"Aneignung" als Modebegriff einer verkürzten Kapitalismuskritik

Robert Kurz

 

ENTEIGNUNG UND ANEIGNUNG

Zur Debatte um das jüngste Zauberwort einer zu kurz greifenden Kapitalismuskritik (1. Teil)

Je desorientierter die radikale Linke wird, desto schneller durchläuft sie die Konjunkturen des Ausheckens von Konzepten, die ebenso rasch wieder verwelken. Es geht zu wie bei der Modellpolitik von VW. Derzeit macht ein neues Schlagwort die Runde: "Aneignung". So neu ist das eigentlich nicht. Aber Recycling gehört sowieso zum Geschäft, wenn einem nichts Neues mehr einfällt. Das scheint nicht nur für den Krisenkapitalismus zu gelten, sondern auch für die Kapitalismuskritik in der Krise. Plötzlich rastet eine bestimmte Sprachregelung ein, und alle linken Stamm- und Frühstückstische haben ihr Thema, wie die modebewußten Youngsters plötzlich auf Kommando alle superenge oder extrem breite Hosen tragen. Und jetzt ist eben die "Aneignung" dran. Die Berliner Bewegungszeitschrift Arranca! hat dem Thema zwei Ausgaben gewidmet, die Bundeskoordination Internationalismus (Buko) hat es bei ihrem Kongreß 2004 unter dem Titel "Das Ende der Bescheidenheit" ins Zentrum gestellt. Immer mehr Gruppen und Initiativen fahren darauf ab. Geht es jetzt wirklich los?

Eine Geschichte der Enteignung

Aneignung verhält sich komplementär zu Enteignung. Kapitalismus ist wesentlich eine Geschichte der Enteignung und Enterbung der Menschheit. Marx hat im Kapitel über die "ursprüngliche Akkumulation" gezeigt, wie die gewaltsame Enteignung der unmittelbaren (bäuerlichen und handwerklichen) Produzenten von ihren Produktionsmitteln sowie von Grund und Boden eine Voraussetzung der kapitalistischen Produktionsweise bildete.

Heute scheint ein zweiter, sekundärer Enteignungsprozeß ähnlicher Größenordnung abzulaufen. Zumindest wird es massenhaft so empfunden und inzwischen auch theoretisch reflektiert. Pünktlich zur Aneignungs-Konjunktur erschien 2004 im Verlag Westfälisches Dampfboot der Sammelband "Die globale Enteignungsökonomie". Der Herausgeber Christian Zeller versucht in seinem einleitenden Beitrag eine Bestimmung dieses Phänomens zu geben: "Die Besetzung des Irak und seine Umwandlung in ein neokoloniales Protektorat der USA..., die weltweite Privatisierung öffentlicher Einrichtungen sowie die private Aneignung von Erfindungen und sogar von Lebewesen sind unterschiedliche Vorgänge, die aber dennoch etwas gemeinsam haben: Sie sind Ausdruck der imperialistischen und kapitalistischen Enteignungsökonomie..." (S. 9).

Nachdem der Kapitalismus ursprünglich die Menschen von ihren Produktionsmitteln enteignet und sie der "abstrakten Arbeit" (Marx) unterworfen hat, enteignet er sie nun in beispiellosem Ausmaß von den Bedingungen dieser Existenz, von Einkommen, öffentlichen Diensten und Absicherungen. Immer größere Massen werden ausgegrenzt und gewissermaßen vom Warenkonsum enterbt, die nicht mehr Zahlungsfähigen von der medizinischen Versorgung usw. ausgeschlossen, die Arbeitslosen um ihre Leistungsansprüche gebracht und ganze Länder und Weltregionen von ihrer eigenständigen, aus der Rentabilität herausfallenden Reproduktionsbasis abgekoppelt.

Die Frage ist allerdings, welcher Begriff von Aneignung dieser zweiten historischen Enteignungswelle entgegengesetzt werden soll. Geht es bloß um die Wiederaneignung des bisherigen Lebens, das ja schon auf einer ersten, ursprünglichen Enteignung beruhte? Die globalisierungskritische Bewegung ist nicht gerade durch radikale Kritik aufgefallen, sondern eher durch keynesianische Nostalgie. Wird nun das Schlagwort der Aneignung in die verkürzte Kapitalismuskritik eingemeindet oder führt es darüber hinaus?

Her mit dem schönen Leben!

Als neuer Trend ist die linke Aneignungsdebatte offenbar bis jetzt nicht darüber hinausgekommen, die spontanen Aneignungsformen aufzulisten und organisatorisch zu verlängern. In einigen Großstädten (Berlin, Hamburg, Dresden) sind "Umsonst"-Kampagnen entstanden: "Das reicht von Aktionen für kostenlosen Zugang zu den Berliner Schwimmbädern (>Was ist cool? Reclaim the pool!<) über die Nutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln ohne zu zahlen, Besetzungen von Zügen, um zu Demonstrationen zu gelangen, Aktionen im öffentlichen Raum bis hin zu Besetzungen von sozialen Zentren" (Arranca! 28). Soweit, so gut. Nicht zu unterschätzen sind auch die Reminiszenz an die Hausbesetzerbewegung und der Hinweis auf die Landbesetzerbewegungen in der kapitalistischen Peripherie. Solche Aktionsformen der sozialen Aneignung werden im Fortschreiten der Weltkrise an Brisanz gewinnen.

