Irgendetwas geht immer noch! – Vom Traum ewigen kapitalistischen Lebens durch alle Krisen hindurch

Offener Brief an die InteressentInnen von EXIT! zum Jahreswechsel 2016/17

Auch das Jahr 2016 war geprägt von all den Katastrophen, die im Leben und Sterben der Flüchtlinge sichtbar werden. Was professionelle VermittlerInnen – von den Medien bis hin zu Bildungsfunktionären – doch so lieben, trat offen zu Tage: persönliche Geschichten und Lebensschicksale, die angeblich für die Vermittlung von komplexeren Zusammenhängen unverzichtbar sind. Da hätte es nahegelegen, eins und eins zusammen zu rechnen und dem Verdacht nach zu gehen, dass den abgeschotteten EuropäerInnen mit den Flüchtlingen die globale Krisensituation recht unmittelbar vor die Füße fällt.

Wieder entdeckt wurde dann immerhin der Kampf gegen die Ursachen der Flucht. Gegen das „Doktern“ an Symptomen sollen – so fordern es einträchtig Stimmen aus Politik und sozialen Bewegungen – Fluchtursachen bekämpft werden. Was aber sind Fluchtursachen? Im Themenheft des iz3w wird ein Sammelsurium von Fluchtursachen thematisiert: Der Weltmarkt produziert Armut. Die deutsche Rüstungspolitik treibt Menschen in die Flucht. Der Klimawandel zerstört die Lebensgrundlage vieler Menschen. Und die Entwicklungspolitik treibt – entgegen der auch von ihr proklamierten Maxime „Fluchtursachen bekämpfen, nicht Flüchtlinge!“ – durch Infrastrukturprojekte, eine Politik der Marktöffnung sowie ihre Zusammenarbeit mit kleptokratischen Eliten, Menschen in die Flucht. Nicht zu vergessen der „Hand ab – Kopf ab“- Islamismus, der mit seinen alltäglichen Terror- und Kriegsakten Menschen zur Flucht zwingt. Es fehlen nicht einmal Homophobie und die Verfolgung von Homosexualität als Fluchtursachen1.

Was bei diesen „Vielfachursachen“ wieder einmal fehlt, ist die Wahrnehmung der Krise des Kapitalismus, der Bezug auf die Wert-Abspaltungs-Logik, die als prozessierender Widerspruch agiert: auf der ökonomischen Ebene als Widerspruch zwischen der in der Logik des Kapitals liegenden, schrankenlosen Anwendung von Arbeitskraft, also schrankenloser Mehrwerterzeugung, und der durch die Konkurrenz erzwungenen Produktivitätssteigerungen, also der Verminderung der Anzahl Mehrwert erzeugender Arbeitskräfte; auf der politischen Ebene als Widerspruch zwischen der universalistischen auf den Weltmarkt ausgerichteten Tendenz des Kapitals und seiner Bindung an partikulare nationalstaatlich konstituierte Funktions- und Reproduktionsräume. Und auf der Ebene der Subjekte agiert sich die männliche Gewalt in unterschiedlichen ideologischen Verarbeitungsmustern immer unmittelbarer aus. Die Kapitallogik selbst stößt auf ihre historischen Schranken und lässt die vermeintliche Dynamik des Fortschritts in eine Dynamik der Zerstörung umschlagen.

Wer davon unberührt nach Fluchtursachen fragt, bleibt einer mechanistischen Fragestellung verhaftet, die suggeriert: Wenn die „Vielfachursachen“ aus der Welt geschafft sind, bleiben auch die Flüchtlinge da, wo sie hingehören. Dazu müssen nur die Mechanismen von Ursache und Wirkung außer Kraft gesetzt werden. Lösungen sind dann einfach und machbar: Umverteilung des Reichtums, soziale und ökologische Regulierungen des Weltmarktes, eine daran orientierte Entwicklungspolitik, Kampf gegen islamistischen Terror und sexuelle Repression... Hauptsache es geht etwas und – vor allem – der Kapitalismus kann weiter seinen ewigen Weg gehen. Damit dieser Weg weitergehen kann, muss die Krise geleugnet werden.

