erschienen in der Wochenzeitung „Freitag“
am 20.10.2006

Robert Kurz

AZUBIS ALS AUSLAUFMODELL

Die Lehrstellenmisere verweist auf die Krise der Schul- und Berufsbildung

Die Lage am Lehrstellenmarkt ist so schlecht wie nie zuvor. Zwischen Angebot und Nachfrage klafft eine nicht mehr zu schließende Lücke, wie es die jüngste Lehrstellenbilanz der Bundesagentur (BA) allen Beschönigungsversuchen zum Trotz an den Tag brachte. Von der auf 763.000 gestiegenen Zahl der Bewerber sind zu Beginn des Ausbildungsjahrs 50.000 unvermittelt geblieben. Das ist aber nur die „Spitze des Eisbergs“, so das IG-Metall-Vorstandsmitglied Regina Görner, denn eine weit größere Zahl werde von der Arbeitsverwaltung durch billige Qualifizierungsmaßnahmen „in unsinnige Warteschleifen“ abgedrängt. Dabei handelt es sich nicht um einen vorübergehenden Einbruch, sondern um einen Langzeit-Trend. Deshalb hilft auch die übliche demographische Entschuldigung durch den Hinweis auf „geburtenstarke Jahrgänge“ nicht weiter. Tatsächlich befinden sich unter den Lehrstellenbewerbern erstmals mehr „Altfälle“ als diesjährige Schulabgänger. Und dieser Überhang wächst von Jahr zu Jahr.

Von der Nachfrageseite her verweist die Lehrstellenmisere auf die Zersetzung des dreigliedrigen Schulsystems und der damit verbundenen Berufsperspektiven. Die alten Regelgleichungen Hauptschule = industrielle und handwerkliche Lehre, Realschule = mittlere Büroausbildung und Gymnasium = Studium für akademische Berufe gehen nicht mehr auf. Das hat viel damit zu tun, dass entgegen allen politischen Sonntagsreden die staatlichen Bildungsausgaben rigoros zusammengestrichen werden. Die Krise des Arbeitsmarkts verschränkt sich zunehmend mit der Krise der Staatsfinanzen und in der Folge des gesamten Bildungssystems. Einerseits wird die Hauptschule systematisch kaputtgespart und entlässt immer mehr Jugendliche ohne qualifizierenden Abschluss, die keine Chance auf eine Berufsausbildung haben. Andererseits hat die strukturelle Arbeitslosigkeit inzwischen nicht nur die mittleren Sektoren von Verwaltung, Handel, Banken und Versicherungen erreicht, sondern auch viele akademische Berufe. Da teilweise sogar akademische Abschlüsse nur in die Perspektivlosigkeit der unter- und unbezahlten „Generation Praktikum“ führen, ist die Zahl der Lehrstellenbewerber mit Abitur und Fachhochschulreife allein in diesem Jahr um 9 Prozent auf mehr als 100.000 gestiegen. Die finanzielle Belastung des Studiums tut ein übriges: Am stärksten drängen die Abiturienten in den Bundesländern auf den Lehrstellenmarkt, die bereits Studiengebühren eingeführt haben. So bleiben auch Hauptschüler mit qualifizierendem Abschluss auf der Strecke, weil sie jetzt mit der Ausschuss-Masse von Fachoberschulen und Gymnasien konkurrieren müssen.

Dramatisch verschärft wird die Lage durch die gleichzeitig fortschreitende Verminderung des Angebots. Wurden 1999 noch 631.000 Ausbildungsverträge abgeschlossen, so waren es 2005 nur noch 550.000, und 2006 werden es weniger als 500.000 sein. Die Berufsausbildung gehört zu den Kostenfaktoren, die unter dem Druck der globalen Krisenkonkurrenz als Ballast abgeworfen werden. Bei etlichen großen Konzernen ist es die mangels Realakkumulation zunehmende Finanzmarkt-Orientierung, die zusammen mit der Güterproduktion auch die praktische Ausbildung zweitrangig und zur Manövriermasse der Kostensenkungspolitik werden lässt. Und viele kleine Unternehmen stornieren Lehrstellen unter dem Druck des Überlebenskampfes am Rande des Bankrotts. Die Krise des dreigliedrigen Schulsystems ist so zugleich die Krise des dualen Berufsbildungssystems: An den Berufsschulen hängt eine wachsende Zahl von arbeits- und lehrstellenlosen Hauptschulabgängern herum. Die nach einer kürzlich veröffentlichten Studie auf derzeit 8 Prozent der Bevölkerung geschätzte Armuts- und Unterschicht in der BRD wird unter diesen Bedingungen in den kommenden Jahren steil ansteigen; und sie wird sich bei weiterem Lehrstellenabbau nicht nur aus dem „Bildungsproletariat“ rekrutieren, sondern auch aus abgedrängten Jugendlichen mit mittlerer Qualifikation. Der Kapitalismus entlässt seine Kinder.