Aber das allein gibt keine Perspektive der Umwälzung. Auf den ersten Blick ist erkennbar, daß sich die Aneignungspraxis auf den Warenkonsum ohne Geld beschränkt. "Nimm dir, was du brauchst!", das klingt zwar radikal, verläßt aber inhaltlich den alten sozialdemokratischen Verteilungsgesichtspunkt nicht. Wenn die Linke bloß die spontane Praxis ideologisiert, kann sie es gleich bleiben lassen. Die Umsonst-Parole "Her mit dem schönen Leben!" drückt zwar einen berechtigten Impuls gegen die kapitalistische Opfermentalität aus, aber die Notwehr sollte nicht zur Tugend der Emanzipation verklärt werden. Es ist kein gutes Zeichen, wenn die für ihre pubertäre Albernheit ebenso wie für ihren redaktionellen proimperialen Bellizismus bekannte Wochenzeitung Jungle World sich des Themas bemächtigt und es durch Titel wie "Her mit dem Plunder!" (Nr. 22/2004) in typischer Manier verblödelt.

Kapitalismus geht nicht als schiere Enteignungsökonomie

Wenn es sich dagegen um eine historische innere Schranke der Akkumulation als solcher handelt, muß die Perspektive der Aneignung sehr viel weiter gehen und den gesamten gesellschaftlichen Reproduktionszusammenhang erfassen. Es geht dann um die Überwindung des warenproduzierenden Systems selbst, also der verinnerlichten gesellschaftlichen Form des Reichtums.

Diese Hürde erscheint dem linken Normalbewußtsein als zu hoch. Man möchte irgendwie in der gewohnten Weise weitermachen. Christian Zeller etwa beschränkt die "Perspektive der gesellschaftlichen Aneignung" wie gehabt auf die Frage des juristischen Eigentums und dessen "Demokratisierung", während das eigentliche Problem einer Überwindung der Warenform ausgeblendet bleibt. Deshalb muß Zeller dem Weltkapitalismus unterstellen, daß er seine "grundlegenden Verwertungsschwierigkeiten" durch die neue Enteignungsökonomie bewältigen könne: "Akkumulation existiert auch ohne Investitionen (!) im Sinne der Schaffung erweiterter Produktionskapazitäten. Akkumulation kann in gewissen Teilen des Systems zu Lasten anderer Teile geschehen...Sie spiegelt die Vormachtstellung einer Form sozialer Herrschaft, in der die räuberische Aneignung von Werten beziehungsweise die Aneignung in Form von Renten dank einer Ausweitung der Eigentumsverhältnisse gegenüber der Erzeugung von Werten bedeutender wurde" (Die globale Enteignungsökonomie, S. 14).

Hier liegen einige grobe Denkfehler vor. Kapitalakkumulation ist ein gesamtgesellschaftlicher Prozeß. Als Produktionsweise kann das Kapital nur durch rentable erweiterte Investitionen akkumulieren, nicht dadurch, daß "große Konzerne andere Unternehmen enteignen" (S. 9), und schon gar nicht durch "Raub". Zeller nimmt hier die Froschperspektive des betrieblichen Einzelkapitals oder des einzelnen Wirtschaftssubjekts ein, ganz wie die herrschende mikroökonomische Richtung der VWL.

Gesamtgesellschaftlich aber schafft der kapitalistische Autokannibalismus natürlich keinen erweiterten Akkumulationsspielraum, ebensowenig die Enteignung von sozialen Ansprüchen. Dasselbe gilt für Renten aus der Patentierung von Genen, Lebewesen, Software usw. Das patentierte Wissen als solches bildet keine eigene Basis von Akkumulation, und Renten sind wie Zinsen abgeleitete Bestandteile des (gesellschaftlichen) Mehrwerts, die von diesem abgeschöpft werden müssen. Nachdem sich die kapitalproduktiven Optionen der Dienstleistungsgesellschaft, der Computerisierung, Informationstechnologie und New Economy als Träger eines neuen historischen Akkumulationsmodells allesamt als Flops erwiesen, hat es schon etwas Verzweifeltes an sich, nunmehr dem Kapitalismus die weitere Akkumulationsfähigkeit durch Enteignung, Raub usw. attestieren zu wollen. Diese Fähigkeit ergibt sich entweder aus den inneren Produktionsbedingungen des Gesamtkapitals oder gar nicht.

Ziemliche Probleme des Klassenkampfs

Mit alledem ist es nicht mehr weit her. In der 3. industriellen Revolution besteht das Kapital wesentlich aus verwissenschaftlichtem Sachkapital. Die menschliche Arbeit wird zunehmend aus dem Produktionsprozeß herausgenommen, die mehrwertschöpfende Klasse zur Minderheit. Darin besteht gerade die Krise nicht nur der sozialen Reproduktion, sondern der Akkumulation selbst, deren Substanz ja laut Marx die Arbeit bildet. Die Menschen werden nicht mehr wie in der ersten historischen Enteignungswelle der "ursprünglichen Akkumulation" durch das "Hineinfoltern" (Marx) in die Arbeit, sondern nunmehr sekundär von dieser Arbeit selbst als Einkommensquelle enteignet. Die Masse der sozial Enterbten besteht nicht aus Mehrwertproduzenten, sondern aus Menschen, die von Transferleistungen abhängig sind oder aus prekarisierten Scheinselbständigen, Elendsunternehmern, Gelegenheitsjobbern usw. außerhalb des schrumpfenden kapitalproduktiven Kerns. Und die Politik wird durch die mit dieser Entwicklung einhergehende transnationale Globalisierung des Kapitals ausgehöhlt.

