erschienen in der Folha de São Paulo
im September 2004

Robert Kurz

DAS LETZTE STADIUM DER MITTELKLASSE

Vom klassischen Kleinbürgertum zum universellen Humankapital

Seit Mitte der 80er Jahre hat in der globalen theoretischen Diskussion fast zwei Jahrzehnte lang der postmoderne Diskurs dominiert, vor allem in der Linken. Die Kritik der politischen Ökonomie wurde durch die Kritik der Sprache ersetzt und die Analyse der objektiven materiellen Verhältnisse durch die Beliebigkeit der subjektiven Interpretation; an die Stelle des traditionellen linken Ökonomismus trat ein ebenso verkürzter linker Kulturalismus und an die Stelle des sozialen Konflikts die mediale Simulation. Inzwischen hat sich jedoch die Situation gründlich geändert. Die ökonomische Krise ergreift nun auch im Westen große soziale Schichten, die bisher verschont geblieben waren. Deshalb kehrt die soziale Frage in den intellektuellen Diskurs zurück.

Aber die Interpretationen bleiben merkwürdig blaß und wirken geradezu anachronistisch. Die Polarisierung zwischen Arm und Reich, die sich unaufhaltsam verschärft, hat noch keinen neuen Begriff gefunden. Wenn der traditionelle marxistische Begriff der "Klasse" plötzlich Konjunktur hat, ist das eher ein Zeichen der Hilflosigkeit. Im traditionellen Verständnis wurde die "Arbeiterklasse", die den Mehrwert produziert, durch die "Kapitalistenklasse" mittels des "Privateigentums an den Produktionsmitteln" ausgebeutet. Kein einziger dieser Begriffe kann die heutigen Probleme exakt darstellen.

Die neue Armut entsteht nicht durch Ausbeutung in der Produktion, sondern durch Exklusion aus der Produktion. Wer noch in der regulären kapitalistischen Produktion beschäftigt ist, gehört schon zu den relativ Privilegierten. Die problematische und "gefährliche" Masse der Gesellschaft ist nicht mehr durch ihre "Stellung im Produktionsprozeß" definiert, sondern durch ihre Stellung in sekundären, abgeleiteten Bereichen von Zirkulation und Distribution. Es handelt sich um dauerhaft Arbeitslose, um Empfänger staatlicher Transferleistungen oder um billige Dienstleister in den Bereichen des Outsourcing, bis hin zu Elendsunternehmern, Straßenhändlern und Abfall-Sammlern. Diese Formen der Reproduktion sind nach juristischen Maßstäben zunehmend irregulär, ungesichert und oft illegal; die Beschäftigung ist unregelmäßig; die Einkommen bewegen sich an der Grenze des Existenzminimums oder fallen sogar darunter.

Umgekehrt läßt sich auch keine "Kapitalistenklasse" mehr im alten Sinne nach Maßstäben des klassischen "Privateigentums an den Produktionsmitteln" definieren. In Gestalt der staatlichen Apparate und Infrastrukturen ebenso wie in Gestalt der großen (heute transnationalen) Aktiengesellschaften erscheint das Kapital in gewisser Weise als vergesellschaftet und anonymisiert; es hat sich als abstrakte, nicht mehr personalisierbare Form der ganzen Gesellschaft entpuppt. "Das Kapital" ist keine Gruppe von juristischen Eigentümern, sondern das gemeinsame Prinzip, von dem das Leben und Handeln aller Gesellschaftsmitglieder nicht bloß äußerlich, sondern auch in ihrer eigenen Subjektivität bestimmt wird.

In der Krise und durch die Krise hindurch vollzieht sich dabei noch einmal ein struktureller Wandel der kapitalistischen Gesellschaft, der die alten, scheinbar klaren sozialen Lagen auflöst. Der Kern der Krise besteht ja gerade darin, daß die neuen Produktivkräfte der Mikroelektronik die Arbeit und damit die Substanz des Kapitals selbst abschmelzen. Durch die zunehmende Reduktion der industriellen Arbeiterklasse wird immer weniger reeller Mehrwert geschaffen. Das Geldkapital flüchtet in die spekulativen Finanzmärkte, weil Investitionen in neue Fabriken unrentabel geworden sind. Während wachsende Teile der Gesellschaft außerhalb der Produktion verarmen oder sogar verelenden, findet nur noch eine simulative Akkumulation des Kapitals durch Finanzblasen statt.

