tellerrand des unmittelbar Wahrnehmbaren hinausschauen können oder wollen. Daher können nur die wenigsten etwas mit dem Realabstraktum „Wert“ anfangen. Schon das Erstellen von Hundertausenden Betoneinheiten, sprich: Wohnungen, Häuser, etc., in Spanien oder in der VR China, stellt für die geistigen Tiefflieger auf jeden Fall irgendeine Art von „Wert“ dar – schließlich haben sich Abertausende von Arbeiter/inne/n über Monate und Jahre abgemüht, diese Gebäude zu errichten und dabei Beton, Stahl, Holz, Kunststoffe u. v. m. verbaut, und am Ende das Ganze auf dem Markt angepriesen; so etwas muss ja geradezu Wertschöpfung sein! Dass diese Geisterstädte und -dörfer auf Pump, auf Kredit, produziert wurden, und nach Fertigstellung aber keine/n Käufer/in gefunden haben, ist für die meisten Beobachter/innen einfach nur Pech im großen Spiel um Marktanteile, Marktrisiken und Profite. Aber bereits die Tatsache, dass diese Immobilien zwar hergestellt, aber nicht verkauft werden können, müsste alle diejenigen stutzig machen, die zumindest wissen, dass der produzierte (Mehr-) Wert sich auf dem Markt auch bewähren muss, die Ware also auch verkauft werden muss; andernfalls, also wenn kein Geschäft zustande kommt, wird rückwirkend die – tatsächliche oder auch fiktive – Wertproduktion für gesellschaftlich ungültig erklärt! Aber in diesem Fall der chinesischen und spanischen Betonphantasien ist es noch eine Stufe schlimmer. Da fast alle Geldmittel, die bei den jeweiligen Bauvorhaben zur Finanzierung eingesetzt wurden, aus mehr oder weniger langen Kreditketten stammen, kann man noch nicht einmal davon ausgehen, dass diese Geldmittel selber Wert repräsentieren, sondern über mehr oder weniger lange Zeiträume hinweg lediglich ein Versprechen (oder die Hoffnung) auf Mehrwertproduktion darstellten. Somit steckt weder produzierter Wert in diesen Betonbergen, noch wurde ein solcher je realisiert; anders gesagt: das ganze konkrete Massengrab der unverkauften Immobilien ist nichts anderes als eine irreale Phantasie von verzweifelt nach Anlagemöglichkeiten suchenden Geld- bzw. Kapitalbesitzer/innen. Wertschöpfung hat zu keinem Zeitpunkt stattgefunden. Das kommt davon, wenn man nicht zur Kenntnis nehmen will, was Claus Peter Ortlieb verdeutlicht: „Der Wert ist die vorherrschende, nicht-stoffliche Form des Reichtums im Kapitalismus, auf die stoffliche Gestalt des wertförmigen Reichtums kommt es dabei nicht an.“ (Ortlieb 2009: 27).
Wir haben also gesehen, wie sich alle möglichen kleinen, mittleren und auch größeren Geisterinnen und Geister die Wandlungen der Wertschöpfung nicht nur staunend angesehen haben, sondern in verschiedener Weise auch ihren aktiven Beitrag dazu geleistet haben, dass dieses tragikomische Schauspiel der Wandlungen der Wertschöpfung auch real aufgeführt werden konnte. Wenn schon Wertschöpfung heute mehr oder weniger als Ergebnis einer algebraischen Operation in den Wirtschaftsbetrieben jeder beliebigen Art und im Finanzamt, oder auch in den Instituten der Wirtschaftsweisen angesehen wird, anstatt als das Ergebnis einer menschlichen Tätigkeit, nämlich Verausgabung von Arbeit überhaupt, dann wird vorstellbar, was noch zu tun sein wird, um die verheerenden Auswirkungen des gesellschaftlichen Krisenprozesses gigantischen Ausmaßes wie wir ihn derzeit – in Zeitlupe! – erleben, auf die Theoriebildung und auch auf das Denkvermögen der Mehrheit der Bevölkerung abzumildern oder auch gänzlich zu beseitigen.
Literatur:
Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik; Memorandum 2016. Europäische Union und Flüchtlingsmigration – Solidarität statt Chaos; Köln 2016.
Bernoulli, Daniel; Die Werke von Daniel Bernoulli; Basel 1986.
Clark, Colin Grant; The National Income, London 1932.
Fisher, Allan George Barnard; Fortschritt und soziale Sicherheit; Tübingen 1947.
Fourastié, Jean; Le Grand Espoir du XXe siècle. Progrès technique, progrès économique, progrès social; Paris 1949.
Goossen, Hermann Heinrich; Entwickelung der Gesetze des menschlichen Verkehrs und der daraus fließenden Regeln für menschliches Handeln; Frankfurt am Main, Düsseldorf 1987.
Gorz, André; Wissen, Wert und Kapital. Zur Kritik der Wissensökonomie; Zürich 2004 [2003].
Kurz, Robert; Marx lesen! Die wichtigsten Texte von Karl Marx für das 21. Jahrhundert; Frankfurt am Main 2006 [2000].
ders.; Schwarzbuch Kapitalismus. Ein Abgesang auf die Marktwirtschaft; Frankfurt am Main 2009 [1999].
MEW 42; Berlin 2005.
Ortlieb, Claus Peter; Markt-Märchen. Zur Kritik der neoklassischen Volkswirtschaftslehre und ihres Gebrauchs mathematischer Modelle; in: EXIT! 1/2004; Bad Honnef 2004.
ders.; Ein Widerspruch von Stoff und Form. Zur Bedeutung der Produktion des relativen Mehrwerts für die finale Krisendynamik; in: EXIT! 6/2009; Bad Honnef 2009.
Ricardo, David; Über die Grundsätze der Politischen Ökonomie und der Besteuerung; Marburg 2006.
Sinn, Hans-Werner; Kasino Kapitalismus. Wie es zur Finanzkrise kam, und was jetzt zu tun ist; Berlin 2010 [2009].
Smith, Adam; Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen; München 2009 [1974; 1978].
1 Nach William Petty (1667) und Benjamin Franklin (um 1750) sowie ein paar anderen.
2 Jean-Baptiste Say und andere taten dies schon früher; aber ab der Mitte des 19. Jahrhunderts, also nachdem Karl Marx Die Werttheorie formuliert hatte, waren alle bürgerlichen Ökonomen stark verwirrt und wandten sich von derartigen, komplizierten Themen, ab.
3 Zuweilen wird diese Hypothese auch „Petty`s Law“ genannt, was auf eine entsprechende Äußerung des englischen Philosophen und Begründers der englischen Nationalökonomie, William Petty (1623 – 1687), zurückgeführt wird.
4 Wichtige weitere Vertreter der Grenznutzenschule: Léon Walras (1834 – 1910), Carl Menger (1840 – 1921), Vilfredo Pareto (1848 – 1923).
5 Ich persönlich habe diesen Ausdruck erstmals bei Christian Rätsch entdeckt (vgl.: christianraetsch.de/video/digitale-wertschoepfung/); benutzt wird er aber wohl von mittlerweile vielen Autor/inn/en.
6 Wer hat’s erraten? a) stammt aus: Hans-Werner Sinn; Kasino Kapitalismus. Wie es zur Finanzkrise kam, und was jetzt zu tun ist; vollst. aktual. Ausg.; Berlin 2010; S. 230. b) stammt aus: Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik; Memorandum 2016. Europäische Union und Flüchtlingsmigration – Solidarität statt Chaos; Köln 2016; S. 19.