Damit entfallen alle traditionellen Begriffsbestimmungen des Klassenkampfs, der sich als immanente Bewegung in der gemeinsamen Hülle der Warenform entpuppt. Arbeit und Politik werden als Basis und Aktionsform obsolet. Von diesem "Standpunkt" aus ist kein Blumentopf der Emanzipation mehr zu gewinnen. Nötig wird eine soziale Massenbewegung, die nicht mehr durch die "Stellung im Produktionsprozeß" definiert ist. Und das Ziel kann nicht die politisch geplante Wertschöpfung sein, die in Wahrheit zusammen mit der Mehrwertproduktion verfällt, sondern die Befreiung von der fetischistischen und zunehmend "entsubstantialisierten" Wertform selbst.

Aneignung hieße dann, den gesamten Stoffwechselprozeß der Gesellschaft mit der Natur ebenso wie mit sich selbst aufzurollen und die Produktion tiefer gehend umzuwälzen als bloß durch die äußerliche Umdefinierung des juristischen Eigentums, wie es etwa Christian Zeller immer noch als "Demokratisierung" der öffentlichen Dienste vorschwebt. Das ist eine Leerformel geworden. Alle Versuche, der spontanen Praxis illegalen Warenkonsums ausgerechnet mit den alten Klassenkampf-Formeln von Arbeit, Politik und juristischer Eigentumsfrage eine Perspektive zu geben, sind zum Scheitern verurteilt.

 

ANEIGNUNG ALS KAPITULATION DER KRITIK?

Zur Debatte über ein neues linkes Schlagwort (2. Teil)

Wenn man genauer hinhört, ist zu merken, wie sehr die gegenwärtige Aneignungsdebatte damit zu tun hat, daß die radikale Linke selber von der sozialen Krise ereilt wird. Vorbei die Zeiten, als es noch ein gut gepolstertes lustiges Studentenleben gab und man sich ohne große Sorgen um Miete und Essen nächtelang die Köpfe über den tendenziellen Fall der Profitrate oder den Marxschen Fetischbegriff heiß reden konnte. Wenn es existentiell wird, scheint der Spatz der verkürzten Praxisvorstellung in der Hand mehr zu gelten als die Taube der kritischen Theorie auf dem Dach. Das Unmittelbare ist die Ware, die man nicht mehr kaufen kann. Da werden die Standards kritischer Reflexion plötzlich heruntertransformiert und lax gehandhabt. In diesem unkoscheren Sinne taugt der unreflektierte Aneignungsbegriff wunderbar dazu, sich über das eigene Ausweichen vor dem zu knackenden Problemzusammenhang hinwegzulügen.

Am Ende mit der radikalen Kritik?

Wie so oft scheint die Kapitulation der radikalen Kritik in der Maske der Militanz daherzukommen. Aber gelegentlich ist man durchaus geständig, ohne es überhaupt noch zu merken: "Das Politbarometer sagt: Beleidigt am Zaun stehen und über die Verhältnisse meckern: Out - Sich nehmen, was uns sowieso zusteht: In" (Arranca! 28). Der Selbstauslieferung an die Schwankungen des Szene-"Politbarometers" entspricht die Verkürzung der Perspektive auf die eigene Nase. Aneignung wird hier dem "Meckern über die Verhältnisse", sprich: der über die vermeintlich direkt greifbare Umsetzung des Gedankens hinausgehenden radikalen Kritik, salopp gegenübergestellt. Im Klartext: "Her mit dem Plunder!", was soll uns noch die brotlose Reflexion über Warenform und ähnliche Esoterik.

Es läßt in diesem Sinne an Offenherzigkeit nichts zu wünschen übrig, wenn etwa Dario Azzellini erklärt: "Es geht darum, die langjährige linksradikale >Strategie der Opposition<...durch eine >Strategie der Konstruktion einer neuen Ordnung< zu ersetzen" (iz3w 277). Und noch deutlicher: "Die Zeiten des >radikalen Bruchs< sind vorbei" (ebda). Sicherlich war die Idee des radikalen Bruchs oft genug kaum mehr als eine Pose. Aber sobald die Aneignungsmilitanz brav konstruktiv wird, ist zu vermuten, daß die "neue Ordnung" mangels Reichweite ihrer "Konstruktion" aus dem Bauch heraus so ziemlich die alte sein wird. Es geht ja keineswegs darum, gegenwärtig notwendig begrenzte Praxisansätze abzukanzeln und sich etwa über "das Recht, sich auf öffentlichen Plätzen und in Parks aufhalten zu dürfen" (Azzellini) lustig zu machen, um die gegenwärtig ebenso notwendig abstrakte Radikalität theoretischer Kritik dagegen auszuspielen. Aber Azzellini verfährt nicht besser, wenn er bloß umgekehrt die über (illegalen) Warenkonsum und bürgerliche Rechtsform nicht hinauskommende unmittelbare Aneignungspraxis gegen die radikale theoretische Reflexion ausspielt.

