Roswitha Scholz

DON’T TREAT EVERY "THING" ALIKE!

Einige vorläufige Bemerkungen zu den Papieren von J. Ulrich, C-P. Ortlieb und Blaha/Wallner.

1. Comte ist m.E. die Konsequenz aus Kant: Er denkt ihn zuende, indem er das "Ding an sich", bei Kant noch unabdingbar, endgültig suspendiert. Dabei hatte auch Kant selbst gegenüber "unterentwickelten Völkern" entwicklungshierarchische Vorstellungen. Kant wird, indem er in gewissem Sinn noch der Theologie verhaftet ist und er noch Fragen über die Gegenstände bzw. ihre Erkenntnis- und Bearbeitungsmöglichkeit überhaupt stellt, aus der Perspektive von Comte infantilisiert bzw. zumindest implizit feminisiert, gewissermaßen in Frauenkleider gesteckt. Auf einmal wird so noch die alte, drübersteherische Metaphysik zum Weib gemacht.

Derartige Verfahrensweisen gehören selbst ganz und gar in das Wert-Abspaltungs-Repertoire mit seinen Bedeutungsverschiebungen; der Gegner wird im Konkurrenzkampf zwangsfeminisiert. Dies deutet eben auf die Wert-Abspaltung als gesellschaftliches Formprinzip hin. Vergleichbare Aussagen findet man etwa auch bei deutschen Aufklärern, wenn etwa die Rede davon ist, dass die Franzosen mehr wie die Weiber seien (womöglich weil bloß platt unmittelbar der positivistischen Denke im Gegensatz zum groß-spekulativen Geist verhaftet!), oder wenn im Nationalsozialismus im Gegensatz zum männlichen soldatischen Menschen der Intellektuelle als verweichlicht und verweiblicht gilt. Als Grundprinzip zeigt sich hier die Wert-Abspaltung, indem sie ihren relationalen und flexiblen Charakter offenbart, derartige Zuschreibungen also der Inferiorsetzung des Gegners in einer sonst ganz und gar männerbündischen Veranstaltung dienen.

2. Dies tut allerdings der Tatsache keinen Abbruch, dass sowohl im Positivismus als auch in der (alten) Aufklärungs-Metaphysik und entsprechenden Theorien, die sich der Konstitutionsproblematik widmen, in verschiedensten Farben und Formen eine "Abspaltung des Weiblichen" zu beobachten ist. Eine "Abspaltung" der Metaphysik im Positivismus findet schon immer auf einer gemeinsamen Grundlage mit der Metaphysik statt; innerhalb des Gesamtzusammenhangs der Wert-Abspaltung, die das gesellschaftliche Formprinzip darstellt.

Die Konstitutionsproblematik bei Kant ist selbst ganz und gar androzentrisch und eurozentrisch verfasst. Er tummelt sich sozusagen bloß auf der Wert-Seite, der Subjekt-Seite. Dies gilt in einer anderen Ideentradition u.a. auch für Marx bis hinauf zu Postone. Anders als letztere, deren Konzepte weiterentwickelt werden müssen, gibt Kant jedoch mit seiner Untersuchung des Erkenntnisapparates nichts her für die wert-abspaltungskritische Aufdeckung der Konstitutionsproblematik, außer in negativer Hinsicht als Bestandteil des zu kritisierenden Gegenstands.

Zwar trägt Kant noch in gewisser Weise einer (allerdings bloß abstrakten) Materialität gegenüber der leeren Form Rechnung. Jedoch war ein Form-Inhalt-Dualismus seit jeher konstitutiv für das moderne Denken (inklusive der Metaphysik), innerhalb dessen sich Kant schon immer bewegt; insofern hat er höchstens eine Scharnierfunktion zwischen alter Metaphysik/alten Konstitutionsvorstellungen und positivistischer Selbstbehauptung, in der dann letztlich die Materialität in ihrem Eigengewicht ganz getilgt ist.

