Marx lesen
Die wichtigsten Texte von Karl Marx für das 21. Jahrhundert
Marx lesen  
Verlag :  Eichborn
ISBN :  3-8218-5646-7
Einband :  Kartoniert
Seiten/Umfang :  432 Seiten - 22 × 15 cm
Erschienen :  03.2006
Preisinfo :  14,90 Eur[D] / 15,40 Eur[A] / 25,90 sFr
  14,90 Eur[D]

Auszug aus: Kapitel I

Sie wissen es nicht, aber sie tun es:
Die kapitalistische Produktionsweise als irrationaler Selbstzweck

Einleitung

Durchforstet man die marxistische wie die gegnerische Literatur des 19.und des 20. Jahrhunderts, so findet sich mit ermüdender Regelmäßigkeit immer dieselbe Reduktion: Wenn vom Kapitalismus positiv oder negativ die Rede ist, dann fast ausschließlich in soziologischen Kategorien von sozialen „Klassen“ oder „Schichten“, während die zugrunde liegenden gesellschaftlichen Formen gewissermaßen neutral bleiben (oder lediglich um ihre Umgruppierung und Neukonstellation gestritten wird, etwa im Verhältnis von Markt und Staat). Es geht also um die Beziehung von sozialen Klassen innerhalb der kapitalistischen Formhülle. Dass der Kapitalismus eine Klassengesellschaft sei, damit glaubten die Marxisten – unter Berufung immer nur auf den exoterischen (nach außen gewandten, gut rezipierbaren ) – bereits das Entscheidende gesagt zu haben. Und mit der Entgegnung, durch Sozialstaat und verbesserte Arbeitsbedingungen habe der Kapitalismus die Klassengesellschaft weitgehend überwunden, versuchten die Apologeten diese Feststellung zu relativieren.

In dieser Auseinandersetzung wurde gar nicht gefragt, oder jedenfalls nicht ernsthaft und mit dem Anspruch theoretischer Reflexion, wie denn diese sozialen Klassen eigentlich in die Welt gekommen sind, wodurch und auf welche Weise ihre gesellschaftliche Konstitution bewirkt worden ist und sich tagtäglich reproduziert. Der Grund für dieses Desinteresse ist einfach: In der soziologisch reduzierten Betrachtungsweise werden die gesellschaftlichen Verhältnisse letzten Endes auf reine Willensverhältnisse zurückgeführt. Der Kapitalismus existiert deswegen, weil seine tragenden Subjekte ihn „wollen“. Der Kapitalismus ist also sozusagen, identisch mit den sich selber als solche wollenden Kapitalisten (den Privateigentümern des Geldkapitals, aber auch den Managern) oder eben dem sozialen Kollektiv der Kapitalistenklasse. Dieser Wille der Kapitalisten-Subjekts ist es, der sich die Mehrheit der Gesellschaft als Lohnarbeiter unterworfen hat.

Als die zentrale Institution dieses kapitalistischen Willens erscheint demzufolge das Privateigentum an den Produktionsmitteln. Diese soziale Monopolisierung der produktiven Potenzen gebe den Kapitalisten die alleinige Verfügungsgewalt über deren Einsatz, so die Standardformulierung. Die Form der Unterordnung oder, wie Marx es nennt, der „Herrschaft des Menschen über den Menschen“, scheint so im Herrschaftsverhältnis qua Privateigentum, in der sozialen Herrschaftsbeziehung zwischen Kapitalisten und Lohnarbeitern aufzugehen. Soweit es sich dabei um ein gesellschaftliches Verhältnis handelt, kann dieses dann nur ein Klassenverhältnis sein. Der einzige Unterschied zu einer Gesellschaft mit persönlichen Abhängigkeitsverhältnissen von Herren und Knechten besteht dieser Lesart zufolge darin, dass die Abhängigkeit einen kollektiven Charakter angenommen hat, also das einzelne Lohnarbeiter-Individuum nicht mehr von einem persönlichen Herrn (wie im Feudalismus und in der Sklavenhaltergesellschaft), sondern von der Kapitalistenklasse als ganzer abhängt.