Was dann noch an Ideen für eine Umwälzung der Produktionsweise übrig bleibt, ist nicht mehr als ein homöopathischer Aufguß uralter abgestandener Konzepte. Daß etwa aus Venezuela über "Spielräume für den Aufbau einer anderen Arbeitsweise" und "Modelle der Mitverwaltung" mit dem Ziel einer "vollständigen ArbeiterInnenkontrolle der Kernindustrien" (Azzellini) berichtet wird, zeigt die Stagnation der Theorie trotz Fabrikbesetzungen. Wo zwischen 50 und 90 Prozent der Bevölkerung zu den Herausgefallenen gehören, wie in der Weltmarkt-Peripherie inzwischen üblich, wird die "ArbeiterInnenkontrolle der Kernindustrien" sozial gegenstandslos und führt ohne Kritik des warenproduzierenden Systems bestenfalls zur Selbstausbeutung, schlimmstenfalls zum Schicksal der jugoslawischen Arbeiterselbstverwaltung, die zum Vehikel des Bürgerkriegs wurde. Daß keine "Modelle" in Sicht sind, spricht nicht gegen, sondern für die theoretische Ausarbeitung der Kritik, die nichts mit "Modellen" zu tun hat. Der spontanen Praxis nur das zurückzuspiegeln, was sie ohnehin schon selber ist und weiß, ist der sicherste Weg, sie zugrunde zu richten. Dann bekommt man am Ende nicht einmal den Plunder.

Verbalradikalismus gegen Arbeit und Geld

So kraftmeiert etwa Karl-Heinz Lewed in der Jungle World (ein Publikationsort, an dem man sich auch Sorgen über das Wohlergehen der US-Administration im Irak macht und der so an sich schon den Anspruch emanzipatorischen Denkens dementiert): "Eine Kritik an den kapitalistischen Zumutungen muß...jenseits der Warenform erfolgen...Es gilt, sich die stofflichen Ressourcen direkt anzueignen" (Nr. 28/2004). Die Kritik an kapitalistischen Zumutungen darf also erst sein, wenn man sich schon jenseits der Warenform befindet? Entweder spricht Lewed aus dem Jenseits zu uns, oder er hat es nicht so mit der sprachlichen Logik.

Genauere Aufschlüsse über das direkte Aneignen des stofflichen Reichtums gibt uns der Wiener Jenseitsspezialist Franz Schandl: "Was ist von einer Gesellschaft zu halten, wo es genug Autos und Getreide, Gummistiefel und Medikamente, Bücher und Dächer gibt, diese aber nicht die Menschen erreichen, weil sie sich immer weniger leisten können? Da stellt sich...dringender denn je die Frage direkter Aneignung dieser Produkte" (Streifzüge 30). Wenn die Dächer die Menschen nicht mehr "erreichen", dann müssen die Menschen eben die Gummistiefel anziehen, ein paar Medikamente einwerfen und sich die Dächer "direkt aneigenen", um dann glücklich mit ihren Dächern nach Hause zu gehen. Dem Aneigner ist nichts zu schwer. Die willkürliche, absurde Auflistung verrät, daß wir es hier in gar keiner Weise mit einer konkretisierten Kritik des warenproduzierenden Systems zu tun haben. Vielleicht sollte sich Schandl doch lieber beruflich mit Dächern abgeben, statt die Bewegungspraktiker und Prekarisierten mit seinen Stilblüten zu belästigen.

Und Autos, gilt es die auch "direkt anzueignen"? Autoknacker aller Länder, vereinigt euch! Wenn die öffentlichen Verkehrsmittel stillgelegt oder unbezahlbar werden, muß man zwangsweise auf das Auto zurückgreifen oder wird ganz immobil, sobald man sich auch das nicht mehr leisten kann. Aber deswegen ist es noch lange keine kritische Einsicht, darauf zu verweisen, daß "genug Autos da" wären. Die Kritik am kapitalistischen Individualverkehr ist nicht preiszugeben, weil es sozial eng wird und das "Politbarometer" der Szene auf "Aneignung" zeigt. Überhaupt ist ja das Problem des "abstrakten Reichtums" (Marx) nicht nur, daß er für viele unerreichbar wird. Vielmehr geht es auch darum, daß lebensnotwendige Bereiche stillgelegt und gleichzeitig gemeingefährliche Schrott-Produktionen forciert werden. Mit dem verkürzten Aneignungsbegriff von Schandl u.Co. ist dem System der "abstrakten Arbeit" nicht beizukommen.

Freie Software, Copyleft u.Co.: Das richtige Leben im falschen?

Genau diese Illusion pflegt das Konzept "freier Software", das aktuell in der verkürzten Aneignungsdebatte hoch im Kurs steht. Die unentgeltliche Entwicklung von Software nach dem Linux-Muster bleibt aber nicht nur äußerst begrenzt; es ist auch zweifelhaft, ob hier überhaupt ein emanzipativer sozialer Raum eröffnet wird, weil das Konzept bloß auf dem anonymen Agieren abstrakter Individuen im virtuellen Raum beruht. Eine Sozialküche, gemeinsame Kinderbetreuung oder eine Widerstandsaktion gegen das Sozialamt kann man auf diese Weise ebensowenig organisieren wie etwa ein Stahlwerk oder die Energieversorgung.