Das ist der Logik nach nichts Neues, denn diese Entwicklung prägt den globalen Kapitalismus schon seit zwei Jahrzehnten. Neu ist aber, daß nun auch die Mittelklasse in den westlichen Ländern unter die Räder kommt. Die US-amerikanische Essayistin Barbara Ehrenreich hatte schon 1989 ein Buch über "die Angst der Mittelklasse vor dem Absturz" veröffentlicht. Das Problem verschob sich dann jedoch um ein volles Jahrzehnt, weil die spekulative Finanzblasen-Konjunktur der 90er Jahre zusammen mit dem Aufschwung der Informationstechnologie und der Kommerzialisierung des Internet noch einmal neue Blütenträume weckte. Der Zusammenbruch der New Economy und das Platzen der Finanzblasen in Asien und Europa, teilweise auch in den USA, beginnen nun seit 2000 den schon früher befürchteten Absturz der Mittelklasse brutal zu realisieren.

Aber wer ist diese Mittelklasse und welche Rolle spielt sie in der Gesellschaft? Im 19. Jahrhundert war die Welt der sozialen Klassen noch einfach und durchsichtig. Zwischen der Klasse der Kapitalisten, also der Privateigentümer an den gesellschaftlichen Produktionsmitteln, und der Klasse der Lohnarbeiter, die nichts als ihre Arbeitskraft besitzen, stand die Klasse der so genannten Kleinbürger. Diese alte Mittelklasse zeichnete sich durch den Besitz eigener kleiner Produktionsmittel (Werkstätten, Kaufläden usw.) aus, in denen sie hauptsächlich ihre eigene Arbeitskraft und die ihrer Familie anwenden mußte, um ihre Produkte selber auf dem Markt zu verkaufen. Die Erwartung der orthodoxen Marxisten war, daß diese "kleinen Bürger" allmählich durch die Konkurrenz der großen kapitalistischen Unternehmen verschwinden und in die Klasse der industriellen Lohnarbeiter hinabsinken würden, bis die Gesellschaft vollends in die beiden Hauptklassen Bourgeoisie und Proletariat polarisiert wäre.

Aber schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es in der deutschen Sozialdemokratie die berühmte Debatte zwischen Bernstein und Kautsky über die "neue Mittelklasse". Gemeint waren damit bestimmte technische, ökonomische und intellektuelle Funktionen, wie sie aus dem Prozeß kapitalistischer Vergesellschaftung hervorgegangen waren. Mit zunehmender Verwissenschaftlichung der Produktion und der entsprechenden Expansion von Infrastrukturen (Verwaltung, Ingenieurswesen, Bildung und Erziehung, Gesundheitswesen, Kommunikationswesen und mediale Öffentlichkeit, Institutionen der Forschung usw.) entstand eine neue soziale Kategorie, die nach dem alten Schema "weder Fisch noch Fleisch" war. Es handelte sich nicht um Kapitalisten, weil sie kein großes Geldkapital repräsentierten; ebensowenig um klassische Kleinbürger, weil sie keine eigenen Produktionsmittel besaßen und selber großenteils lohnabhängig oder nur formal selbständig waren; aber auch nicht um Proletarier, weil sie nicht als "unmittelbare Produzenten" beschäftigt wurden, sondern als Funktionäre der kapitalistischen Entwicklung der Produktivkräfte in allen Lebensbereichen.

