erschienen im Neuen Deutschland
am 02.01.2009

Robert Kurz

DEFLATION UND INFLATION

Schien noch vor kurzer Zeit die Inflation außer Kontrolle zu geraten, so gilt dieses Gespenst inzwischen schon wieder als gebannt, obwohl die Rate für 2008 mit 2,6 Prozent immer noch die höchste seit 14 Jahren ist. Dafür droht jetzt umgekehrt die Deflation, das Sinken der Preise aufgrund eines Einbruchs der Absatzzahlen. Inflations- und Deflationsängste lösen sich in immer kürzeren Perioden ab. Das Steigen oder Fallen der Preise ist dabei aber nur ein äußeres Merkmal. Eine Preisbewegung in beide Richtungen wird auch durch das ganz gewöhnliche Schwanken im Verhältnis von Angebot und Nachfrage hervorgerufen. Die Begriffe von Inflation und Deflation unterscheiden sich davon in doppelter Hinsicht. Zum einen handelt es sich nicht um eine zeitversetzte Preisänderung einmal in dieser und dann in jener Branche, sondern um eine simultane gesamtgesellschaftliche Entwicklung. Zum andern geht die Dimension der Ausschläge nach oben oder unten weit über eine bloße Verschiebung der Marktlage hinaus.

In Wahrheit sind Deflation und Inflation nur verschiedene Erscheinungsformen einer Entwertung des Gesamtkapitals bzw. seiner Aggregatzustände. So wurde seit Beginn der 3. industriellen Revolution weltweit die Arbeitskraft als Kapitalbestandteil entwertet, was zu einer fortschreitenden Deflation der Reallöhne führte. Nur vom betriebswirtschaftlich bornierten Standpunkt aus kann das als Vorteil für die Kapitalverwertung erscheinen. Für das Gesamtsystem dagegen ist der Lohnverfall fatal, weil damit Kaufkraft eliminiert wird. Die Simulation von Kaufkraft durch Finanzblasen parallel zur Deflation der Reallöhne führte andererseits zu einer Inflation von Vermögenswerten und Kreditansprüchen ohne jede reale Deckung. Die Konsequenz konnte nur ein deflationärer Entwertungsschock dieses fiktiven Geldkapitals sein, wobei schon Billionen von Dollars und Euros verbrannt wurden. Bei weiter steigender Produktivität bringt die Deflation der Lohn- und Vermögenseinkommen enorme globale Überkapazitäten der Warenproduktion zum Vorschein, die sich schon länger abgezeichnet hatten. Das Resultat ist die rasch um sich greifende Entwertung von Sachkapital, also einerseits von Produktionskapital (Stilllegung von Maschinen, Werksschließungen) und andererseits von Warenkapital (Abschreibung und Vernichtung unverkäuflicher Produkte). Drastische Verbilligung, halsbrecherische Rabatte und Kundenkredite zum Nulltarif als Deflation der Warenpreise (Beispiel Autoindustrie) sind nur zeitweilige Versuche, diese Art der Entwertung zu verzögern.

Indem nun die Staaten dazu übergehen, direkt die Notenpresse anzuwerfen, um das deflationäre Desaster aufzufangen, bereiten sie einen neuen großen Inflationsschub vor, der das Geld überhaupt als allgemeines kapitalistisches „Lebensmittel“ radikal entwertet. Die tiefere Ursache besteht darin, dass die 3. industrielle Revolution die „Arbeitssubstanz“ aller Aggregatzustände des „Werts“ in einem nie dagewesenen Maße ausgehöhlt hat. Deshalb steuert das Weltkapital auf eine Situation zu, in der sich nicht mehr Inflation und Deflation ablösen, sondern alle Wertformen gleichermaßen und gleichzeitig entwertet werden: Arbeitskraft, Produktionskapital, Warenkapital, Kreditkapital und Geld als übergreifendes Medium. Die Menschheit steht vor der Frage, ob sie mangels Verwertungsmöglichkeit freiwillig aufhört zu leben oder ob sie Schluss macht mit der „auf dem Wert beruhenden Produktionsweise“ (Marx).