Wie schräg das Konzept ist, zeigt sich an seiner Ausweitung auf journalistische und theoretische Texte nach dem so genannten Copyleft-Prinzip. Da heißt es dann im Impressum einschlägiger Blätter: "Alle Artikel der Streifzüge unterliegen...dem Copyleft-Prinzip: Sie dürfen frei verwendet, kopiert und weiterverbreitet werden unter Angabe von Autor/in, Titel und Quelle des Originals sowie Erhalt des Copylefts" (Streifzüge 30). Das ist nicht Aneignung, sondern freiwillige Selbstenteignung von Autoren. Dem Kapitalismus wird damit nicht das Geringste weggenommen. Das "Prinzip" als rein formales verläßt das bürgerliche Recht nicht; und wenn sie sich daran halten, können z.B. bürgerliche Presse oder Neonazi-Querfront-Postillen auf diese Weise linke Texte "aneignen" (zur rechtstheoretischen Kritik vgl. den Artikel "Copyright und Copyleft" von Petra Haarmann in der demnächst erscheinenden ersten Ausgabe der neuen Theoriezeitschrift EXIT!).

Daß Texte "prinzipiell" nichts mehr kosten sollen, geht natürlich auf Kosten der Autoren. Die Gewerkschaft Verdi ist wenigstens noch darauf bedacht, daß die Schreiber nicht zu Billigarbeitern gemacht oder ganz enteignet werden (wie die Wissenschaftler in den Konzernen). Copyleft stellt die Enteignungs-Aneignungsdebatte geradezu auf den Kopf. Die Unterbietung des gewerkschaftlichen Standpunkts wird als transzendierende Entkoppelung zurechtgelogen, um sich bei einer für solche Mätzchen anfälligen Szene einzuschmeicheln. Eine stumme Voraussetzung bleibt dabei natürlich ungenannt, nämlich daß die Autoren dann ihr Geld von woanders her beziehen müssen, etwa aus akademischen Jobs oder durch das Sponsoring mittels Beiträgen einer Vereinsmitgliedschaft etc. Es handelt sich bei Copyleft um eine unredliche, völlig leere Scheinpraktik eines vorgegaukelten "richtigen Lebens im falschen", nicht um emanzipatorische Aneignung.

Eine Kapitulation vor Agenda 2010 und Hartz-Reformen?

Trotz Lippenbekenntnissen zur Notwendigkeit des "immanenten Kampfes" wird die "direkte Aneignung" den Auseinandersetzungen um finanzielle Ansprüche, Sozialtransfers etc. alternativ gegenübergestellt. Das ist eine verheerende Fehlleistung. Die mögliche Konstitution sozialer Kämpfe verläuft heute genau an der Frontlinie der finanziellen Kahlschläge. Praxen direkter Aneignung und selbstbestimmter Reproduktionseinrichtungen können solche Kämpfe anreichern, aber sie nicht ersetzen.

Und die Kritik von "abstrakter Arbeit" und Warenform? Sie muß theoretisch erarbeitet und konkretisiert, als gesellschaftlicher Diskurs entwickelt und verbreitert werden. Die unvermeidliche Spannung zur aktuell möglichen Praxis ist auszuhalten, nicht wegzulügen. Weil der Weg eben nicht das Ziel ist, wie es die alten Reformisten behauptet haben, besteht die Perspektive nicht im Blick auf das, was man unmittelbar machen, sondern genau umgekehrt im Blick auf das, was man gerade nicht unmittelbar machen kann. Soziale Aneignung in einem umfassenden, Produktion und Reproduktion übergreifenden Sinne ist eine wichtige Bestimmung für ein neues, nicht-bürokratisches Sozialismusverständnis. Ein solcher Aneignungsbegriff kann nicht nur die Kritik des warenproduzierenden Systems konkretisieren, sondern auch einen Bezugsrahmen geben, um heute schon in immanenten Kämpfen die Konkurrenz im weiter reichenden Interesse einer gemeinsamen gesellschaftlichen Zielsetzung zu überwinden. Dazu bedarf es eines langen Atems, den der jetzige Modediskurs offensichtlich nicht hat.

 

ZWEITER ABSCHIED VON DER UTOPIE

Die Bewegung der Kritik ist etwas anderes als das Aushecken von Billigrezepten für den sozialen Schnellkochtopf: Wenn die "falsche Unmittelbarkeit" Programm wird, geht erst recht nichts mehr

Die Utopien zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren die Kinderschuhe des Sozialismus. Gegen die miserable frühkapitalistische Wirklichkeit wurden andere Prinzipien ausgeheckt, soziale Formeln für ein ideales Zusammenleben erfunden, "Grundriß und Aufriß" (Marx) einer ganz anderen Gesellschaft gezeichnet, und zwar unbekümmert um die reale historische Entwicklung und deren innere Widersprüche. Der Marxismus beanspruchte demgegenüber, den Sozialismus "von der Utopie zur Wissenschaft" (Engels) fortentwickelt zu haben. Sozialer Befreiung sollte die Einsicht in die "Gesetzmäßigkeiten" des Kapitalismus und der Geschichte zu Grunde liegen. Daraus entstand die Idee einer staatlichen Regulation der Arbeit. Der Sozialismus wurde politisch.