Gerade die sogenannte Flüchtlingskrise hätte deutlich machen können, dass nichts mehr geht. In den Flüchtlingen wird die immanente Ausweglosigkeit der Krisensituation deutlich: die Grenzen der Verwertbarkeit von Arbeitskraft in den Überflüssigen, die Hilflosigkeit der weltordnungspolitischen Interventionen in den nicht enden wollenden Kriegen, das Ende der Rechtsform im Ausnahmezustand, der zum Normalzustand wird, wie in Abschottung, Abschiebung und Internierung in Lagern sichtbar wird. Kritische publizistische Interventionen zur Flüchtlingspolitik wie die von Metz/Seeßlen nehmen manche dieser Zusammenhänge durchaus wahr2: z. B. dass an den Flüchtlingen die „Herrschaft von gebanntem Ausnahmezustand, (von) sozialer Ausschließung ... sichtbar“3 wird, dass im Ausnahmezustand „die großen Projekte der Moderne – Demokratie, Aufklärung, Humanität – suspendiert“4 sind. Weil sie die sogenannte Flüchtlingskrise jedoch nicht auf ein gesellschaftliches Gesamtverhältnis hin reflektieren, bleibt ihre Intervention in der politischen Sphäre stecken. Beklagt wird der im Umgang mit den Flüchtlingen sichtbar werdende Zerfall Europas „in ein postdemokratisches, neoliberales und bisweilen kindisch-bösartiges Monster und ein Projekt des unbarmherzigen Rückschritts“5. Die Klage mündet ein in den abstrakten Ruf nach Demokratie, Aufklärung und Humanität. Statt die konstitutive Verbindung von Nationalstaaten und Demokratie und deren Einbindung in die gesellschaftliche Totalität zu reflektieren, beschwören sie in einem „Jargon der Eigentlichkeit“ (Adorno) das Unmögliche: „eine neue transnationale Form von Demokratie. Eine wirkliche Demokratie, die auf die Verteidigung der Freiheit, auf Gerechtigkeit und Solidarität zielt“6. Angerufen wird ein abstrakter Universalismus, in dem Menschen nur rechtsfähig sind, wenn sie auch arbeits- und verwertungsfähig oder zumindest aus der Wertschöpfung finanzierbar sind. Das Unmögliche muss möglich sein, weil nicht sein kann, was nicht sein darf: das Ende des Kapitalismus.

Wie fest das Muster des ewig währenden Kapitalismus auch auf der Ebene der theoretischen Reflexion verankert ist, wird in Roswitha Scholz’ Auseinandersetzung mit den Landnahme-Theorien von Klaus Dörre und Silvia Federici deutlich7. Dörres Argumentation läuft „darauf hinaus, dass kapitalistische Landnahmen eigentlich unbegrenzt sind bzw. dass der Kapitalismus sich unentwegt ein Außen schafft – sei es in Form verwüsteter Regionen oder auch in Form ungenutzter Arbeitskraft“8. Dann gibt es Grund zu der bei vielen Linken unverzichtbaren Hoffnung auf ein neues Akkumulationsregime. Nicht vergessen werden darf die heilende Hand des Staates, die – wenn sie nur will – ökonomische Gesetzmäßigkeiten auszuhebeln vermag. Auf dem Weg in einen öko-sozialen Kapitalismus können ewiges Außen und Staat in einem Projekt der Rettung zusammenfinden.

Bei Silvia Federici bleibt der Kapitalismus über die Verewigung der Arbeitsgesellschaft lebendig. Sie bleibt lebendig in der ursprünglichen Akkumulation, die in den Landnahmen ihre Fortsetzung findet. Darin geht auch die Ausbeutung von Arbeitskraft weiter. Das Ende der Arbeitsgesellschaft ist so sehr tabuisiert, dass das objektive Überflüssigwerden der Arbeitskraft kategorial nicht in den Blick kommt. „Die Angst vor dem Überflüssigwerden ist so groß, dass sie sich selbst theoretisch bloß als Prekär-Werden identifizieren kann, ein absolutes Zu-Ende-Gehen der Arbeitsgesellschaft ist somit tabu; es ist dies der Horror schlechthin für den Prekären, der sich genötigt sieht, sich nun innerhalb der verfallenden Verhältnisse zu positionieren, um sich als strampelndes Wesen selbst erhalten zu können.“9 Selbst da, wo die Arbeitsgesellschaft nicht mehr geht, kann die unbedingt zu erhaltende Erwerbstätigkeit in einem postmodernen Selbstunternehmertum irgendwie ihre Fortsetzung finden. Von einem kategorialen Bruch will linke Kritik nichts wissen. Irgendwie findet sich immer eine Möglichkeit, den Kapitalismus vor sich selbst, vor der mit ihm in der Krise einhergehenden Zerstörungsdynamik zu retten.