3. War schon bei der alten (Aufklärungs-)Metaphysik eine "Abspaltung des Weiblichen" gegeben und hat sie sich so als Konstitutionsproblematik absolut gesetzt und alles nicht in ihr Aufgehende herausgelassen, so setzt sich dies in einer "wertkritischen" reduktionistischen Annahme des Tauschs/des Werts als gesellschaftlichem Formprinzip fort, sofern dieser sich - gewissermaßen gottgleich - als omnipotenter Alleskönner geriert. Demgegenüber will die Wert-Abspaltungstheorie und -Kritik derartigen Ansätzen ihre Grenzen vor Augen führen; ganz abgesehen davon, dass nicht der Tausch konstitutiv ist, sondern das Unterwerfungsverhältnis unter die "abstrakte Arbeit", aus dem heraus überhaupt erst das Tauschverhältnis gesetzt wird, während dann noch einmal die Abspaltung ein Meta-Verhältnis darstellt.

Andernfalls besteht nämlich die Gefahr, dass die Gesellschafts- und Erkenntniskritik, sofern sie sich bloß auf den Wert beruft in seiner Logik der Null bzw. der Eins, diese noch in der Kritik wiederum restituiert. Dabei kann die Wert-Abspaltung nicht etwa dem Wert als ein noch viel universelleres, ja nun wahrhaft universelles Prinzip entgegengehalten werden. Mit einer Absolutheitsbehauptung wäre immer schon ihr eigenes Dementi gesetzt, indem sie nämlich ihrem eigenen Begriff nach "automatisch" gezwungen ist, auch dem, was nicht in ihr aufgeht, stattzugeben; so wagt sie es, "gegen sich selbst zu denken" (Adorno) und geht es ihr um ein neues Verhältnis zwischen Allgemeinem und Besonderem, Einzelnem, Kontingentem etc., ohne dabei Hierarchien aufzumachen und eine Seite der anderen gegenüber als Ursprung zu setzen. Ist doch auch mit der Behauptung der Allgemeinheit der Wert-Abspaltung eben als gesellschaftlichem Formprinzip gesetzt, dass im Denk-Mainstream der Moderne das Nicht-Identische suspendiert wird. Deshalb würde die Abspaltungskritik sich mit einer Absolutsetzung ihrer eigenen Behauptung entziehen.

Dies heißt übrigens auch die Konstituiertheit von "Sinnlichkeit" und "Natur" in den Blick zu nehmen, und diese nicht zu ontologisieren; auch das "Sinnliche", das insbesondere in der positivistischen Denkart ausgespart wurde und dem es Rechnung zu tragen gilt, ist immer schon gesellschaftlich verfasst. Sinnlichkeit kann nicht einfach als ontologisch gegeben interpretiert werden, auch wenn sie in manchen patriarchal-immanenten Konzepten dergestalt als Gegenstück zur Abstraktion gefasst wird (bis in wertkritische Zusammenhänge hinein). Zwar geht sie andererseits in dieser Konstitution keineswegs auf; dennoch ist es etwas anderes, ob ich meinen physischen Hunger mit Maden oder Maggi-Suppe stille (was beides gleich miserabel sein kann).

Folgt man einem derartigen Gedankengang nicht, besteht die Gefahr, dass ein Ableitungs- bzw. ein formales Zurechnungsverhältnis aufrechterhalten wird, d.h. die Logik der Null, die Logik der Eins könnten selbst durch ihre Kritik noch in den Versuch einer formelhaft-magischen Bannung münden. Es könnte dann nämlich auf der einen Seite der Wert, das Subjekt, die Null und/oder die Eins stehen und auf der anderen Seite die Körperlichkeit, die individuellen Eigenschaften und auch sonstiges, "wovon" abstrahiert wird. Es handelte sich dann fast schon um eine Gleichung: Es gibt gewissermaßen eine "feste" Seite (Wert, Subjekt usw.), die immer bleibt, und eine Pudding-Seite, die alles Mögliche sein kann, was in der ersten Seite nicht aufgeht bis hin zum Staat und zur androzentrischen Aufklärungs-Metaphysik selbst. Auf diese Weise kann die Eins sodann noch in der Kritik wie eine Eins dastehen, werden die Wert-Religion und der Wert-Gott als das anerkannt, was diese von sich selbst glauben machen wollen.

