Erschienen in KONKRET 5/13

Claus Peter Ortlieb

Gerechtes Scheitern?

Die »Zypern-Rettung« und das neue Paradigma der europäischen Krisenverwaltung

Anfang November 2012 berichtete der SPIEGEL aus einem »geheimen« BND-Report, dem zufolge von der geplanten Rettung zyprischer Banken vor allem die Inhaber russischer Schwarzgeldkonten profitieren würden. Russische Oligarchen, Geschäftsleute und Mafiosi hätten 26 Mrd. Euro auf zyprischen Bankkonten gebunkert. In einer Art Stille-Post-Effekt war dann in Online-Medien gar von 26 Mrd. Euro russischem Schwarzgeld die Rede. Wie hoch der Anteil des kriminell erworbenen Vermögens an den Bankeinlagen tatsächlich ist, kann natürlich niemand genau sagen, das liegt in der Natur dieser Art von Geldern. Der ganze Informationswert des lancierten BND-Reports bestand also letztlich nur aus der einzigen Zahl: 26 Mrd. Euro auf russischen Konten, welcher Herkunft auch immer. Aber egal, der Zweck der Aktion war erreicht, und eine »Gerechtigkeitsdebatte« konnte sich austoben.

Noch am Tag der Veröffentlichung besagter Nachricht meldete sich der haushaltspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion zu Wort: »Vor der Zustimmung der SPD zu einem Hilfskredit für Zypern muss über das Geschäftsmodell des Landes geredet werden. Wir können nicht mit dem Geld der deutschen Steuerzahler die Einlagen von russischem Schwarzgeld bei den zyprischen Banken absichern.« Er durfte sich damit der Zustimmung so gut wie aller seiner Kolleginnen und Kollegen, von der CSU bis zur Linken, sicher sein. Endlich mal ein - auch noch durch gängige Ressentiments befördertes - Ziel im Zuge der Euro-Rettungsmaßnahmen, das auch die einfachen Abgeordneten verstehen, nämlich das Geld der hart arbeitenden Deutschen nicht nur vor gierigen Spekulanten, sondern auch vor kriminellen Russen zu schützen.

Der damit angeschlagene Ton bestimmte fortan den Diskurs bis zum bitteren Ende. Dass das zyprische Geschäftsmodell gescheitert und daher ganz schnell zu ändern sei, wie der deutsche Finanzminister meinte, gehörte zu den Standardargumenten für die Sonderbehandlung, die Zypern von den »Euro-Rettern« aufgezwungen wurde. Dieses nicht nur in Zypern, sondern auch in anderen Staaten der Euro-Zone wie Malta und Luxemburg verfolgte Geschäftsmodell besteht in niedrigen Steuern und laschen Kontrollen der Finanzströme mit dem Ziel, ausländisches Kapital anzulocken, auch solches dubiosen Ursprungs und an den heimischen Steuerbehörden vorbei. Gescheitert ist es keineswegs: Während in Zypern die Bilanzsumme der Banken das BIP zuletzt um den Faktor sieben übertraf, ist diese Zahl in Luxemburg dreimal so hoch, und dabei handelt es sich immerhin um das Land mit dem weltweit höchsten BIP pro Kopf.

Gescheitert sind denn auch die zyprischen Banken gar nicht an ihrem Geschäftsmodell, sondern vielmehr daran, dass sie das bei ihnen angelegte Kapital ganz seriös in Geldanlagen investierten, die kürzlich noch EU-weit als mündelsicher galten, nämlich in Staatsanleihen. Dummerweise handelte es sich dabei vor allem um solche Griechenlands, und mit dem Schuldenschnitt, der dessen Gläubigern abverlangt wurde, trieben die damit verbundenen Milliardenverluste die größte Bank Zyperns beinahe und die zweitgrößte vollständig in die Pleite. Ohne Hilfe von außen wurde so der Staatsbankrott nur eine Frage der Zeit.

Die Sonderbehandlung Zyperns durch die »Troika« aus internationalem Währungsfond, Europäischer Zentralbank und Europäischer Kommission besteht nun darin, dass von den für die Bankenrettung erforderlich gehaltenen 23 Milliarden Euro - so der Stand Mitte April 2013, Tendenz allerdings steigend - nur 10 Milliarden von außen kommen sollen, also mindestens 13 Milliarden von Zypern selbst aufzubringen sind, und zwar nicht vom Staat, der hat ja schließlich kein Geld mehr, sondern durch die Gläubiger der bankrottierenden Banken, also denjenigen, die dort ihr Geld deponiert haben, vom Kleinsparer bis zum Milliardär. Dass zunächst auch Spareinlagen unter hunderttausend Euro nicht mehr geschützt waren, führte nicht nur in Zypern, sondern in ganz Europa zu Protesten und wird noch Folgen haben: Wer mag jetzt noch glauben, die eigenen Ersparnisse seien sicher? Am Ende einigte man sich darauf, nur auf Einlagen über hunderttausend Euro zuzugreifen, die dann aber hoch belastet werden müssen, um auf die 13 Milliarden Euro zu kommen, zuletzt war von einer Zwangsabgabe zwischen 40 und 60 Prozent die Rede, und zahlreiche zyprische Unternehmen waren deswegen innerhalb kürzester Zeit ruiniert.