Indem auf diese Art der Begriff nicht nur der modernen, sondern überhaupt jeder Produktionsweise und Gesellschaftsformation auf Willensverhältnisse von sozialen Klassen reduziert wird, die in einer juristischen Form (Eigentum an gesellschaftlichen Produktionsmitteln) kodifiziert und institutionalisiert sind, scheint der negative, destruktive Charakter des Kapitalismus gewissermaßen im Charakter der Kapitalisten-Subjekte als herrschende Klasse zu bestehen. Der Begriff des Kapitals selber kann dann plötzlich auch in marxistischer Diktion ebenso wie in der bürgerlichen Volkswirtschaftslehre ganz schlicht und unschuldig mit dem Begriff der sachlichen Produktionsmittel (Maschinen, Gebäude usw.) zusammenfallen. Kapital als solches ist dann kein gesellschaftliches Verhältnis mehr, sondern wird zu einem Gegenstand verdinglicht, während die vom Kapital gesetzte soziale Beziehung ganz äußerlich soziologisch als Klassengegensatz figuriert.

Indem dabei die herrschende Klasse der Kapitaleigentümer die abhängige Klasse der Lohnarbeiter für ihre privaten Zwecke einsetzt und „anwendet“, verfolgt sie, so die weitere Konsequenz dieser Betrachtungsweise, ein besonderes eigenes Interesse, eben ihr subjektives Klasseninteresse. Dem steht das andere, gegensätzliche Klasseninteresse der Lohnarbeiter gegenüber. Und das Resultat dieses Interessengegensatzes ist natürlich ein Interessenkampf, nämlich der gute alte Klassenkampf. Implizit (und oft auch explizit) legt diese Quintessenz des Arbeiterbewegungsmarxismus als äußerste Konsequenz der Kapitalismuskritik nahe, die Kapitalisten-Subjekte irgend wie aus dem Verkehr zu ziehen, sie womöglich einzusperren oder sie gar- so die aus der bürgerlichen Französischen Revolution übernommene Vorstellung und Praxis - einen Kopf kürzer zu machen, ihnen aber auf jeden Fall so oder so ihr Spielzeug wegzunehmen, also sie zu enteignen, damit alsdann die glorreiche Arbeiterklasse das sachliche Kapital in eigener Regie und für ihre eigenen Interessen betreiben könne.

Und das ist ja auch nur logisch: Wenn Kapitalismus zusammenfällt mit der juristischen Verfügungsgewalt einer herrschenden Klasse, dann hört er mit dem formalen Akt des Eigentumswechsels von Klasse zu Klasse auf zu bestehen. Ein fast rührend naives und geradezu komisches Zeugnis dieses Denkens sind zum Beispiel die feierlichen „Enteignungs- urkunden“, mit denen bei der Gründung der ehemaligen DDR der Übergang der Betriebe in die Hand des Volkes proklamiert wurde, sie also von da an „volkeigene“ Betriebe (VEB) sein sollten.

Hier haben wir es in ziemlich durchsichtiger Weise mit dem Begriffsfeld jenes Marxismus zu tun, den die historische Arbeiterbewegung für ihren Klassenkampf, der in Wahrheit eigentlich bloß um die Anerkennung im Kapitalismus geführt wurde, als Legitimationsideologie benutzte. Und es lässt sich nicht leugnen, dass sich diese Lesart immer wieder auch bei Marx selber findet. Gerade im Kontext dieses Begriffsfeldes erweist er sich eben als exoterische Marx, als bloßer Modernisierungstheoretiker. Es sind vor allem zwei Probleme, an denen sich dieser verkürzte Kapitalismusbegriff des gängigen Marxismus bricht und innerhalb der Marxschen Theorie der exoterischen zur esoterischen Argumentation und Kritik stattfindet.

Zum einen verträgt sich die Reduktion des Kapitalismusbegriffs auf die Willensverhältnisse von sozialen Klassen äußerst schlecht mit jener (von Hegel entlehnten) „ehernen“ Objektivität des geschichtlichen Prozesses mit seiner Abfolge von notwendigen Entwicklungsstufen und Gesellschaftsformationen. Offenbar ist es doch nicht bloß der klassenmäßige und interessengeleitete subjektive Wille, der den Kapitalismus konstituiert, sondern dieser soziale Wille ist eingebettet in etwas anderes – in eine ihn übersteigende Objektivität.