Je finsterer es wird, desto mehr muss – von wo auch immer – ein Wertlein her, das dem Staat heimleuchtet auf den Weg zur Rettung des Kapitalismus. Die Hoffnung auf Arbeit, ein neues Akkumulationsregime, ein Subjekt als Träger der Rettung wird zur schlechten Unendlichkeit einer gleichsam transzendentalen Illusion. Was real unmöglich ist, kann auch über den Weg der Hoffnung nicht Wirklichkeit werden. Das intensive Wünschen hilft nur im Märchen – nicht aber gegen die als Widerspruch prozessierende Wert-Abspaltungs-Logik. Sie kann nicht ewig prozessieren. Ihre Dynamik stößt logisch und historisch an Grenzen, über die auch kein Staat hinweghelfen kann, weil er seine Funktionen nur als immanenter Teil der kapitalistischen Fetischkonstitution wahrnehmen kann. Aber selbst die unübersehbaren Phänomene, in denen dieses Ende sichtbar wird – die Massen der Überflüssigen, Entstaatlichungs- und Verwilderungstendenzen –, können eine zur schlechten Unendlichkeit gewordene Hoffnung nicht irritieren. Etwas „muss“ doch gehen! Und wo nichts mehr geht, müssen eben Glaube, Hoffnung und eine fetischisierte Praxis der Solidarität her. Glaube und Hoffnung, die im Widerspruch zur Wirklichkeit stehen, kann nicht einmal die Theologie denken. Nicht einmal ein allmächtiger Gott könnte den prozessierenden Widerspruch verewigen.

Linke und Rechte finden zusammen in der Verleugnung der Krise. Während links sehnsüchtig nach einem neuen Lichtlein der Wertschöpfung Ausschau gehalten wird, die „eigentliche“ Demokratie angerufen und das Völkerrecht als Rettungsanker beschworen werden, zeigt sich im Erstarken neofaschistischer Bewegungen der Wille, zerfallende nationale Souveränität zu restituieren. Dies geschieht in einer Situation, in der mit der Krise von 2007/2009 auch das Ende der Möglichkeiten in Sichtweite kommt, die globale Entwertung durch neoliberale Instrumentarien zu bewältigen. Die Illusionen, mit fiktiver Kapitalbildung, Defizitkreisläufen und staatlichen Rettungsaktionen, Auswege aus der Krise zu finden, sind dementiert. Was Robert Kurz angesichts der Prozesse hin zu einem internationalen Weltmarkt diagnostiziert hatte, wird in immer größeren Teilen der Welt offensichtlich: „Der Staat erscheint im Vergleich mit seiner einstigen Funktion gewissermaßen ökonomisch entleert; er ist zu einer schlaffen und sozialökonomisch in sich zusammenfallenden politischen Hülle geworden.“10

Mit dem Schwinden der Spielräume neoliberaler Krisenverwaltung schlägt die Krise im Zerfall nationalstaatlicher Souveränität auch verschärft auf die europäischen Nationalstaaten durch. Der Ausnahmezustand wird zum Normalzustand – wie sich im letzten Jahr vor allem im Umgang mit den Menschen zeigt, die angesichts zerfallender Staaten im vermeintlich noch intakten Europa Zuflucht suchen. Der nicht mehr finanzierbare, universal ausgerichtete Sicherheitsimperialismus der „Weltordnungskriege“ (Kurz) verändert sich mehr und mehr zum national-partikular verorteten Ausgrenzungsimperialismus. In seinem Referat beim diesjährigen EXIT!-Seminar hat Daniel Späth die mit den Einbrüchen von 2007/2009 einhergehende Verschärfung der Krisenprozesse auf den Begriff einer „postmodern-immanenten Wende“ gebracht. Auf der Ebene ideologischer Verarbeitung korrespondiert der unmittelbaren Entwertung westlichen Kapitals und dem Zerfall staatlicher Souveränität die Ideologie einer Restitution nationaler Souveränität, wie sie sich in neofaschistischen Bewegungen Ausdruck verschafft.