Wie schon angedeutet, muß ein Wissen um die Konstitutionsproblematik keineswegs heißen, dass dem Nicht-Identischen stattgegeben wird; das war bei Hegel nicht so, der es wieder ins Allgemeine hereingeholt hat, das war bei Marx nicht so, indem er im Grunde den (Mehr-)wert als die Eins behauptet hat, und auch bei Kant war das Ding an sich, obwohl zur Selbstkonstitution bitter nötig, in sich widersprüchlich; wesentlich war bei Kant die Form.

4. Die Kaprizierung auf die gewalttätige Null/Eins hat nun zwei Konsequenzen; einerseits das Gleichmachen von anderen, nicht-identischen Momenten, andererseits ihre Suspendierung aus einem komplexen Machtgeflecht im (welt-)gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang.

Zum ersten: Der Wert und das MWW sind bei der Kritik der gewalttätigen Null bzw. Eins gewissermaßen zu einem Abspaltungsharem gekommen. Vor dem Gesetz sind alle gleich, diese problematische Annahme wiederholt sich so noch in der Kritik der gewalttätigen Null/Eins tragischerweise. In der Tat: Vom RESULTAT her dürfte es aus der Sicht der Naturwissenschaften und der positivistischen Wissenschaften "gleich" sein, wenn Frauen, "Schwarzen" und "Wilden" ähnliche Eigenschaften zugeschrieben und diese somit abgespalten werden, um zur reinen Wissenschaft zu kommen und diese als solche zu erhalten. Indes, nur aus der Sicht des MWW sind alle Abspaltungskühe grau. Nun könnte man sagen, na ja, dann muß man halt zwischen verschiedenen Abspaltungsarten unterscheiden. Wenn man jedoch den erwähnten Wert-Abspaltungszugang in seiner Formelhaftigkeit wählt, bleibt man bloß auf der erkenntnistheoretischen Ebene; besonderen Qualitäten Rechnung zu tragen, heißt aber material zu werden und sich der Sache, dem (nicht verallgemeinerbaren) Inhalt zuzuwenden; ansonsten bleibt dieser Zugang selbst tautologisch und es besteht die Gefahr, dass er sich gleichzeitig in einem zoologischen Klassifikationsgebaren erschöpft. Gewalt tut in diesem Zusammenhang nicht nur das MWW sich selbst und dem Objekt schlechthin an, sondern auch (weißen) Frauen und "anderen Anderen".

Andererseits werden jedoch bei diesem tautologischen Zugang auch andere (Nicht-)Subjektivitäten, (Nicht-) Ichs aus einer komplexen Machtdynamik entlassen, indem im Grunde von einem einfachen allgemeinen Repressionsmodell ausgegangen wird, auch wenn das (männliche) Subjekt selbst von seiner Körperlichkeit abstrahieren muß. Dem MWW kommt so vermeintlich die Rolle des alleinigen Akteurs zu. Dagegen sind etwa "Schwarze" für die weiße Frau ebenso inferiore "Andere", und was ist wiederum mit "schwarzen" Männern, die ihre Frauen ebenso als "Andere" sehen? Es ist hier eine mehr systemische Herangehensweise gefragt (wenngleich auch nicht im Luhmannschen Sinne), die nicht mehr unumwunden bloß von der gewalttätigen Null bzw. Eins als mehr oder weniger abstraktem Tätersubjekt ausgeht, ohne indes auf den Begriff von ihm zu verzichten und ohne ihn umgekehrt genauso schlecht-abstrakt in den "Differenzen" zu ersäufen. Die Spannung zwischen Begriff und Differenzierung muß ausgehalten werden, ohne diese Spannung wiederum zu hypostasieren.

In der Wert-Abspaltungstheorie ist der Begriff der "Abspaltung" klar umrissen.