Das wird noch deutlicher, wenn bei Marx wie im Marxismus ständig mit der größten Selbstverständlichkeit von den „Gesetzmäßigkeiten“ der kapitalistischen Produktionsweise, ja geradezu von ihren „Naturgesetzen“ die Rede ist. Positivistisch gelesen ergibt sich auch hier wieder ähnlich wie beim verdinglichten Begriff des Kapitals eine Nähe zum Denken der bürgerlichen Volkswirtschaftslehre, für die ja bekanntlich die Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus identisch mit den angeblichen Naturgesetzen von gesellschaftlicher Reproduktion überhaupt sind. Aber selbst wenn man diese „ökonomischen Naturgesetze“ als bloß historische, auf die spezifisch kapitalistische Produktionsweise beschränkte erkennt, besteht immer noch das Problem, dass der objektivierte, „naturgesetzliche“ Charakter kapitalistischer Reproduktionsstrukturen, Bewegungs- und Entwicklungsformen in krassem Widerspruch steht zur Reduktion ihres Begriffs auf soziologische Klassen- und juristische Willensverhältnisse. Der Marxismus hat schlicht darauf verzichtet, diesen Widerspruch zu vermitteln und aufzulösen, er hat ihn nicht einmal erkannt.

So musste die marxistische Theoriebildung stets auseinanderfallen in eine „objektivistische“ und „ökonomistische“ (quasi naturwissenschaftliche) Gesellschaftstheorie einerseits und eine „subjektivistische“ (politisch- juristische) Handlungstheorie andererseits. Diese Schizophrenie reproduziert die Gespaltenheit des modernen bürgerlichen Denkens überhaupt, das seit der Aufklärungsphilosophie in zahlreichen Variationen immer wieder auseinander fällt in die Proklamation einer quasi automatischen, wie ein Uhrwerk nach Systemgesetzen ablaufenden menschlichen Gesellschaft einerseits (die »unsichtbare Hand« der Märkte und der kybernetischen Regulationsmechanismen, die den Menschen mit Insekten oder Funktionsteilen von Maschinen auf eine Stufe stellt) und die Proklamation des »freien Willens«, der »Autonomie des Individuums«, der »Selbstverantwortung« und der »politischen Freiheit« (Demokratie) andererseits.

Der Arbeiterbewegungsmarxismus hat dieses Dilemma des bürgerlichen Denkens nicht geknackt, sondern damit gelebt und es (im Falle der historischen Nachzügler der Modernisierung im 20. Jahrhundert) in seinen Sozialismus mit hinübergenommen: Auch dieser sollte nach objektivierten, naturhaften ökonomischen Gesetzen (nämlich der unaufgehobenen Warenproduktion) ablaufen, gleichzeitig aber den Staat gewordenen Klassenwillen des Proletariats und seiner Partei verkörpern.

Zum anderen kommt die marxistische Argumentation ins Schleudern, wenn sich die Frage nach dem Zweck der ganzen Veranstaltung stellt. Zwar ist das brave klassenkämpferische Denken mit der Antwort schnell bei der Hand: Der Zweck des Kapitalismus ist natürlich die Ausbeutung der Lohnarbeiter durch die Kapitalisten-Subjekte. Diese wollen den Kapitalismus deswegen so inbrünstig, weil sie etwas davon haben, nämlich den berühmten „Mehrwert“, den sie dem malochenden Teil der Menschheit abpressen. Und selbstverständlich lässt sich wiederum der exoterische Marx über weite Strecken in genau diesem Sinne deuten, wenn er von „unbezahlter Arbeit“ spricht, mit der die Lohnarbeiter über den Gegenwert ihrer eigenen Reproduktionskosten hinaus (den sie in Form des Geldlohns erhalten) jenen zusätzlichen Wert schaffen, den sich die Kapitaleigentümer zu ihrer eigenen Bereicherung aneignen.

