Preprint, Fertigstellung 11.05.05
erscheint in: Schröter, J. / Schwering, G. / Stäheli, U. : Media Marx. Ein Handbuch, 153 - 167, transcipt-Verlag, Bielefeld, Juni 2006

Die Zahlen als Medium und Fetisch

Claus Peter Ortlieb

Als Anfang des Jahres 2005 die Anzahl der Arbeitslosen in Deutschland die Marke von fünf Millionen überschritt, war die Aufregung groß, und die Stimmung verdüsterte sich. Der Kanzler nannte diese Zahl "bedrückend", obwohl er doch wie alle wusste, dass sie nur einer neuen Zählweise geschuldet war. Offenbar war es hier die Zahl selbst und nicht die dahinter liegende gesellschaftliche Realität, die die öffentliche Wahrnehmung auf sich zog und ihrerseits beeinflusste. Die Bundesregierung hätte vielleicht besser daran getan, sich ein Beispiel an der früheren britischen Regierung Thatcher zu nehmen, die in ihrer Regierungszeit die Arbeitslosigkeit dadurch bekämpfte, dass sie sie in dreizehn aufeinander folgenden gesetzlichen Vorschriften immer weiter herunter rechnete. Wenn nur die Zahlen sinken, ist alles in Ordnung.

Gut drei Monate später war die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland auf 4,97 Millionen gesunken, und der Wirtschaftsminister beeilte sich auf einer Podiumsdiskussion zu dem von den anwesenden Arbeitslosen mit Gelächter quittierten Schwur: "Wir werden ab jetzt nie mehr die fünf Millionen überschreiten. Da können Sie Gift drauf nehmen." Ob mit dem Nachsatz das Unbewusste dem Minister einen Streich gespielt und eine verdrängte Lösung des Problems an die Oberfläche gespült hat, bleibe dahingestellt.

Es soll im Folgenden auch nicht um die Frage gehen, wie man Arbeitslose "richtig" zählt, sondern vielmehr um das Phänomen, dass Zahlen sich gewissermaßen verselbständigen können und für die Wirklichkeit genommen werden, obwohl sie tatsächlich eine sehr geringe Aussagekraft haben. Dieser offenkundigen Verrücktheit sind sich auch die von ihr Erfassten durchaus bewusst, wenn etwa in Tageszeitungen die fünf Millionen mit leiser Ironie als "magische" Grenze (einschließlich der Anführungszeichen) bezeichnet werden, mithin gesehen wird, dass hier Magie am Wirken ist, die doch gleichwohl in unseren aufgeklärten Zeiten nichts zu suchen habe. Es wird zu zeigen sein, dass es sich genau darum handelt: Um die Magie der Aufklärung und ihres Denkens.

Die Arbeitslosenzahl ist nur ein Beispiel für das hier eingekreiste und hinsichtlich seiner Ursachen genauer zu bestimmende Phänomen. Man braucht nicht lange zu suchen, um weitere in beliebiger Anzahl und Vielfalt zu finden. Die gesamte institutionalisierte statistische Erhebungs- und Prognosetätigkeit lebt von ihnen. Zu nennen sind etwa die jährlich aufgestellten Wachstumsprognosen der wirtschaftswissenschaftlichen Institute und ihre monatlichen Korrekturen, die Inflationsrate und, damit zusammenhängend, das "reale" Bruttoinlandsprodukt, die in Zahlen gefassten Ergebnisse der PISA- und anderer Studien, die Bestimung des Intelligenzquotienten oder – für viele elementarer – der Schulnoten, der Waldschadensbericht, die Prognosen zum Weltklima, ausgedrückt in Grad Celsius der zu erwartenden Erhöhung der Durchschnittstemperatur usw. Umgekehrt schlagen in Gesetzen und Vorschriften die Zahlen, deren genaue Bedeutung niemand zu bestimmen vermag, als Normen auf die Wirklichkeit durch, indem sie ebenso magische wie reale Grenzen setzen: die drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts etwa, die die Neuverschuldung eines EU-Landes nicht überschreiten darf; die Schulnoten, die einen gewissen Standard nicht unterschreiten dürfen, soll die Versetzung gesichert sein; die die erlaubte Umweltverschmutzung regelnden "Grenzwerte" etwa für Feinstaub in der Luft, Gifte in Nahrungsmitteln o.ä., so als wäre die Welt darunter vollkommen in Ordnung und bräche sie darüber sofort in sich zusammen.