Mit dieser in den Medien als »Zypern-Rettung« etikettierten Maßnahme ist der zyprische Finanzsektor zerschlagen und das bisherige Geschäftsmodell beendet, was ja wohl auch der Zweck des hier statuierten Exempels ist. Ein neues Geschäftsmodell ist nicht in Sicht und dürfte  im Übrigen von den zugleich verordneten Sparauflagen unmöglich gemacht werden. Zypern wird sich also in die Reihe der anderen südeuropäischen Krisenländer eingliedern, mit den dort bereits bekannten Folgen: Sinkende Wirtschaftsleistung, erwartet wird eine Schrumpfung um acht Prozent noch in diesem Jahr, sinkende Steuereinnahmen, höhere Staatsverschuldung, Massenarbeitslosigkeit bei gleichzeitigem Abbau sozialer Sicherungen, vermehrte Obdachlosigkeit, Zusammenbruch der medizinischen Versorgung für Menschen ohne Geld bis hin zu einem drastischen Anstieg der Zahl der Suizide.

Weniger klar ist, welche Folgen das neuartige Rettungsprogramm über Zypern hinaus haben wird. Als der holländische Finanzminister und neue Chef der Euro-Gruppe die Art und Weise der »Zypern-Rettung« zum Modell für das künftige Vorgehen in der Euro-Zone erklärte, brachen die Börsen weltweit ein, und die politisch Verantwortlichen ruderten erst einmal zurück und erklärten Zypern zum einmaligen Sonderfall ohne jegliche Vorbildfunktion für die Zukunft. Eine Woche später sah die Sache dann schon wieder anders aus, und Politik und Medien quälten sich mit der Frage, wie im Namen der Gerechtigkeit der Finanzsektor fortan stärker an den Kosten von Bankenpleiten zu beteiligen sei. Exemplarisch dafür Uwe Jean Heuser in der »Zeit« vom 27.03.13: »Europäische Gerechtigkeit, das heißt, Stand heute: Die Zypern-Rettung ist nicht etwa ein neuerlicher Beweis für die Ungerechtigkeit des Euro-Rettens, sondern die bisher gerechteste Rettung und damit Maßstab für die Zukunft. Darum kann und muss nun auch Italien seine Reichen mindestens über Steuern mit heranziehen. Eine Krisenabgabe für die dortigen Millionäre sollte kein Tabu mehr sein - auch wenn das politisch schwerer fällt, als den Russen auf Zypern an den Geldbeutel zu gehen. Gerechtigkeit ist eben auch eine Frage des Mutes.«

Angesichts der Verhältnisse in den südeuropäischen und anderen Krisenregionen derart von Gerechtigkeit zu schwadronieren, ist moraltriefender Zynismus. Abgesehen davon gehört Gerechtigkeit bekanntlich nicht zu den Maßstäben, an denen sich kapitalistisches Wirtschaften orientiert. Sie zu fordern, ohne den Kapitalismus anzutasten, geht daher regelmäßig nach hinten los. Als ungerecht gilt etwa, Gewinne privat abzugreifen, Verluste dann aber mit Steuergeldern zu sozialisieren. Der letzte systemrelevante Versuch, das anders zu machen und den Finanzsektor seine Risiken selbst ausbaden zu lassen, endete 2008 im Konkurs der Lehman-Bank, die Folgen sind bekannt. Bezogen auf die Euro-Zone bedeutet das: Bereits der Verdacht, die »Zypern-Rettung« könne Maßstab für die Zukunft sein, wird dazu führen, dass schon beim kleinsten auftretenden Banken-Problem die Anleger ihre Konten räumen und ihr Geld in Sicherheit bringen werden, wodurch die betroffenen Banken erst wirklich in Schwierigkeiten geraten. Ulrike Herrmann hat deshalb in der »Taz« vom 30.03.13 zurecht festgestellt, dass sich die deutsche Kanzlerin demnächst genötigt sehen dürfte, »die unbegrenzte Einlagensicherung auf die gesamte Eurozone auszuweiten. Denn sonst fliegt der Euro auseinander, weil ständig Hunderte von Milliarden Euro auf der Flucht sind.« Die Kanzlerin wird diese Garantie wohl nicht geben wollen, weil es dem deutschen Gerechtigkeitsgefühl widerspricht, wenn »deutsches Geld« die Spareinlagen im Süden rettet. Es bleibt abzuwarten, ob dafür auch der Euro-Crash in Kauf genommen wird.