Die Konsequenz scheint dann darin zu bestehen, dass sich die wackere Arbeiterklasse nach dem Hinauswarf der Ausbeuter den vorenthaltenen Mehrwert selber aneignet, ihren vollen Arbeitsertrag erhält und der unbezahlte Teil der Arbeit in einen bezahlten verwandelt wird. Natürlich musste auch der Marxismus zugeben, dass in jeder Gesellschaft Reinvestitionen für die Erneuerung der sachlichen Produktionsmittel zu tätigen sowie Rücklagen zu bilden sind. Diese notwendigen Abzüge vom individuellen Arbeits- ertrag würden dann jedoch durch die Institutionender Arbeiterklasse selbst (im Zweifelsfall natürlich ihrer Staat gewordenen Partei) zum gemeinsamen Nutz und Frommen verwendet.

Diese scheinbar so einfache und klare Antwort, die wie aus der Pistole geschossen kommt, hat jedoch ihre Tücken. Denn dabei entsteht der Anschein, als würden die den Mehrwert sich aneignenden Kapitaleigentümer diesen Profit als ihren persönlichen Reichtum weitgehend verjubeln. Das Kapitalverhältnis scheint also nur eine Variante des gewissermaßen zeitlosen Verhältnisses von Armut und Reichtum darzustellen. Die Marxschen Begriffe des Mehrwerts (in der Geldform) und des Mehrprodukts (in der stofflichen Güterform) werden dabei praktisch synonym verwendet. Insofern scheinen sich etwa die feudale und die kapitalistische Form der Aneignung nur durch die Art und Weise des Eigentums (Grundeigentum im einen, Privateigentum an den Produktionsmitteln im anderen Fall) zu unterscheiden.

Nun ist es aber so, dass die klassischen Feudalherren tatsächlich das stoffliche Mehrprodukt in Form von Naturalabgaben regelrecht verfressen haben. Selbst diese Prasserei war freilich immer mit verschiedenen Arten der Umverteilung verbunden, indem auf die eine oder andere Weise die Abhängigen, Hintersassen usw. mitzehren konnten. Sogar schon für den vorkapitalistischen Reichtum waren die Mägen der Herrschenden entschieden zu klein. In ihrer kapitalistischen Erscheinungsform entzieht sich die exorbitant gesteigerte Reichtumsproduktion vollends der subjektiv-sinnlichen Aneignung durch die Eigentümer der Produktionsmittel. Weder können die Unternehmer und Manager das gigantische Mehrprodukt, d.h. den über den Gegenwert des Arbeitslohns hinausgehenden Ausstoß ihrer Fabriken an Schuhwichse, Handgranaten, Brathähnchen oder Taschenbüchern selber verknuspern, noch können sie den damit erzielten Gelderlös selbst bei noch so verbissener Anstrengung in Luxusgüter für sich selbst umsetzen, zu deren Genus sie übrigens sowieso schon längst gar keine Zeit mehr haben. Vielmehr müssen sie bei Strafe des Untergangs in der Konkurrenz den allergrößten Teil des in Geld zurückverwandelten Mehrprodukts (also des Mehrwerts) wieder in den kapitalistischen Reproduktionsprozess auf erweiterter Stufenleiter reinvestieren.

Vom größten Teil der „unbezahlten Arbeit“ hat also eigentlich niemand etwas, wenn man darunter den wirklichen Genus des produzierten Reichtums versteht. Dementsprechend wenig genussverheißend sieht auch eine große Masse der Produkte aus. Es handelt sich um eine Erweiterung der Produktion um ihrer selbst willen - um einen irrationalen Selbstzweck. Genau das ist es, was der esoterische Marx den Fetischismus dieser Produktionsweise genannt hat, wie ja auch in den vormodernen Gesellschaften schon Fetische am Werk waren. Und Marx hat auch einen Namen für den spezifischen Mechanismus der kapitalistischen Fetisch-Gottheit: er nennt ihn das „a u t o m a t i s c h e  S u b j e k t“. Obwohl dieser Begriff schon gleich zu Anfang des „Kapital“ auftaucht, stutzen die vielfach kapitalgeschulten Marxisten bei der Erwähnung dieses seltsamen „Unbegriffs“ und empfinden ihn als ziemlich fremdartig. Denn in der Tat benennt Marx damit den eigentlichen Kern des paradoxen kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisses, der auf keine Weise in Klassen- und Ausbeutungs-Verhältnis von Lohnarbeitern und Kapitalisten aufgeht.