Die Erhebung bzw. Festlegung dieser Zahlen ist in jedem Einzelfall mit erheblichen methodischen Problemen verbunden, die den beteiligten Fachleuten zwar auch nicht stets bewusst sind, es aber immerhin sein könnten. In der öffentlichen Wahrnehmung und gesellschaftlichen Wirkung jedoch wird der mehr oder weniger "wissenschaftliche" Herstellungsprozess, dessen Ergebnis die Zahlen erst sind, samt seinen Unwägbarkeiten vollständig ausgeblendet. Die Zahlen verselbständigen sich dadurch und erhalten eine eigenständige, von aller Wirklichkeit außer ihnen absehende Bedeutung. In Konfliktfällen scheint dieser Sachverhalt manchmal auf, wenn z. B. Eltern nicht einsehen mögen, dass die Fünf in Mathematik den Leistungsstand der Tochter angemessen beschreibe, wobei allerdings regelhaft nur die Wahrnehmung der "ungerechten" Lehrerin und eher selten die Zumutung angegriffen wird, die darin besteht, Fähigkeiten und Verständnis in einer Zahl ausdrücken zu müssen.

Das hier beschriebene, offenkundig magische Verhältnis, in dem wir als moderne Menschen zu den Zahlen stehen, sollte nicht verwechselt werden mit der Zahlenmagie in vormodernen oder außereuropäischen Kulturen. Diese bezog sich immer auf die einzelne Zahl: Die Sieben etwa, die Drei oder die Fünf, die jede für sich eine eigene Qualität hatten. Die haben sie heute gerade nicht mehr, weder im Alltagsbewusstsein noch in der modernen Mathematik und mathematischen Naturwissenschaft, in der sich die Zahlen als qualitätslose Punkte auf dem Zahlenstrahl nur noch hinsichtlich ihrer Anordnung unterscheiden. Worum es also geht, sind die Zahlen als Gesamtheit und ist der Sachverhalt, dass sie für uns ein Medium sind, uns über die Welt zu verständigen, auch dort noch, wo es ohne jeden Sinn ist.

Angesichts der Komplexität der modernen Welt erscheint es immer dann angemessen, sich der Zahlen als Medium zu bedienen, wenn es um Sachverhalte geht, die die Einzelerfahrungen übersteigen. Das inzwischen wohl als gesichert geltende Ergebnis der PISA-Studien etwa, dass in keinem anderen vergleichbaren Land Bildungschancen und Schulerfolg von der sozialen Herkunft abhängen wie in Deutschland, wäre ohne die methodisch durchaus problematische zahlenmäßige Erfassung von Bildungsinhalten wohl kaum erreichbar gewesen. Bei den Geldflüssen, um einen andere Bereich zu nennen, handelt es sich, so sie sich denn erfassen lassen, um aussagekräftige Größen: Wenn sich etwa laut UNCTAD im Weltmaßstab die ausländischen jährlichen Direktinvestitionen im Zeitraum zwischen 1980 und 2003 ungefähr verzehnfacht und ihre Bestände sich mehr als verhundertfacht haben, dann sagt das etwas über die Neuartigkeit des mit dem Wort "Globalisierung" ein wenig unscharf beschriebenen Phänomens und widerlegt jedenfalls die Behauptung, es sei alles schon mal dagewesen. Und schließlich, zum Dritten: Von den ökologischen Gefährdungen, dem Ozonloch etwa oder den absehbaren Klimaveränderungen und ihren jeweiligen, von der modernen Gesellschaft hervorgebrachten Ursachen würden wir ohne ihre zahlenmäßige Erfassung in Millionen von Messdaten keinerlei Kenntnis haben. Man beachte allerdings die dieser Argumentation zu Grunde liegende Logik: Sie besagt, dass wir an bestimmte, über Einzelerfahrungen hinausgehende Sachverhalte nur über das Medium der Zahlen herankommen können. Daraus folgt aber nicht, dass das dann auch gelingt.