In dieser Hinsicht geht heute gar nichts mehr. Der östliche Staatssozialismus ist ebenso tot wie die mildere westliche Version einer keynesianischen Steuerung der Ökonomie. Unter dem Druck der 3. industriellen Revolution und der transnationalen Globalisierung des Kapitals schrumpft die Arbeit dramatisch und die Politik wird zum Auslaufmodell. Das ist die Stunde der Aktualität für den "anderen", vom Arbeiterbewegungs-Marxismus weitgehend unterschlagenen Marx. Dieser verstand seine Kritik der politischen Ökonomie nicht als positives politisches Anwendungs- und Regulationsprogramm, sondern als radikale Kritik des aller Politik zu Grunde liegenden modernen warenproduzierenden Systems selbst. "Die Welt ist keine Ware", diese scheinbar griffige Parole der momentan gängigen Globalisierungskritik zielt aber keineswegs im Sinne einer zu Ende geführten Kritik der politischen Ökonomie auf eine Gesellschaft jenseits von Markt, Staat und "abstrakter Arbeit" (Marx), sondern will die Warenwelt bloß moralisch aufrüsten.

Praktischer Ausgangspunkt für eine neue, zugespitzte Gesellschaftskritik kann nur der Widerstand gegen die parteiübergreifende kapitalistische Krisenverwaltung sein. Aber dieser Widerstand erscheint zunächst selber noch als ein Interessenkampf in den Formen von Ware und Geld. Damit ist schon immer die Konkurrenz verbunden. Deshalb besteht die gesellschaftliche Transformation nicht, wie der alte politische Sozialismus dachte, in einer bloßen Verwirklichung dieses immanenten Interesses durch staatliche Regulation. Vielmehr geht es heute angesichts einer Weltkrise des warenproduzierenden Systems um die Perspektive eines Bruchs mit der herrschenden Produktions- und Lebensweise, die sich für die Individuen als verinnerlichter Zusammenhang von Lohnarbeit-Geldeinkommen-Warenkonsum darstellt.

Die Schwierigkeit dieser neuen Perspektive kann allerdings dazu verführen, in der Kritik des warenproduzierenden Systems auf eine utopistische Konzeptheckerei zurückzufallen. Traurige Beispiele dafür sind in der Freitag-Debatte "Utopie konkret" die Beiträge von Franz Schandl (Freitag 25 vom 11. Juni), Stefan Meretz (Freitag 26 vom 18. Juni) und Ulrich Weiß (Freitag 28 vom 2. Juli). Statt das Problem der Interessenform zu benennen, wird es durchgestrichen und der immanente Interessenkampf kurzerhand überhaupt für obsolet erklärt. "Alle sprechen unreflektiert von Interessensdurchsetzung, was in letzter Konsequenz nur heißen kann: Wie setze ich mich in Wert und wie entwerte ich andere?", behauptet Schandl. "Die eigenen Interessen durchzusetzen, bedeutet, sie gegen andere Interessen durchzusetzen...Behaupte dich auf Kosten anderer...Das Denken in >Interessen< ist immer (!) auch ein Denken in >Personen<. Die Guten und die Bösen...Personalisierendes Denken hat keine Haltelinie zum Rassismus", sekundiert Meretz. Da verschlägt es einem die Sprache. Der Kampf gegen unbezahlte Mehrarbeit, Hartz-Gegenreformen und Agenda 2010 - ein einziger Irrtum, per se ("immer") "personalisierend" und rassistisch?

In Wirklichkeit ist der soziale Interessenkampf nicht einfach identisch mit der individuellen und betriebswirtschaftlichen Konkurrenz. Die Kämpfe um Lohn, Sozialtransfers und öffentliche Dienste besetzen zwar eine bestimmte Ebene der Konkurrenz gegenüber den Institutionen von Kapital und Staat, aber sie gehen darin nicht auf. Vielmehr sind sie überhaupt nur möglich, wenn gleichzeitig die Konkurrenz der Betroffenen untereinander ausgesetzt wird. Gegenwärtig gelingt dies immer weniger; stattdessen nimmt die Atomisierung und Entsolidarisierung der Individuen überhand. Die Krisenwirklichkeit allein führt eben nicht von selbst zu einer Resolidarisierung. Erst wenn die Idee einer grundsätzlich anderen Gesellschaft im Raum steht, kann auch für begrenzte Ziele im Bestehenden die Konkurrenz durchbrochen werden. Nach dem Ende des politischen Sozialismus fehlt ein entsprechendes Paradigma. Die sozialen Bewegungen wagen es bis jetzt nicht, die Überwindung des Zwangssystems von Warenproduktion und Geldform ins Auge zu fassen. Ein solches Ziel ist natürlich nicht sofort praktisch greifbar. Aber allein schon durch seine ernsthafte Formulierung als gesellschaftlicher Diskussionsgegenstand kann es als eine Art Katalysator wirken, um dem zunächst immanenten sozialen Interessenkampf wieder einen Bezugsrahmen zu geben.