Sie taucht auf der kulturell-symbolischen Ebene der Diskurse auf, sie umfasst die materielle Dimension, die Zuständigkeit von Frauen für die Reproduktionstätigkeiten, und sie zeigt sich ferner im Bereich Sozialpsychologie (indem sich das männliche Kind von der Mutter abgrenzen muß, um eine männliche Identität zu erlangen). Dabei ist die Wert-Abspaltung nicht einfach in spezifischen Sphären zu finden, sondern sie geht durch alle Bereiche und Ebenen der Gesellschaft, wie sie auch als gesellschaftlicher Prozeß aufzufassen ist. In der Postmoderne, in der eine Verwilderung des Patriarchats stattfindet, trägt sie ein anderes Gesicht als in der Moderne. Da die Abspaltungstheorie sich nicht (erkenntnistheoretisch) als Absolutes behaupten kann, ohne sich selbst zu dementieren, ist sie auf Gedeih und Verderb dazu gezwungen, auch dem stattzugeben, was gerade nicht in ihr aufgeht. So behauptet sie sich als Reflexion eines Grundwiderspruchs, die in ihrer augenblicklichen Formulierung in sich wieder zusammenfällt und gerade deswegen und nur deswegen die sich schon immer relativierende Begrifflichkeit eines Grundverhältnisses darstellen kann.

Die zutreffende Erkenntnis einer gewalttätigen Null/Eins, die (wie auch immer) abspaltet, ist so erst einmal bloß der erste Schritt zu einer wesentlich komplexer gefassten Wert-Abspaltungstheorie, die - ceterum censeo - aufzeigen will, dass diese Eins gerade in ihrer durchaus faktische Ergebnisse in der gesellschaftlichen Realität zeitigenden "Einsheit" eben nicht das ist, was sie von sich aus zu sein glaubt. Die gewalttätige Null/Eins ist und ist zugleich nicht, jedenfalls nicht in ihrem bloß negativ gewendeten Selbstverständnis.

5. Dabei wähnt sich die Wert-Abspaltungstheorie, wenn sie sich selbst relativiert, übrigens nicht im geringsten über das warenproduzierende Patriarchat hinaus. Im Rekurs auf das Einzelne, Besondere, Differente stellt sie keineswegs eine "Keimform" des Anderen dar. Sie weiß um ihre Historizität und Beschränktheit und kann bloß hoffen, in ihrer Formulierung "die Verhältnisse zum Tanzen" zu bringen, im Wissen, dass noch ein weiter und steiniger Weg aus den patriarchal-kapitalistischen Verhältnissen vor ihr liegt, an dessen Ende sie hoffentlich selber überflüssig werden kann. Das Nicht-Identische ist bei ihr keineswegs etwas über die gegebenen Verhältnisse Hinausreichendes, sondern ihm Rechnung zu tragen, heißt in erster Linie, das schlecht Gegebene in seiner Existenz weit besser erfassen zu können als ein identitätslogischer Reduktionismus.

In diesem Zusammenhang kann ich auch nicht sehen, dass es eine tragende Tendenz des Kapitalismus heute sein soll, "dass das strukturell männliche Aufklärungssubjekt neuerdings verstärkt bestrebt ist, seine >sanften<, >natürlichen< und damit eher >weiblichen< Eigenschaften für den Verwertungsprozeß fruchtbar zu machen, während die in der Krise sich gerade herausbildende >DienstbotInnen-Gesellschaft< (Frank Rentschler) gleichzeitig im Begriff ist, die >weibliche Natur< wieder auf den ihr vermeintlich alleine und >natürlicherweise< zukommenden Platz zu verweisen". Es ist viel komplizierter: Männer werden in prekären Beschäftigungsverhältnissen zwangsfeminisiert, hausfrauisiert; sie haben nicht mehr länger die Rolle des Familienernährers inne. Frauen hingegen müssen bei Strafe des Untergangs zu Konkurrenzsubjekten werden, wobei sie für Leben und Überleben gleichzeitig zuständig sind, auch wenn etwa in Managementkonzepten in der Tat gleichzeitig "weibliche Werte" und "Anteile" auch bei Männern für den Verwertungsprozeß fruchtbar gemacht werden sollen. Gemessen an den alten, modernen Subjektvorstellungen haben wir heute ein postmodernes "Ein-Geschlecht-Modell" vor uns: Frauen sind Männer (Konkurrenzsubjekte), bloß anders (eben noch für die Reproduktion zuständig). Der heutige Kapitalismus kann es sich gar nicht mehr leisten, Frauen wie in der Vergangenheit auf ihre (zugeschriebene) "natürliche" Rolle zu reduzieren, auch wenn Frauen heute wieder - herübergekommen aus der klassischen Moderne - im Gegensatz zu Männern bevorzugt Dienstbotinnen- und Pflegetätigkeiten zugeführt werden. Deswegen haben wir ja auch eine Wert-Abspaltungsvergesellschaftung, wenngleich im Zerfall. Es geraten nun beide Seiten des Verhältnisses in die Krise - sowohl der Wert als auch die mit ihm dialektisch vermittelte Abspaltung, ohne dass beide deswegen "weg" sind.