Die Aussage, dass wir über unsere Welt ohne das Medium der Zahlen nur wenig wissen würden, ist insofern richtig und gleichwohl nur der kleinere Teil der Wahrheit. Zum größeren gehört, dass es ohne dieses Medium und seine teilweise gewalttätige Verselbständigung in Naturwissenchaft und Technik viele Probleme gar nicht gäbe, die sich dann nur noch mit diesem Medium erfassen lassen; dazu gehört, dass die ausschließliche Verwendung dieses Mediums ohne Bewusstsein für seine Grenzen in die Irre bzw. genauer gesagt zu magischen Vorstellungen führt; und dazu gehört schließlich, gewissermaßen als Quintessenz, dass wir von unserer Welt letztlich nicht mehr wissen als andere Kulturen von der ihren.

Positive Wissenschaft als Magie

Wer nach den Ursprüngen sucht, stößt auf Galilei. Dem vor allem von der Wissenschaftsgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts ins Leben gerufenen modernen Volksglauben nach, welchem auch einige der heute noch in Gebrauch befindlichen Physikbücher anhängen, war Galilei der erste, der den Blick von den tradierten Schriften des Aristoteles und der Kirchenväter abwendete und den "Tatsachen" ins Auge blickte. Kennzeichnend dafür ist die Legende der "berühmten" Fallversuche vom schiefen Turm von Pisa, mit der Galilei angeblich aller Welt sein Fallgesetz ("Alle Körper fallen gleich schnell") bewies und Aristoteles, der das anders gesehen hatte, widerlegte. Die Legende ist noch nicht einmal gut erfunden (vgl. Koyré 1998, 123 ff.): Zum einen hätten die beschriebenen Versuche Galileis Fallgesetz nicht bestätigt, sondern falsifiziert, zum anderen wird hier, wie in vielen Physikbüchern noch immer, der Charakter der in der Person des Galilei kulminierenden wissenschaftlichen Revolution zu Beginn des 17. Jahrhunderts vollständig verfehlt. Nach Galileis Überzeugung ist "das Buch der Natur" in der Sprache der Mathematik geschrieben, und diese Überzeugung hat er und mit ihm die neuzeitliche Physik gegen alle unmittelbare Empirie durchgehalten (vgl. Ortlieb 1998, 24 ff.). Um es an einem Beispiel zu verdeutlichen: Das bereits Galilei und Descartes geläufige und von Newton zum Axiom erhobene Prinzip, demnach ein bewegter Körper sich gleichförmig weiterbewege, auf einer geradlinigen Bahn, solange ihn keine äußere Kraft daran hindert, ist rein hypothetisch, es wurde nie beobachtet, kann gar nicht beobachtet werden, und gehört gleichwohl zu den Grundlagen der neuzeitlichen Physik "In der griechischen Antike ebenso wie im Mittelalter wären die gleichen Auffassungen als »offenkundig« falsch, ja absurd eingestuft worden" (Koyré 1998, 72), und es gibt überhaupt keinen Grund, Antike oder Mittelalter deswegen als irrational oder autoritätshörig zu qualifizieren.

