erschienen im Neuen Deutschland
am 20.10.2006

Robert Kurz

DAS ENDE DER ARBEITERARISTOKRATIE

Bis vor wenigen Jahren sparte der Krisenprozess der Globalisierung bestimmte privilegierte Schichten der Lohnarbeit aus. Die „neue Unsicherheit“ galt im wesentlichen als das Problem von Unqualifizierten und Randgruppen, die zu Opfern der Rationalisierung wurden. In den Infrastruktur- und Verwaltungsbereichen blieben zentrale Sektoren der akademischen Mittelklasse ebenso unangetastet wie im Bank- und Versicherungswesen. Dasselbe Bild bot sich in der Industrie. Hier waren es die so genannten Kernbelegschaften besonders in den Paradesektoren der Automobil-, Elektronik- und Rüstungskonzerne, an denen die strukturelle Massenarbeitslosigkeit vorbeiging und die sich erhaben wähnten über das Schicksal der Randbelegschaften und ZeitarbeiterInnen, der Scheinselbständigen, Putzkolonnen und prekarisierten Beschäftigten in den Outsourcing-Unternehmen. Der von Engels und Lenin geprägte Begriff der „Arbeiteraristokratie“ schien sich unter neuen Bedingungen und in veränderter Zusammensetzung zu bewähren. Die Deutschland-AG, deren Wurzel auf die „Volksgemeinschaft“ des Nationalsozialismus zurückgeht, sollte wenigstens die industriellen Kernbelegschaften zentraler Konzerne unbeschädigt in die Globalisierung mitnehmen.

Inzwischen bläst ein anderer Wind. Seit der Jahrhundertwende erfasst die Krise auch die bislang privilegierten Schichten. Die Infrastrukturen werden ausgedünnt, die Akademiker-Arbeitslosigkeit steigt und selbst die Ärzte als ehemalige „Halbgötter in Weiß“ erliegen der Prekarisierung. Investment-Banker fliegen reihenweise auf die Straße und die Angestellten-Kultur bei den Versicherungsriesen zerbröselt. Der Absturz der neuen Mittelklasse geht einher mit dem Absturz der neuen Arbeiteraristokratie. Die Auflösung der Deutschland-AG ist in vollem Gange. Die Kernbelegschaften werden aufgespalten, verkauft und demobilisiert. Siemens hat sich unter der Kleinfeld-Administration in hohem Tempo selber zerlegt und schickt ein Segment nach dem anderen ins „Sterbezimmer“; das Ende der an BenQ verscherbelten Handy-Sparte ist nur ein Beispiel. Daimler-Chrysler und die NS-Gründung Volkswagen, das einstige Paradigma der Deutschland-AG mit Staats- und Gewerkschaftsbeteiligung, bauen die Kernbelegschaften rigoros ab und Werksschließungen stehen allen Verzögerungsversuchen zum Trotz auf der Agenda. Dem Traditionskonzern MAN droht die Zerschlagung, seit VW ein Auge auf die LKW-Produktion geworfen hat.

Und jetzt geschieht das vermeintlich Undenkbare: Die bislang sakrosankte Airbus-Industrie des deutsch-französischen EADS-Konzerns hat eine harte Sanierung angekündigt, in der sich eine Vernichtungskonkurrenz zwischen den Standorten Toulouse und Hamburg anbahnt. Damit zeichnet sich ab, dass im Zuge der transnationalen Ausrichtung auf den zentralen US-Rüstungsmarkt die Politik der Aufspaltung und Stillegung auch auf die High-Tech-Schmieden der Rüstungsindustrie im Flugzeugbau übergreifen wird. Kein Stein bleibt auf dem anderen. Schon ertönt der Notruf nach deutscher Staatsbeteiligung bei EADS, nachdem Daimler-Chrysler seinen Ausstieg aus dem Aktionärspakt angekündigt hat. Aber das Rad wird sich nicht zurückdrehen lassen. Mit der Sekurität der Kernbelegschaften bei den zentralen Weltmarktkonzernen ist es aus. Das Ende der Arbeiteraristokratie wirft die Frage auf, ob die Gewerkschaften sich der zunehmend verallgemeinerten Prekarisierung stellen können oder ob es bloß zu nostalgischen Rückzugsgefechten mit Realitätsverweigerung kommt.