6. Auch sehe ich nicht, dass in der Krise heute Religion als das gewissermaßen "unerforschliche Weibliche" zutage tritt (sofern ich das überhaupt richtig verstanden habe), als die schon immer andere Seite der "instrumentellen Vernunft, die sich heute ad absurdum führt". Wahrscheinlicher scheint es mir zu sein, dass sich in der Religion heute nicht etwa gewissermaßen das Chaos (wieder?) äußert; stattdessen tritt Religion heute vielmehr regressiv als Ordnungsmacherin auf, aber eben nicht mehr als einheitlich-universalistische, sondern als fragmentiert-gruppen-pluralistische und eben auch individualisierte, wie es dem "Absturz Gottes in den Abgrund seines Begriffs" im Verfall des Kapitalismus entspricht.

Zutreffender scheint mir hier die Einschätzung von Jörg in seinem Buch "Individualität als politische Religion" zu sein, wenn er schreibt, dass Jörg Bopp die "...>Mischung aus technischer Dynamik und pseudoreligiöser Gläubigkeit< als >eine der größten Gefahren, vor denen unsere Zivilisation heute steht< (bezeichnet). Bopp knüpft mit dieser Befürchtung an die Bestimmung Detlef Clausens an, der den modernen Antisemitismus ins Zentrum seiner Überlegungen stellt und konstatiert, dass sich hier, wie in allen Alltagsreligionen >verkürzte Wahrnehmungen (...) zu einem realitätsverzerrenden System (verfestigen), das nicht allein von Randgruppen, sondern von der Mehrheit der Gesellschaft geteilt werden kann.< (...) In ihnen findet sich traditionelle Religion überwunden, die grundsätzlich religiöse Weltwahrnehmung aber bleibt erhalten und verbindet sich >mit konformistischen Bewusstseinselementen, die den Individuen den Schmerz der Asozialität ersparen< (...) Alltagsreligiös kompensieren die Subjekte ihre Angst vor den Folgen der konsequenten gesellschaftlichen Modernisierung und den ihr eigenen Individualisierung- und Desintegrationsprozessen" (S. 134).

Wer hier zuvörderst ums Eck biegt, ist Carl Schmitt (wie ja gerade auch Jörg im Hinblick auf die individualisierten Subjekte heute gezeigt hat), ist der Souverän, der den Ausnahmezustand dezisionistisch richten soll, auch wenn dies heute nicht mehr in derselben Weise möglich ist wie noch zu Zeiten des Nationalsozialismus. Dieser "Ausnahmezustand" wird auf der Ebene der einzelnen postmodernen Individuen konstituiert, aber im "molekularen Bürgerkrieg", einem Begriff von Enzensberger, den ich auf den (scheinbar) privaten Beziehungskrieg zwischen den postmodernen Individuen (nicht nur im Hinblick auf die Geschlechterproblematik) übertrage, und der heute überall tobt. Darüber hinaus freilich auch auf den verschiedensten (welt-)gesellschaftlichen Ebenen in den vielfältigen Bürgerkriegen; aber auch wenn rechtsfreie Räume, Lager usw. entstehen und vom Souverän (etwa den USA) rechtsstaatliche Erwägungen fahren gelassen werden, um wieder "Ordnung" herzustellen. Der Souverän, der mit dem Wert-Mann-Gott korrespondiert, wird hier noch einmal im verfallenden Kapitalismus angerufen, obwohl bzw. gerade weil er sich heute nicht mehr wie weiland konsolidieren kann.

