erschienen in portugiesischer Sprache
in der Folha de São Paulo
am 29.03.2009

Robert Kurz

ORGANISIERTE RATLOSIGKEIT

Zehn unlösbare Probleme für den G20-Gipfel

  1. In den Zeiten der Finanzblasen-Ökonomie und der globalen Defizitkonjunktur galten die internationalen Finanzinstitutionen fast schon als überflüssig, insbesondere der internationale Währungsfonds (IMF). Geld schien es im Überfluss zu geben, wenn man nur das Spiel mitspielen konnte. Jetzt ist das Spiel aus. Unter dem Eindruck der verheerenden globalen Finanzkrise will der G20-Gipfel in London die internationale Finanzarchitektur runderneuern und insbesondere den IMF wiederbeleben. Aber dafür ist es eigentlich schon zu spät. Woher soll der IMF die Mittel nehmen? In einer Situation der „organisierten Ratlosigkeit“ droht guter Rat sündhaft teuer zu werden.
  2. Gerangelt wird schon im Vorfeld um die institutionellen Kompetenzen. China schlägt vor, dass der IMF künftig das internationale Finanzsystem kontrollieren soll, während der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) in Basel die Rolle einer Setzung von neuen Regeln zugedacht ist. Das ruft aber den Widerstand der USA hervor, die sich keine Regeln vorschreiben lassen wollen. Außerdem bezieht sich die Verteilung der institutionellen Macht auf eine Zukunft, die vielleicht gar nicht mehr kommen wird. Wenn es gewissermaßen nichts mehr zu kontrollieren gibt, geht es nur noch um Krisenverwaltung. Und dafür nützt das Feilschen um zukünftige Kompetenzen herzlich wenig.
  3. In der aktuellen Notlage drohen von Island bis Rumänien zahlreiche neue „failed states“ in Erscheinung zu treten, deren Staatsbankrott abgewendet werden müsste. Der IMF soll diesen Ländern bei der Kreditvergabe keine diskriminierenden Auflagen mehr machen. Trotzdem ist Hilfe vom IMF auf den Finanzmärkten mit einem Stigma verbunden, das die Lage eher noch verschlechtert. Deshalb will z.B. Südkorea keine Mittel in Anspruch nehmen, obwohl es Bedarf hat. Das ist eine Zwickmühle.
  4. Um die Krise zu bewältigen, will der IMF ein neues Kreditprogramm erfinden, das als „Flexible Credit Line“ (FCL) bezeichnet wird. Der schöne Name sagt aber nichts darüber aus, mit welchem Geld das Programm gefüllt werden soll und wofür es im einzelnen verwendet wird. Es gibt kein Füllhorn mehr, das man ausschütten könnte. Die zentralen Währungsräume haben schon mit ihrer eigenen Krise zu kämpfen.
  5. Alle Kreditprogramme des IMF können mittelfristig nur auf Dollarbasis ausgegeben werden. Aber gerade in den USA wird jetzt die Notenpresse angeworfen. Die Verschuldung steigt in diesem Jahr auf mindestens 15 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Dieselbe Tendenz deutet sich auch in Japan und in der EU an. Die darin lauernde inflationäre Potenz, die ohnehin schon eine globale ist, kann sich durch zusätzliche IMF-Kredite nur verstärken.
  6. Länder wie China und Indien verlangen eine höhere Quote bei den Sonderziehungsrechten des IMF; China hat gegenwärtig bloß eine Quote von 3,7 Prozent. Es wird gesagt, dass dies nicht mehr dem wirtschaftlichen Gewicht des Landes entspricht. Aber eine höhere Quote für China müsste zu Lasten anderer Länder gehen, etwa der Schweiz, die sich dagegen natürlich sträuben. Außerdem werden sich China und Indien im Zuge der Weltwirtschaftskrise schon bald von Schwergewichten in Leichtgewichte verwandeln. Die Neuverteilung der Quoten ist auf die Vergangenheit bezogen.
  7. Auf dem G20-Gipfel wird die Ablösung des Dollar als Weltgeld ein Thema sein, natürlich zum Ärger der USA. Der russische Ministerpräsident Putin will die Position des Dollar „untergraben“. Er ist aber ein schlechter Maulwurf, weil der Rubel selber abstürzt. Auch Yen und Euro können den Dollar nicht ersetzen. Alle zentralen Währungen leiden unter derselben Finanzkrise. Es handelt sich um eine Krise des Geldes überhaupt als „allgemeines Äquivalent“, nicht um eine bloße Schwäche der Leitwährung in der gewöhnlichen Konkurrenz der nationalen Geldnamen.
  8. China steht den Absichten Putins mit Recht skeptisch gegenüber. Aber die chinesische Überlegung, den Dollar als Leitwährung ausgerechnet durch die Sonderziehungsrechte des IMF zu ersetzen, ist um keinen Deut besser. Dieses Kunstgeld hat überhaupt keine ökonomische Basis und muss als internationale Reservewährung versagen, weil es nur einen synthetischen Überbau des wirklichen Geldes aller beteiligten Nationalstaaten darstellt. Das berühmte „Vertrauen“ der Märkte ist gerade mit diesem Surrogat nicht zu gewinnen.
  9. Auf dem Treffen der G20 wird mit Sicherheit rituell die konstruktive internationale Zusammenarbeit in der Krise beschworen. Aber je lauter alle vor „protektionistischen Reflexen“ warnen, desto mehr bereiten sie praktisch im eigenen Haus protektionistische Maßnahmen vor. Das gilt gerade für China und die USA, die sich bei den Warnungen besonders hervortun. Jeder ist sich selbst der Nächste, obwohl alle wissen, dass die Globalisierung auf dem erreichten ökonomischen Niveau nur um den Preis viel schlimmerer Kriseneinbrüche zurückgedreht werden kann.
  10. Nicht nur die Widersprüche untereinander machen ratlos, sondern auch die inneren Widersprüche der beteiligten Staaten. Überall kämpfen die Parteien um gleichermaßen riskante Konzepte. Der Sturz der ungarischen und der tschechischen Regierung wirft die Frage auf, ob die in London zusammentretende Ministerrunde noch generell für ihre Länder sprechen kann und überhaupt für langfristige Lösungen verhandlungsfähig ist. Ein Erfolg des Krisengipfels ist mehr als zweifelhaft. Wahrscheinlich wird man sich ohne greifbares Ergebnis höflich verabschieden und anschließend die eigene Haut zu retten suchen. Dass alle voneinander abhängig sind, führt eher zur Lähmung, weil es in der Welt des Kapitals keine gemeinsame Instanz gibt.