Zwar gab es schon im 19. Jahrhundert Lehrer und andere Staatsbeamte sowie jene betriebswirtschaftlichen Funktionäre, die Marx als "Offiziere und Unteroffiziere des Kapitals" bezeichnet hatte. Aber diese sozialen Kategorien fielen zahlenmäßig so wenig ins Gewicht, daß sie nicht als eigene "Klasse" bezeichnet werden konnten. Erst mit den neuen Anforderungen des Kapitalismus im 20. Jahrhundert wurden die entsprechenden Funktionen derart massenhaft, daß sie eine neue Mittelklasse konstituierten. Während in der marxistischen Debatte zu Beginn dieser Entwicklung Kautsky die neuen Mittelschichten in das alte Schema zu pressen und sie irgendwie in das Proletariat einzuordnen suchte, wollte Bernstein in diesem sozialen Phänomen eine Stabilisierung des Kapitalismus erblicken, die eine moderate Reformpolitik ermöglichen würde.

Zunächst schien über lange Zeit hinweg Bernstein Recht zu behalten. Die neue Mittelklasse erwies sich immer deutlicher als eine von der traditionellen Arbeiterklasse verschiedene soziale Kategorie; nicht nur dem Inhalt und Ort der Tätigkeit nach, sondern auch in ökonomischer Hinsicht. Barbara Ehrenreich nennt als Kriterium, daß für diese Leute ihr "sozialer Status eher auf Bildung als auf Kapitalbesitz oder sonstigen Vermögenswerten basiert". Die höhere Qualifikation, deren Ausbildung lange Zeit bis ins 30. Lebensjahr oder darüber hinaus beansprucht und große Mittel verschlingt, erhöhte den Wert der Arbeitskraft weit über die sonstigen durchschnittlichen Schwankungen hinaus.

In diesem Zusammenhang entstand ein folgenreicher Begriff, nämlich der des "Humankapitals". Angestellte Ingenieure, Marketing-Fachleute oder Personalplaner, selbständige Ärzte, Therapeuten oder Rechtsanwälte und vom Staat besoldete Lehrer, Wissenschaftler oder Sozialarbeiter "sind" unter einem bestimmten Aspekt das Kapital in doppelter Weise. Zum einen verhalten sie sich durch ihre Qualifikation zur Arbeit anderer Menschen strategisch, anleitend und organisierend im Sinne der Kapitalverwertung; zum anderen verhalten sie sich teilweise (vor allem als Selbständige oder als leitende Angestellte) zu ihrer eigenen Qualifikation und damit zu sich selbst als "Humankapital" wie ein Kapitalist im Sinne der "Selbstverwertung". Die neue Mittelklasse repräsentiert das Kapital nicht auf der Ebene der äußeren materiellen Produktionsmittel oder des Geldes, sondern auf der Ebene der organisierenden Qualifikation für den Verwertungsprozeß bei einem hohen Niveau des Einsatzes von Wissenschaft und Technologie.

Im Verlauf des 20. Jahrhunderts bildeten sich zahlreiche neue Funktionen dieser Art aus und die neue Mittelklasse nahm zahlenmäßig immer weiter zu. Besonders die Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg brachte zusammen mit den neuen Formen der fordistischen Produktion und der Freizeit-Industrien einen zusätzlichen Schub in diese Richtung; ablesbar daran, daß in den meisten Ländern von Generation zu Generation der Anteil der Studenten anstieg. Die weltweite Studentenbewegung von 1968 zeigte die gewachsene Bedeutung dieses sozialen Sektors; sie war aber auch ein erstes Signal der Krise. Hatte bis dahin die Herausbildung der neuen Mittelklasse den Kapitalismus tatsächlich im Sinne Bernsteins eher stabilisiert und war mit fortschreitenden Reformen verbunden, so begann nun ein Prozeß der Destabilisierung.

Zwar betraf die neue strukturelle Massenarbeitslosigkeit im Gefolge der 3. industriellen Revolution und der Globalisierung des Kapitals zunächst hauptsächlich die unmittelbaren industriellen Produzenten. Aber es zeichnete sich schon ab, daß auch die neue Mittelklasse nicht verschont bleiben würde. Der Aufstieg dieser Klasse war in vieler Hinsicht mit der Ausdehnung der staatlichen Infrastrukturen, des Bildungswesens und der Bürokratie des Sozialstaats einher gegangen. Die Krise der reellen industriellen Verwertung führte aber immer tiefer in die Finanzkrise des Staates. Plötzlich erschienen viele Bereiche, die vorher als stolze Errungenschaften gegolten hatten, als unnötiger Luxus und als Ballast.

