erschienen im Neuen Deutschland
am 17.11.2006

Robert Kurz

WENN DAS LICHT AUSGEHT

Anfang November 2006 saßen in ganz Europa 22 Millionen Menschen plötzlich im Dunkeln. In einer Kettenreaktion brachen große Teile des kontinentalen Stromnetzes zusammen. Menschen mussten aus Aufzügen befreit werden, Züge blieben auf offener Strecke stehen. Das ist kein Einzelfall. Ein Jahr zuvor stürzten unter Kälteeinwirkung im Münsterland mehr als 80 Strommasten um; eine Viertelmillion Menschen mussten bei beißender Kälte tagelang ohne Heizung ausharren. 2003 erlebten die USA den bisher größten Blackout; 50 Millionen Bürger waren betroffen. Im selben Jahr fiel auch in Italien flächendeckend der Strom aus. Höhere Gewalt? Mitnichten. Die Gewalt, die sich hier geltend macht, ist eine ökonomische. Die Privatisierung der Infrastrukturen und die Liberalisierung der sogenannten Energiemärkte hat zum Gegenteil dessen geführt, was versprochen wurde, nämlich „höhere Effizienz“ und „niedrigere Kosten“. Die Strompreise steigen rasant, während gleichzeitig die Versorgungsunsicherheit wächst. Nach Einschätzung der Internationalen Energieagentur (IEA) war der jüngste große Stromausfall nur ein Vorgeschmack. „Wir werden in den kommenden Jahren von Krise zu Krise schlittern“, so die IEA in ihrem Weltenergieausblick 2006.

Die Ursachen liegen auf der Hand. In der Vergangenheit waren die öffentlichen Stromversorger regional ausgerichtet; Energie floss meist über kurze Distanzen. Aus der Privatisierung dagegen sind riesige Oligopole wie E.On hervorgegangen, die sich nicht nur ein Preisdiktat erlauben können, sondern kontinentale Verbundsysteme kontrollieren. Diese werden permanent hochgradig ausgelastet und sind daher störanfällig. Nach einer Studie des Verbands der Elektrotechnik (VDE) ist die Qualität deutlich geringer geworden. Kein Wunder: Seit den 80er Jahren sind laut VDE die Realinvestitionen der Energieversorger um 40 Prozent gesunken. Je weitgespannter die Netze wurden, desto weniger Geldkapital wurde in ihren realen Ausbau gesteckt. Und wenn investiert wird, dann zum Beispiel in Strommasten aus Billigstahl, der zur Sprödigkeit neigt. Kostensenkung über alles. Lieber investieren die Oligopole in neue Übernahmen auf dem Strommarkt, weil dabei höhere Renditen winken. Schon in den 80er Jahren hatte der Direktor der privatisierten englischen Energieunternehmen kaltschnäuzig erklärt: „Unsere Aufgabe ist es nicht, England mit Strom zu versorgen, sondern Gewinn für unsere Aktionäre zu erwirtschaften“.

Dasselbe Bild bietet sich bei der Bahn: Die Preise steigen unaufhaltsam, „unrentable“ Strecken werden stillgelegt, Unsicherheit bestimmt den Alltag von Reisenden wie überlasteten Angestellten. Die Bahn lässt ihr Schienennetz verlottern wie die Stromkonzerne ihre Hochspannungsleitungen, um teure Realinvestitionen zu vermeiden. Hauptsache, der Börsengang klappt endlich, damit man sich in den Unternehmensmarkt der Übernahmeschlachten einspeisen kann. Ähnliches ist in der einen oder anderen Weise bei allen privatisierten Infrastrukturen zu erwarten oder schon im Gang, von den Kliniken bis zum Bildungswesen. Die gewaltsame Verwandlung von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in Profitunternehmen bildet einen wesentlichen Aspekt des globalen Krisenprozesses. Der kapitalistische Gegensatz von konkret-stofflichem Inhalt und abstrakter Geldlogik treibt gerade in diesem Bereich auf eine Zerreißprobe zu. Wahrscheinlich wird der höchste Grad an betriebswirtschaftlicher „Effizienz“ erreicht, wenn praktisch gar nichts mehr funktioniert. Dann muss der Letzte noch nicht einmal mehr das Licht ausmachen.