Vom neuen Paradigma der europäischen Krisenverwaltung sehen sich vor allem die kleinen Staaten bedroht, deren Finanzsektor, so wie der Zyperns, auf einmal als überdimensioniert gilt. Denn selbst wenn Zypern, wie von europäischen Politikern immer noch versichert, tatsächlich ein Sonderfall gewesen wäre, so sind es Malta und Luxemburg, sollten sie einmal in eine vergleichbare Bredouille geraten, ebenfalls. Entsprechend harsch äußerten sich die Vertreter dieser Staaten über so manche Nebentöne bei den Zypern-Verhandlungen, die sie selber mitverantwortet haben. So meinte der maltesische Finanzminister in einem Artikel für die »Times of Malta« in den Verhandlungen um Zypern eine Fallstudie dafür zu erkennen, »welche Behandlung eine kleine Mittelmeerinsel erwarten darf, wenn sie jemals Hilfe von den anderen Mitgliedstaaten braucht.« Zyperns Finanzminister habe am Ende »mit der Pistole am Kopf« den Bedingungen der Retter zugestimmt. Ähnlich undiplomatisch äußerte sich Luxemburgs Außenminister: Er könne das Wort »Geschäftsmodell« nur noch sehr schwer ertragen, und Deutschland habe nicht das Recht, dieses für andere  Länder der EU festzulegen. Im »Spiegel« vom 25.03.13 wird er mit den Worten zitiert: »Wir akzeptieren auch, dass Deutschland Waffen verkauft, im Gegenzug könnte Berlin auch mehr Verständnis für die besondere Lage kleiner Länder aufbringen.« Er hätte besser das auf einer überdimensionierten Automobil- und Rüstungsindustrie basierende »deutsche Geschäftsmodell« kritisieren sollen, anstatt es um des lieben Friedens willen zu akzeptieren.

Natürlich kann ein Staat seinen ins Trudeln geratenen Finanzsektor nicht allein auffangen, wenn dessen Bilanzsumme zweiundzwanzig mal so groß ist wie die jährliche Wirtschaftsleistung, und insofern ist die Rede von der Überdimensionierung ja nachvollziehbar. Nur sollte man die Geschichte nicht vergessen, die zu dieser Situation geführt hat. Der Finanzsektor ist weltweit überdimensioniert, und das hat jahrzehntelang gar nicht als Problem gegolten, im Gegenteil: Es war das ausufernde Finanzkapital, das die Weltwirtschaft dreißig Jahre lang kreditfinanziert am Laufen hielt und so die seit den siebziger Jahren virulente Krise immer weiter hinausschob, bis schließlich nichts mehr ging, weil sich die vergebenen Kredite in der Masse als faul erwiesen. Der in dieser Situation wohlfeile Vorschlag, die Banken mögen sich doch auf ihr Kerngeschäft besinnen und die Realwirtschaft unterstützen, verfehlt das Problem: Nicht nur die Banken Zyperns sind ja keineswegs an ihren dubiosen Praktiken, sondern an eben diesem »seriösen« Kerngeschäft gescheitert.

Ebenso geschichtsblind sind freilich auch die gegen die deutsche Austeritätspolitik gerichteten Forderungen nach einer »neuen Sozialdemokratie«, die dem prozyklischen Sparen im Euro-Raum ein an Keynes orientiertes antizyklisches Konjunkturprogramm entgegenstellen soll. Es ist ja richtig, dass die den Europäern von der deutschen Regierung verordnete Anti-Krisenpolitik die Krise nur noch weiter verschärft. Nur ist das Gegenmodell ebenso hilflos, wenn es, wie etwa Wolfgang Münchau in seiner »Spiegel-Online-«Kolumne vom 03.04.13, die Wiederaufnahme der an der Makroökonomie orientierten Wirtschaftspolitik eines Karl Schiller in den sechziger und eines Helmut Schmidt in den siebziger Jahren verlangt. Schließlich scheiterte damals diese Politik und mit ihr die sozialliberale Koalition, weil die staatlichen Konjunkturprogramme nur noch zu immer höheren Inflationsraten führten, ohne einen selbsttragenden Aufschwung in Gang setzen zu können.

Der Weg aus der Krise ist nur noch als Weg aus dem Kapitalismus zu haben. Es wird Zeit, darüber möglichst laut nachzudenken, einfach wird es nicht. Ein Gerechtigkeitsdiskurs aber, der den Kapitalismus nicht in Frage stellt, ist im inzwischen erreichten Stadium der globalen, ja keineswegs auf Europa beschränkten Krise bloß noch peinlich.