Das Stichwort vom "schlanken Staat" machte die Runde; die Gelder für Bildung und Kultur, für das Gesundheitswesen und zahlreiche andere öffentliche Institutionen wurden zusammengestrichen; der Abbau des Sozialstaats begann. Auch in den großen Unternehmen fielen ganze Sektoren qualifizierter Tätigkeit der Rationalisierung zum Opfer. Durch den Absturz der New Economy wurden sogar die Qualifikationen vieler High-Tech-Spezialisten entwertet. Heute ist es nicht mehr zu übersehen, daß der Aufstieg der neuen Mittelklasse keine eigenständige kapitalistische Basis hatte, sondern abhängig war von der gesellschaftlichen Umverteilung des Mehrwerts aus den industriellen Sektoren. In demselben Maße, wie die reelle gesellschaftliche Mehrwertproduktion durch die 3. industrielle Revolution in eine strukturelle Krise gerät, wird sukzessive auch den sekundären Bereichen der neuen Mittelklasse der Nährboden entzogen.

Das Resultat ist nicht nur eine wachsende Arbeitslosigkeit von Akademikern. Durch Privatisierung und Outsourcing wird das "Humankapital" der Qualifikationen auch innerhalb der Beschäftigung entwertet und im Status degradiert. Intellektuelle Tagelöhner, Billigarbeiter und Elendsunternehmer als "Freelancer" in Medien, Privatuniversitäten, Rechtsanwalts-Kanzleien oder Privatkliniken sind keine Ausnahmen mehr, sondern die Regel. Trotzdem behält auch Kautsky am Ende nicht Recht. Denn die neue Mittelklasse stürzt zwar ab, aber nicht ins klassische industrielle Proletariat der unmittelbaren Produzenten, die zur langsam verschwindenden Minderheit geworden sind. Paradoxerweise ist die "Proletarisierung" der qualifizierten Schichten verbunden mit einer "Entproletarisierung" der Produktion.

Dabei geht die Entwertung der Qualifikationen einher mit einer objektiven Ausdehnung des Konzepts vom "Humankapital". Gegenläufig zum Abstieg der neuen Mittelklasse findet in gewisser Weise eine neuartige allgemeine "Verkleinbürgerung" der Gesellschaft statt, je mehr die industriellen und infrastrukturellen Ressourcen als anonyme Mega-Strukturen erscheinen. Das "selbständige Produktionsmittel" schrumpft bis auf die Haut der Individuen: Alle werden zu ihrem eigenen "Humankapital", und sei dies nur der nackte Körper. Es entsteht ein unmittelbares Verhältnis zwischen den atomisierten Personen und der Ökonomie des Werts, die sich nur noch simulativ durch Defizite und Finanzblasen reproduziert.

Je größer die Einkommens-Unterschiede zwischen Arm und Reich im Kontext dieser Finanzblasen-Ökonomie werden, desto mehr verschwinden die strukturellen Unterschiede der Klassen im Gefüge der kapitalistischen Reproduktion. Deshalb ist es sinnlos, wenn einige Ideologen der abstürzenden ehemals neuen Mittelklasse den früheren "Klassenkampf des Proletariats", das es nicht mehr gibt, für sich reklamieren wollen. Soziale Emanzipation verlangt heute die Überwindung der allen gemeinsamen gesellschaftlichen Form. Innerhalb des warenproduzierenden Systems gibt es nur noch die quantitative Differenz des abstrakten Reichtums, die zwar existentiell ist bis zur Frage des Überlebens, aber dennoch emanzipatorisch steril bleibt. Ein Bill Gates ist genauso kleinbürgerlich wie ein Elendsunternehmer, beide haben dieselbe Haltung zur Welt und verwenden dieselben Phrasen. Mit diesen Phrasen vom universellen Markt und von der "Selbstverwertung" auf den Lippen durchschreiten sie gemeinsam das Tor zur Barbarei.