Schandl und Meretz verwechseln die radikal zu kritisierende gesellschaftliche Form von Ware und Geld, in der sich Sozialhilfeempfänger ebenso wie Manager befinden, mit dem zunächst nur in dieser Form erscheinenden Inhalt der Lebensinteressen. Auch wenn es kein Zurück zum traditionellen Klassenkampf geben kann, sind deshalb noch lange nicht alle Katzen des Interesses grau. Jeder von den kapitalistischen Gesellschaftsformen konstituierte Interessenkampf kann allerdings in personalisierendes Denken und in rassistische Ausgrenzungskonkurrenz umschlagen; diese stets präsente Gefahr erfordert die Anstrengung der Ideologiekritik gegenüber den sozialen Bewegungen. Zu meinen, sich diese Kritik ausgerechnet durch Propaganda des Interessenverzichts sparen zu können, heißt aus Angst vor dem Tod Selbstmord begehen.

Das Geheimnis der ganzen vermeintlich "konkret utopischen" Veranstaltung plaudert Ulrich Weiß aus, wenn er "das unmittelbare (!) Begründen...eines Lebens jenseits von Klasse, Staat, Verwertung" fordert. In dieser Welt ist jedoch alles vermittelt, das heißt durch historisches Gewordensein bestimmt, und die Idee der Unmittelbarkeit immer eine falsche. Der Bruch mit der kapitalistischen Interessenform, die man nicht ablegen kann wie ein Hemd, ist nur möglich durch eine Transformation des sozialen Interessenkampfes selbst, nicht durch dessen abstrakte Negation. Es bedarf einer komplexen historischen Gegenvermittlung, um die in Jahrhunderten ausentwickelte destruktive Reproduktionsform der "Verwertung des Werts" (Marx) aufzurollen. Dazu gehört, daß soziale Bewegungen nicht mehr den aussichtslos gewordenen politischen Dienstweg gehen, sondern sich außerparlamentarisch formieren. Notwendig ist es auch, den immanenten sozialen Interessenkampf und Widerstand gegen die kapitalistische Krisenverwaltung mit Momenten eines Lebens jenseits von "abstrakter Arbeit", Warenform und Geld anzureichern. Das wäre herauszufinden. Die Komplexität einer solchen Gegenvermittlung ist allerdings die Sache eines Hau-ruck-Theoretikers wie Franz Schandl nicht. Eine Welt "ohne Geld und Markt, ohne Arbeit und Wert", wie geht das? Schandl: "Denken wir sie uns weg!". Wegdenken statt Nachdenken - das ist ein wenig zu kurz gedacht.

Ein Aspekt bei der Transformation des sozialen Interessenkampfes kann unter den neuen Krisenbedingungen in der sozialen Aneignung von bestimmten sachlichen Ressourcen bestehen. Darunter fallen Aktionsformen wie etwa Haus- und Landbesetzungen oder organisiertes Schwarzfahren als Protest gegen die kommunale Verkehrspolitik. Solche Erfahrungen kritisch aufzuarbeiten ist freilich nichts für Unmittelbarkeitsdenker, die weglos zum Ziel kommen wollen. "Die ketzerische Frage lautet: Warum soll man kaufen müssen?", so Schandl. Er ist für "die freie Entnahme". Da kann er sich des Beifalls sämtlicher Konsum-Youngsters sicher sein, der bloß wenig mit emanzipatorischer Kritik zu tun hat. Die Idee eines Warenkonsums ohne Geld (Zahlungsfähigkeit) verläßt die Logik der Warenform und ihres "abstrakten Reichtums" (Marx) nicht. Schandl geht es gar nicht um die Analyse realer Ansätze von Aneignung, er fragt rhetorisch: "Warum soll Mehl gekauft werden?...Und Mähdrescher?...Es ist von alledem genug da". Warum ausgerechnet Mehl und Mähdrescher? Weil beides mit "M" anfängt? Die Willkür und Beliebigkeit verrät, daß hier nichts durchdacht, sondern eben von der Sache weggedacht wurde. Das ist keine Konkretisierung, sondern im schlechtesten Sinne abstrakt. Und übrigens um keinen Deut besser als die ähnlich unreflektierte Parole der blauäugigen Rest-Linkskeynesianer von Attac, daß "genug Geld da" sei. Es hat einfach etwas Urkomisches, sich den nur allzu politischen Journalisten Franz Schandl beim Aneignen eines Mähdreschers vorzustellen ("Imagine!").

"Keimformen" nicht-warenförmiger Reproduktion sind ja durchaus möglich, allerdings nur im Kontext sozialer Widerstandsbewegungen; so etwa gemeinsame Einrichtungen, die im Unterschied zu den gescheiterten Alternativ-Unternehmen nicht an den Markt gehen, sondern deren Betrieb im Gebrauch erlischt (Versammlungsräume, Bibliotheken, Kantinen usw.). Die viel beschworene freie Software ist in dieser Hinsicht allerdings mit Vorsicht zu genießen. Erstens kann diese Nischen-Aktivität nicht auf die materielle und soziale Reproduktion übertragen werden; so ist zum Beispiel sauberes Trinkwasser für alle nicht algorithmisch darstellbar und kann nicht "heruntergeladen" werden. Zweitens steht hier nicht etwa eine andere soziale Organisationsform zur Debatte, sondern die "unentgeltliche" Softwareentwicklung als "Selbstentfaltung" (Meretz) anonymer Individuen. Ein virtueller Sozialismus als Ansammlung von Chatrooms? Das riecht eher nach einer Spätfolge der abgestürzten New Economy als nach sozialer Emanzipation.