Vielmehr sieht es plötzlich so aus, dass die Klassen und überhaupt sämtliche sozialen Kategorien im Kapitalismus gleichermaßen und gemeinsam bloße Funktionskategorien jenes ihnen übergeordneten automatischen Subjekts sind, das somit den eigentlichen Gegenstand der Kapitalismuskritik bilden müsste. Die Kapitaleigentümer und Manager sind, wie auf einer tieferen Stufe der kapitalistischen Funktionshierarchie auch die Lohnarbeiter keineswegs die selbstherrlichen Subjekte der kapitalistischen Veranstaltung, sondern selber bloße Funktionäre der Kapitalakkumulation als Selbstzweck.Um die Paradoxie auf die Spitze zu treiben, ist das wirkliche Herrschaftssubjekt ein toter Gegenstand, das Geld, das in der Rückkopplung auf sich selbst zum geisterhaften Beweger der gesellschaftlichen Reprodukrion wird.

Damit ist eine Absurdität sondergleichen gegeben. Die Menschen haben sich in bloße Anhängsel einer verselbständigten Ökonomie verwandelt, deren Bewegungsgesetzen sie allesamt ausgeliefert sind wie die Lemmige ihrem „dunklen Trieb“. Ihre eigene gesellschaftliche Tätigkeit tritt ihnen als fremde und äußere Macht eines blinden Systemzusammenhangs entgegen; ihre eigene Gesellschaftlichkeit ist in die toten Produkte und deren Geldgestalt geschlüpft, während sie selbst sich als ungesellschaftliche Wesen in der Form anonymer Konkurrenz bewegen. Und diese Konkurrenz ist wiederum die gemeinsame Beziehungsform aller kapitalistischen Klassen und Funktionskategorien: Nicht nur die Lohnarbeiter konkurrieren mit den Kapitaleigentümern, sondern auch Kapitaleigentümer und Lohnarbeiter untereinander. Und weil die Interessen aller als Produzenten im Widerstreit mit ihren oft gegensätzlichen Interessen als Konsumenten, konkurriert sogar jeder Mensch in gewisser Weise mit sich selbst.

Diese komplett verrückte Herrschaft eines verdinglichten, automatischen Subjekts ist so schwer zu begreifen, weil „Geld“ und „Markt“ schon Existenz zu haben scheinen und der kapitalistische Alltagsverstand das ihm vorausgesetzte System immer nur von der Sphäre der Zirkulation, des Austauschs her begreift, also Markt- bzw. Verteilungsinteressen in den vorausgesetzten, unhinterfragbar scheinenden Kategorien entwickelt. Weiter konnte auch der Arbeiterbewegungsmarxismus nie Wahrheit, so der esoterische Marx mit seinem Verweis auf Subjekt, waren Geld und Markt in allen vorkapitalistischen Gesellschaften bloße Rand- oder Nischenerscheinungen, während sich der größte Teil der Reproduktion „naturalwirtschaftlich“ in anderen Formen vollzog. Eine flächendeckende Geldwirtschaft und Marktwirtschaft um die entsteht überhaupt erst durch die kapitalistische Rückkoppelung des Geldes auf sich selbst. Dabei geht es nicht mehr um die Produktion von Waren als Endzweck, sondern die Warenproduktion dient nur noch als Mittel für den Verwertungsprozess des Geldes als Selbstzweck, für die endlose Aufhäufung von Geldkapital um seiner selbst willen.

Unter dieser Bedingung können sich nicht mehr unabhängige Produzenten auf einem Markt begegnen, sondern die Masse der Lohnarbeiter ist „Geld- und Marktsubjekt“ nur durch ihre Selbstauslieferung an Arbeitsmärkte, während die Kapitaleigentümer als bloße Repräsentanten des automatischen Subjekts figurieren. Alle beteiligten, so Marx, sind zu „Charaktermasken“ ökonomischer Kategorien herabgesunken, und der Markt ist keine Sphäre des freien Austauschs mehr, sondern einzig und allein die Sphäre der Realisation des Mehrwerts, also nichts als eine Station im pulsierenden Lebensprozess, in der unaufhörlichen Metamorphose des automatischen Subjekts.