Wenn der Kapitalismus im Zuge des "Kollaps der Modernisierung" aus dem Ruder läuft und ins Fragmentarisch-Barbarische zu driften droht, entsteht erneut das Bedürfnis, dieser historisch neuen Form des Chaos schroff ordnungsmachend zu begegnen, auch wenn dies nicht mehr in alter Manier gelingen kann. Diese neue Form des Chaos und diese neue Form der Ordnungsmacherei bedingen und konstituieren sich so geradezu wechselseitig; sie stellen einander in einer spezifischen Form im verfallenden Kapitalismus gegenseitig her.

7. Möglicherweise kann für die Moderne gesagt werden, dass der gewissermaßen säkularisierte Wert-Gott den genuin-religiösen Gott der Vormodere, aus der er eigentlich entstammt, nun zur "Frau" macht. War letzterer vorher das Gesetz, so wird er in der Moderne in die Irrationalität abgedrängt und gilt er nun selbst als chaotisch-inferior. Das, was wir heute an Religion beobachten, hat m. E. jedoch weniger mit dem lodernden Chaos zu tun, sondern es ist vielmehr in seiner Folge die paradoxe synthetische Auferstehung Gottes, nach dem Ende des Wert-Mann-Gottes, der seine Vorform selbst inferior gesetzt hatte, die nun als großer Ordnungsmacher (wenngleich auch faktisch in zersplittert-pluralistischer Form) aus dem Grab hergeholt wird, um Einheit, Ordnung, Sinn (wieder?) herzustellen, weil in der Tat die Wert-Abspaltung als Grundprinzip und damit die Subjekt-Objekt-Trennung nicht überwunden ist. Mit der Krise der Wert-Abspaltungs-Vergesellschaftung wird so heute der in der Moderne zum Weib gemachte traditionell verstandene Patriarchen-Gott mit Bart und Halbglatze in seiner ganzen Obsoletheit angerufen, die dadurch umso deutlicher erscheint. Und so verwundert es auch nicht, dass der Apostel Paulus als Revolutionär neuerdings wiederentdeckt und ein "theological turn postmoderner Theorie" (Doris Akrap) konstatiert wird.

Weder das postmoderne "Ein-Geschlecht-Modell", in das Konkurrenz und Dienen gleichermaßen eingeschrieben sind, noch das Phänomen einer potentiell barbarischen "(Alltags-)religion" haben etwas mit sanfter Weiblichkeit zu tun, vielmehr ist beides als Symptom einer Verwilderung des modernen warenproduzierenden Patriarchats zu deuten. Dabei fragt es sich, an welche Inkonsistenzen heute angeknüpft werden kann, wenn die Inkonsistenz sozusagen schon zum wesentlichen Konstituens des heutigen Gesellschaftszustands, des warenproduzierenden Patriarchats im Verfall und in der Verwilderung, geworden ist. Anders formuliert, es ergibt sich die paradoxe Fragestellung, an welchen Inkonsistenzen eine bereits obsolet gewordene Wert-Abspaltungsvergesellschaftung, die dennoch in aller Härte noch vorhanden ist, über sich selbst hinausweisen könnte. Momentan sehe ich nicht, dass hierzu konkrete Angaben möglich wären.

M.E. ist es heute jedoch möglich, zumindest diesen Zustand zu analysieren und dabei einer notwendigen Differenzierung zwischen Begriff und Differenzen in der genannten Komplexität Rechnung zu tragen und die entsprechende Spannung auszuhalten, ohne diese Vermitteltheit wiederum zu hypostasieren; in dem Wissen, dass dies nur ein Durchgangsstadium zu ihrer Abschaffung ist.

Dies und nicht ein EINFACHES Wissen um gesellschaftliche "Inkonsistenzen" ist heute angesagt. Die Frage danach kann nur gestellt werden, wenn sie nicht dazu führt, wieder auf den gewalttätig strengen Begriff, um der Ordnung und Sicherheit willen, zurückzukommen. Dies heißt aber auch, über die EINFACHE Bestimmung der gewalttätigen Null/Eins mit ihren EINFACHEN Inkonsistenzen hinauszugehen, um nicht einer falschen und heute ohnehin unmöglichen Auferstehung Gottes in der barbarischen Zersplitterung in Form eines Wert-Begriff-Gottes ungewollt zuzuarbeiten.