Ein wesentlicher Widerspruch besteht darin, dass etwas wiederhergestellt werden soll, was zerfällt, weil es seine Grundlage einer funktionierenden Akkumulation verloren hat. Von daher ist es nicht zufällig, dass die Restitutionsversuche vermehrt auf Regionen statt auf Nationen bezogen werden. Sie sind nicht Ausdruck nationalstaatlicher Stärke, sondern „Ausdruck des Zerfalls nationaler Kohärenz in substaatliche Clan- und Stammesbildungen“ (Daniel Späth). So unterschiedlich die neofaschistischen Bewegungen sich im Einzelnen auch darstellen, gemeinsam ist ihnen der Wille zu Souveränität und Selbstentwicklung. Souveränität soll auf allen Ebenen verwirklicht werden: in der Ernährung, in der Sorge um den eigenen Körper, in der Region bis hin zur Wiederauferstehung von Sippe und Stamm.

Gesellschaftlicher Hintergrund dieser Entwicklung ist die Leugnung der Krise, wie sich in der Paradoxie einer neofaschistischen Kritik am Neoliberalismus vor neoliberalem Hintergrund zeigt. Neoliberalismus und die ihn begleitende Postmoderne waren zwar Reaktionen auf die Krise, aber auf der Grundlage ihrer Leugnung. Neoliberale Krisenverwaltung wurde etabliert in der Abwendung von einem politisch-ökonomischen Paradigma und der Hinwendung zu einem Kulturalismus der Differenzen, zur Leichtigkeit des Spiels der Zeichen und Subjekte. Mit der Krise von 2007/2008 dämmert es: Das Spiel ist ausgespielt, eine Verlängerung ohne Grundlage. Der Abpfiff rückt in Hörweite. Vor dem Hintergrund des verschärften Entwertungsdrucks geht der neoliberalen Krisenverwaltung die Puste aus. Sie mutiert zu einer autoritär-repressiven Notstandsverwaltung. Aus der neoliberalen Leugnung der Krise wird in den neuen rechten Bewegungen sogar die Affirmation der Krise – getragen von der Illusion ökonomischer Autarkie. Aber selbst diese Affirmation muss die Krise leugnen; denn auch aus dem Krisenbankrott wird kein neues Akkumulationsregime auferstehen.

Im Willen zur Leugnung der Krise und im Verzicht auf die Reflexion gesellschaftlicher Totalität finden Linke und Rechte zusammen. Ausgangs- und zugleich Endstation des Denkens bleiben unmittelbares Erleben und unmittelbare Betroffenheiten. Ihre Vermittlung mit der durch das Wert-Abspaltungs-Verhältnis bestimmten gesellschaftlichen Totalität bleibt ebenso unreflektiert wie die damit verbundene finale Krise. Statt komplizierter Theorie sind einfache Wahrheiten mit vermeintlich unmittelbarer Evidenz ebenso gefragt wie Personalisierungen, wie sie sich in der Kritik an Eliten Ausdruck verschafft. An die Stelle der Reflexion des Zusammenhangs einzelner Phänomene mit der gesellschaftlichen Totalität tritt „im Sinne einer falschen undialektischen Unmittelbarkeit eine vitalistische Beschwörung der unmittelbaren ‚Existenz‘ …, die an sich keinen Inhalt und keine Richtung hat und somit auch nach rechts driften kann“11.

Dass der Kapitalismus angesichts des Endes erweiterter Akkumulationsmöglichkeiten auf die Vernichtung der Welt zu treibt, darf schon gar nicht wahr sein. Hier scheint die Krisenverleugnung als letzter Anker gegen das Versinken im Nichts umso dringlicher zu werden. Je mehr jedoch mit den Prozessen globaler Entwertung auch die Grundlagen der Souveränität und des Rechts einbrechen, verschärft sich die ausweglose Situation und läuft zu auf die Vernichtung des Lebens – sei es durch den sukzessiven Entzug der Lebensgrundlagen, in Prozessen barbarischer Verwilderung oder durch finales Töten.

 

Vor diesem Hintergrund fallen zwei Phänomene auf, die 2016 im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise auftauchten. Zum einen: die ausländerfeindlichen, rassistischen und sexistischen Denk- und Handlungsweisen, die in männlicher Gewalt manifest wurden. Ungeachtet der Notwendigkeit, in der Auseinandersetzung mit diesen Phänomenen unterschiedliche Ebenen auseinander zu halten, kann doch so viel gesagt werden: Die mit Ängsten und widersprüchlichen Phänomenen einhergehende Krise muss von in die Subjektform gebannten, postmodern sozialisierten und narzisstisch orientierten Individuen verarbeitet werden. Die Gewaltakte wären zu verstehen als Selbstsetzung männlich-narzisstischer Krisensubjektivität. Demgegenüber werden Frauen – nun verantwortlich für Einkommen und Familie – zu Krisenverwalterinnen in Situationen, in denen es um das „nackte“ Überleben geht – und das ohne jede Perspektive. Dabei sind sie männlichen Projektionen ausgesetzt, die unter narzisstischen Bedingungen unmittelbar in Gewalt umgesetzt werden können.12