Mit salbungsvoller Stimme haben die kapitalistischen Apologeten immer wieder versucht, den paranoiden Charakter dieses Gesellschaftskonstrukts durch die Behauptung zu rechtfertigen, dass die damit verbundene, durch die anonyme Konkurrenz erzwungene Steigerung der Produktivkräfte auch automatisch zu einer Steigerung der Wohlfahrt führe. Die praktische Erfahrung der überwältigenden Mehrzahl der Menschheit in der kapitalistischen Geschichte läuft auf das genaue Gegenteil hinaus. Weil die Produktion von Gütern nicht der Zweck, sondern bloßes Mittel für die Geldverwertung ist, kann auch die Wohlfahrt nicht Zweck, sondern bestenfalls vorübergehendes Abfallprodukt des Kapitals sein.

Während in den vormodernen, naturalwirtschaftlichen Agrargesellschaften Not und Armut in erster Linie durch das Ausgeliefertsein an die »erste Natur« und durch den niedrigen Stand der Produktivkräfte bedingt waren, erzeugt der Kapitalismus ein sekundäres, rein gesellschaftlich bedingtes Elend. Weil der Zweck der Produktion einzig in der abstrakten Gewinnmaximierung von Geldeinheiten besteht, wird zum ersten Mal in der Geschichte nicht für die Befriedigung von Bedürfnissen produziert. Wenn nicht mindestens die durchschnittliche Profitrate zu erzielen ist, werden da her intakte Produktionsmittel auch dann stillgelegt oder heruntergefahren, wenn nebenan Menschen darben. Und wenn es das Bewegungsgesetz des automatischen Subjekts will, fließt die exorbitant gesteigerte Produktivkraft eben in Autos, Autobahnkreuze oder Raketen, während massenhaft Menschen obdachlos sind und Kinder selbst in den reichen Ländern hungern.

Das systematische Auseinanderfallen von Produktionszweck und Bedürfnisbefriedigung, das diese groteske Fehlleitung der Ressourcen erzwingt, ist aber nicht durch einen bloßen Macht- und Formwechsel innerhalb der kapitalistischen Kategorien und nicht durch einen bloß juristischen Eigentumswechsel unter den sozialen Klassen und Funktionssubjekten dieses systems zu überwinde, sondern nur durch die Aufhebung des irrationalen automatischen Subjekts selbst und seiner zur zweiten Natur gewordenen Bewegungsgesetze. Nachdem sich der exoterische Marxismus der alten Arbeiterbewegung ebenso erschöpft hat wie die nachholende Modernisierung der kapitalistischen Peripherie, hat zu Beginn des 21. Jahrhunderts auch der soziologisch verkürzte Begriff des Kapitalismus ausgedient. Jetzt kann nur noch der ganz andere Kapitalbegriff des esoterischen Marx auf der Tagessordnung kritischer Theorie stehen, der die dingliche Herrschaft des automatischen Subjekts in den Blick nimmt – als theoretische Gestalt einer praktischen sozialen Bewegung, von der die gemeinsame Form der anonymen Konkurrenz nicht mehr ausgetragen, sondern kritisiert und überwunden wird.

Die folgende Auswahl von Marx-Texten konzentriert sich auf diesen über das Verständnis des Arbeiterbewegungsmarxismus hinausgehenden Kapitalbegriff und dessen Paradoxien. Die Analyse der kapitalistischen Funktionsmechanismen ist dabei mit enthalten, aber auf das Notwendigste beschränkt. Erst aus dem Verständnis des Kapitals als jenem „automatischen Subjekt“ kann sich dann auch ein Verständnis seiner Funktionsmechanismen erschließen, das die Marxsche Analyse nicht als positivistische Darstellung von bloßer Objektivität missversteht, sondern als das, was damit gemeint ist: nämlich als radikale Kritik einer falschen destruktiven Objektivierung gesellschaftlicher Verhältnisse.