Sie haben nur die Methode der neuzeitlichen Wissenschaft nicht gekannt. Deren Vermittlung ihrer mathematischen Konstruktionen mit der Wirklichkeit besteht im Experiment und einer der größten anzunehmenden wissenschaftlichen und wissenschaftshistorischen Irrtümer darin, dieses mit der schlichten Beobachtung gleichzusetzen, wie sie Antike und Mittelalter zur Verfügung stand. Im Experiment wird Realität nicht einfach beobachtet, sondern hergestellt, den idealen mathematischen Konstruktionen zumindest näherungsweise entsprechend. Hierin und nur hierin ist der Erfolg der mathematischen Naturwissenschaft begründet: Die Realität, die sie beschreibt, ist eine von ihr selbst produzierte. In den Worten von Kant (1787/1990, B XIII):

Diese Blindheit treibt der seit anderthalb Jahrhunderten den wissenschaftlichen Mainstream bestimmende Positivismus gewissermaßen zur Vollendung, indem er Kants Metaphysik dadurch "überwindet", dass er sich ausgerechnet des an ihr Zutreffenden entledigt. Comte (1844/1994, 5) entwickelt mit seinem "Gesetz der Geistesentwicklung der Menschheit oder Dreistadiengesetz" eine Geschichtsphilosophie, die drei notwendig nacheinander durchlaufene Stadien (Erkenntnisformen) unterscheidet, denen die Kindheit, eine Art pubertäre Übergangsphase und schließlich das Mannesalter (!) der Geistesentwicklung bzw. der Menschheit zugeordnet wird, wobei einzelne Menschen oder auch die "drei Rassen"(!) in ihrer Entwicklung unterschiedlich weit fortgeschritten sein können: Das "theologische oder fiktive" Stadium, das "metaphysische oder abstrakte" Stadium und schließlich das "positive oder reale" Stadium. Entscheidend ist nun – und hier ist Comte sehr klar –, dass der im Übergang zur Erwachsenenphase liegende Fortschritt nicht etwa durch einen sprunghaften Erkenntniszuwachs, sondern vielmehr durch eine Veränderung der Fragestellung begründet wird. So weise etwa das theologische Stadium "eine typische Vorliebe für die unlösbarsten Fragen über Gegenstände auf, die einer entscheidenden Nachprüfung am unzugänglichsten sind" und suche nach "absoluten Wahrheiten" (a. a. O.). Das metaphysische Übergangs-Stadium behandele die gleichen Fragen, jedoch mit Mitteln, die eine "kritische oder auflösende" Wirkung erzielen: "Die Metaphysik ist also in Wahrheit im Grunde nichts anderes als eine Art durch auflösende Vereinfachungen schrittweise entnervter Theologie." (Comte 1844/1994, 13) Und als Ergebnis und Krönung dieser Entwicklung, die damit zugleich abgeschlossen sei, stelle sich wie von selbst das positive oder reale Stadium ein:

Die tabuisierte Metaphysik allerdings kehrt, wenn sich ihre Fragen auch im Rahmen positivistischer Wissenschaft nicht mehr wegdrängen lassen, in ihren ganz alten Formen, nämlich in Gestalt magischer Vorstellungen zurück. Regelmäßig passiert das dann, wenn sich Positivisten über das Verhältnis von Mathematik und Wirklichkeit Gedanken machen und ihrer Verwunderung Ausdruck geben, dass beide so gut zueinander passen. Der positivistische Wissenschaftsphilosoph Carnap etwa spricht von einem "Glücksfall" und zieht dafür zu Recht den Spott von Adorno (1969, 30) auf sich. Erst recht löst diese Frage bei in der Wissenschaft praktisch Tätigen ehrfürchtiges Staunen aus:

Fetischismus

Ein Fetisch ist ein Ding, in das übersinnliche Eigenschaften projiziert werden und das damit über die ihm Verfallenen Macht auszuüben vermag. Über solcherart Fetischismus, wie er zu Beginn des Kolonialismus vor allem an westafrikanischen Religionen festgemacht wurde, weiß die Aufklärung sich erhaben. Marx (1867/1984, 86/87) sah das bekanntlich anders:

Doch es handelt sich nicht um eine bloße Analogie, nicht um die zufällige Parallelität zweier voneinander unabhängiger Fetischismen. Seit der späten Veröffentlichung des Ansatzes von Sohn-Rethel (1970) hat es immer wieder Versuche gegeben, die von der Aufklärung ausgeblendete und vom Positivismus schließlich tabuisierte Frage anzugehen, also den Zusammenhang von "Warenform und Denkform", "Gesellschaftsform und Erkenntnisform", "Geld und Geist" auszuleuchten, so etwa von Greiff (1976), Müller (1977), Bolay/Trieb (1988), Ortlieb (1998). Die Angelegenheit ist komplex und lässt sich nicht auf wenigen Seiten klären. Den direktesten Weg nimmt Bockelmann (2004), den ich hier kurz skizziere. Eine der Schwierigkeiten, an der der erste Versuch Sohn-Rethels letztlich gescheitert ist, besteht darin, die moderne Form der Erkenntnis ebenso wie der Warengesellschaft in ihrer Besonderheit von ihren Vorläufern in der Antike klar abzugrenzen. Es ist nicht das bloße Vorhandensein von Geld oder der Tausch der überschüssigen Produktion, die die moderne Denkform auf den Weg bringen, sondern dazu ist notwendig, dass das Geld zur bestimmenden Allgemeinheit und zum eigentlichen Zweck der Produktion wird,

Geschlechtliche Abspaltung

Objektive Erkenntnis, wie sie sich etwa im physikalischen Experiment vollzieht, lässt sich als ein Vorgang der Abspaltung beschreiben, nämlich der Abspaltung derjenigen Aspekte der Wirklichkeit, die den gesetzesförmigen Ablauf stören würden. Einer der auszuschaltenden "Störfaktoren" ist der Experimentator selbst. Seine Körperlichkeit und seine Empfindungen könnten den "idealen" Ablauf durcheinander bringen und sind daher soweit wie möglich zu eliminieren, ohne damit seinen Beobachterstatus zu gefährden, was Greiff (1976) anhand der geläufigen, imperativisch formulierten Vorschriften in Lehrbüchern der experimentellen Physik zur Ausführung von Experimenten herausarbeitet. Der im Experiment vorgenommene aktive Eingriff in die Natur ist also zuallererst eine Handlung des Experimentators an sich selbst, nämlich seine Spaltung in ein Verstandes- und ein Körperwesen. Diese Erkenntnisform setzt mithin ein Subjekt voraus, das sich in dieser Weise spalten lässt.

Derartige Subjekte sind keineswegs in allen Gesellschaftsformen vorzufinden, sondern vielmehr ein Spezifikum einer einzigen, nämlich der bürgerlichen Gesellschaft, für die die Spaltung in Gefühl und Verstand, Körper und Geist, privat und öffentlich samt der dazugehörigen geschlechtlichen Konnotation konstitutiv ist. In der an abstrakten Kalkülen orientierten öffentlichen Sphäre sind nur die "männlichen" Anteile gefragt, die "weiblichen" dagegen abzuspalten. Letztere, da für das individuelle Überleben wie die gesellschaftliche Reproduktion gleichwohl erforderlich, sind damit aber nicht verschwunden, sondern werden vielmehr an die Frau delegiert ("Wertabspaltung", vgl. Scholz (2000, 13 ff. und 107 ff.). Wohin denn auch sonst, ließe sich einwenden, aber "weiblich" werden diese Anteile – und "männlich" die anderen – eben erst durch die entsprechende Zuweisung, sie sind es nicht von Natur aus. Zu beachten ist ferner, dass es sich hier um ein Schema handelt, das in den Individuen vielfach gebrochen ist, schließlich ist nicht von biologischen Determinanten, sondern von gesellschaftlichen Verhältnissen die Rede. Nicht jeder Mann ist also gleichermaßen "männlich", nicht jede Frau gleichermaßen "weiblich", doch der Zwang ist groß, sich diesen von der Warengesellschaft kodifizierten geschlechtlichen Attributen zu fügen, sodass nach wie vor, statistisch gesprochen, die positive Korrelation zwischen gesellschaftlichem und biologischem Geschlecht hoch ist.