Zum zweiten wurde die sogenannte Flüchtlingskrise und die politisch-mediale Auseinandersetzung mit ihr begleitet von Amokläufern, die einen Migrationshintergrund hatten oder damit in Verbindung gebracht wurden. Nach Götz Eisenberg wird dabei ein „neues Skript“ erkennbar: „Es legt Tätern mit oder ohne migrantischen Hintergrund nahe, sich einer islamistischen Codierung zu bedienen und sich zum Sympathisanten des IS zu erklären. Das stiftet ‚Sinn‘ und sichert einem optimale Beachtung und Aufmerksamkeit.“13 Mit der Zuordnung zum Islamismus ist zugleich einer krisengeschüttelten Gesellschaft ein stabilisierender Feind von außen präsentiert. Dies entlastet und legitimiert Ausnahmezustände.

Gegenüber solcher Entlastung macht Eisenberg deutlich, in welcher Richtung des Rätsels Lösung für Amok und Terrorismus zu suchen ist: „Die Normalität unserer Lebensverhältnisse gebiert Ungeheuer: Der Amokläufer verkörpert die dunkle Seite des Alltags, seinen verborgenen Schrecken.“14 Der Alltag kapitalistischer Lebensverhältnisse treibt – verschärft in sich zuspitzenden Krisenverhältnissen – Menschen in eine feindselige vernichtende Konkurrenz, seine Sinn- und Perspektivlosigkeit in die Selbstvernichtung, so dass die Grenze zwischen Mord und Selbstmord verschwimmt.15

So zeigt sich an den Grenzen der Reproduktion des warenförmigen Systems, „die reale Metaphysik der Moderne in ihrer abstoßendsten Weise. Nachdem das bürgerliche, aufgeklärte Subjekt alle seine Hüllen abgestreift hat, wird deutlich, dass sich unter diesen Hüllen NICHTS verbirgt: dass der Kern dieses Subjekts ein Vakuum ist; dass es sich um eine Form handelt, die‚an sich‘ keinen Inhalt hat.“16 Hinter dieser Leere steht die Leere des Wertverhältnisses und der Souveränität samt ihrer leeren Rechtsform mit einer „Geltung ohne Bedeutung“ (Agamben) als einbrechendes politisches Zwangsverhältnis.

Das inhaltliche Vakuum einer leeren Form unterwirft sich den gesamten Lebensprozess. In der Krise geht diesem Darstellungs- und Unterwerfungszwang die Substanz aus. Er stößt auf eine absolute Grenze und entwickelt sein Potential der Vernichtung: der Vernichtung des anderen in einer verwilderten Konkurrenz und der Vernichtung der gesamten sinnlosen, weil leeren Veranstaltung. Die Reduktion des Menschen auf „nacktes Leben“ (Agamben) mündet ein in „die letzte und absolute Reduktion (...) auf tote Materie“17.

Selbst wenn die Illusion der Ewigkeit kapitalistischer Verhältnisse als Rettungsanker angesichts der sich mit der Krise von 2007/2009 noch einmal dramatisch zuspitzenden Lage umso virulenter erscheint, ist die Ewigkeit des Kapitalismus nicht denkbar. Ebenso wenig denkbar ist sein emanzipatorisches Ende in Gestalt welcher Restitutionen auch immer. Was bleibt, ist das Beharren auf kategorialer Kritik und ihrer Rückbindung an die empirischen Verläufe. Nur wenn in diesem Zusammenhang erkannt und negiert wird, was die Grenze der kapitalistischen Immanenz konstituiert, kann es eine Chance geben, durch Negation diese Grenzen zu transzendieren. Emanzipatorisch ist nicht die berühmte Frage nach Alternativen, sondern die konsequente Kritik der Warengesellschaft und die Reflexion der zerstörerischen Dynamik der mit ihr einhergehenden Krise. Damit EXIT! diesen Weg weitergehen kann, bitten wir auch in diesem Jahr ausdrücklich um Spenden und danken allen, die so dazu beitragen, die materiellen Grundlagen unseres Projekts zu sichern.

Herbert Böttcher für Redaktion und Vorstand von EXIT!