Vollends verdorben wird das Konzept, wenn sich die angebliche "freie Springquelle wirklichen menschlichen Reichtums" (Ulrich Weiß) im sozialen Nahbereich mit klassisch reaktionären Ideen auflädt. Weiß möchte "einst konservative, traditionelle Lebensweisen" in "Momente einer neuen postkapitalistischen Vergesellschaftung" umdefinieren. Sich ausgerechnet mit solcher Akzentsetzung "zu Kindern bekennen" (Weiß) ist eine Option für die Familienideologie von Edmund Stoiber. Auffallen muß in diesem Zusammenhang, daß die Utopien von Schandl, Meretz und Weiß ohne den leisesten Verweis darauf auskommen, daß im warenproduzierenden System bestimmte Lebensbereiche, die nicht in der "abstrakten Arbeit" aufgehen, an den weiblichen Teil der Menschheit delegiert wurden (vgl. Roswitha Scholz, Das Geschlecht des Kapitalismus, Bad Honnef 2000). Dreimal darf man raten, wer sich hier vermittels freier Software der "Selbstentfaltung" hingeben darf (soweit man nicht gerade mit der Aneignung von Mähdreschern beschäftigt ist) und wer letzten Endes wieder für die "Liebe" und das Hinternwischen zuständig sein wird.

Wenn Ulrich Weiß die Melange aus High-tech-Individualismus und Familienidylle auch noch ohne jede Sensibilität für einen unseligen deutschen Zungenschlag mit Hölderlin als "Hoffnung auf lebendige Gemeinschaft" verkauft und darauf setzt, daß das "Volk" die Unmenschlichkeit der Geldwirtschaft "ahnt", geht die Reise verdächtig nach rechts ins romantisch-lebensphilosophische Fahrwasser. Die Behauptung von Weiß, daß zwischen dem Istzustand und einer Welt ohne Waren nur "Scharen von Anwälten" stehen, was ist sie anderes als eine "Personalisierung" der krudesten Art, die auf Sündenböcke aus ist statt auf emanzipatorische Systemkritik?

Natürlich hat dieses verkürzte Denken eine soziale Basis. Daß jemand "Hausmann und Ich-AGist" ist (so die Selbstbeschreibung von Ulrich Weiß), gehört heute zum Massenschicksal. Aber die Ideologisierung der berüchtigten unmittelbaren Betroffenheit führt nicht zur Emanzipation, sondern verkleidet bloß ein nicht offen gelegtes, selber immanentes Interesse. Der "hausfrauisierte Mann" - wie ihn Claudia v. Werlhof nennt - möchte irgendwie obenauf bleiben, indem er die notwendige Auseinandersetzung um "abstrakte Arbeit" und Warenform auf seine unreflektierten lebensweltlichen Bedürfnisse einer Art virtuellen, flexibilisierten Neo-Kleinbürgerlichkeit herunterbricht. An die Stelle gesellschaftlicher Konfliktführung soll nur noch das kleinteilige Selbermachen treten. Wenn etwa Meretz ausschließlich darauf setzt, "die vielen Inseln" von Nischenexistenz "zu vernetzen", geht er systematisch am Problem der großen gesellschaftlichen Aggregierungen (Infrastrukturen etc.) vorbei.

Der Maßstab gesamtgesellschaftlicher Bewegung wird ausgeblendet, konkrete Analyse und Ideologiekritik durch das Pathos des abstrakten Menschen ersetzt, das nur eine idealisierte Version des Bestehenden darstellt. Für Meretz geht es allen Ernstes "um die individuelle Wiederaneignung von >einfach nur Mensch sein<...". Der Begriff der Aneignung wird so zum Kitsch fürs soziale Poesiealbum heruntertransformiert. Dazu paßt die falsche Versöhnungsparole: "Den inneren Kampfhund abschaffen, den Beißreflex zurücknehmen" (Meretz). Am Interessenkampf stört anscheinend weniger das (Konkurrenz-)Interesse, das man selber klammheimlich hat, als vielmehr der Kampf. Aber vorläufig wird der Beißreflex noch gebraucht, und zwar kräftig. Eine kampflose Emanzipation von der Warenform ist bloß illusionär.

Schandl, Meretz und Weiß sind selber schwere Fälle für Ideologiekritik, weil sie hinter den Arbeiterbewegungs-Marxismus zurückfallen statt über ihn hinauszukommen. Angesagt ist der zweite Abschied von der Utopie, nicht deren Wiederbelebung. Die historische Bewegung der Kritik ist etwas anderes als das Aushecken von Billigrezepten für den sozialen Schnellkochtopf. Theoretische Reflexion der Warenform in der Absicht ihrer Überwindung taugt nicht als billiger Jakob auf dem Markt der Meinungen. Wenn die falsche Unmittelbarkeit zum Programm wird, geht erst recht nichts mehr.