In diesem Sinne ist der Experimentator, ist das Subjekt und der Träger der objektiven, gesetzes- und zahlenförmigen Erkenntnis "männlich", und zwar nicht nur strukturell, sondern auch empirisch, und das desto ausgeprägter, je höher sein Rang in der wissenschaftlichen Hierarchie. Es ist daher kein Zufall, dass Kritik an den unangreifbar scheinenden mathematischen Naturwissenschaften in den letzten Jahrzehnten fast ausschließlich von feministischer Seite erhoben wurde. Stellvertretend für viele seien hier Scheich (1993) und Keller (1995) genannt. Die Tiefendimension des Problems lässt sich freilich ohne Bezug auf die Wertabspaltung als ebenso umfassendes wie "in sich gebrochenes Formprinzip der gesellschaftlichen Totalität" (Scholz 2004, 19) schwerlich erreichen. Wer nur die institutionalisierte Erkenntnisgewinnung und ihre Mechanismen für sich betrachtet, kann allenfalls an ihrer Oberfläche kratzen.

Harte Fakten?

Als "harte Fakten" (man beachte auch hier die geschlechtliche Konnotation) gelten in der Regel solche Tatbestände, die durch eine Zahl, eine Zahlenkolonne oder eine mathematische Funktion ausgedrückt werden. Über deren Bedeutung ist damit aber noch gar nichts gesagt. In den experimentellen Wissenschaften ergibt sie sich aus der technischen Herstellbarkeit, also präzisen Handlungsanweisungen, mit denen sich das behauptete Ergebnis erzielen lässt. Darin liegt das ganze Geheimnis der "Exaktheit" der mathematisch-naturwissenschaftlichen Methode. Bei der Übertragung auf Wissensbereiche, in denen Experimente nicht möglich sind, sondern die Verbindung zur Empirie nur in der nicht eingreifenden Beobachtung oder statistischen Erhebung liegt, muss diese Exaktheit verloren gehen. Was an ihre Stelle tritt, bleibt unklar. Die Frage, welchen Sinn eine mathematische Erfassung der Wirklichkeit noch hat, wie weit also die den Naturwissenschaften entnommene Methode noch trägt, wenn sie ihrer basalen Anbindung an die Empirie beraubt ist, verfällt, da nicht Gegenstand "positiver Wissenschaft", der Nichtbeachtung. Ganze Fächer leben von derartigem Selbstbetrug, allen voran der Mainstream der akademischen Volkswirtschaftslehre (vgl. Ortlieb 2004). Die "Härte" der Fakten erweist sich als Schein und pure Fassade.

Betrachtet man im Einzelfall die von solchen Fächern produzierten Daten, so zeigt sich oft, dass unvergleichliche Qualitäten unter einen Hut gebracht, Äpfel also gewissermaßen mit Kartoffelsäcken addiert wurden. Das soll an einem abschließenden Beispiel verdeutlicht werden, bei dem es wiederum – obwohl hier wirklich nicht das eigentliche Thema – um die empirische Erfassung des Phänomens der Arbeitslosigkeit geht:

Tatsächlich wird hier aber Unvergleichbares miteinander verglichen, obwohl die ILO die Arbeitslosigkeit weltweit auf einheitliche Weise erfasst: Als erwerbstätig wird von ihr gezählt, wer mindestens eine Stunde pro Woche bezahlt arbeitet. Als arbeitslos gilt, wer in diesem Sinne nicht erwerbstätig ist, eine solche ihr/ihm angebotene "Arbeit" innerhalb von 14 Tagen nach eigenen Angaben aber antreten würde. Von den Schwierigkeiten bei der Datenerhebung einmal abgesehen: Bereits die Anhebung der völlig willkürlichen Grenze von 1 auf 3 Stunden pro Woche bezahlter Arbeit würde die so errechnete Arbeitslosenquote in einigen Ländern drastisch in die Höhe treiben, in anderen dagegen überhaupt nicht verändern. Hinzu kommt, dass "Arbeit" und "Arbeitslosigkeit" in verschiedenen Ländern ganz verschiedene Bedeutung haben können. Ein grelles Licht auf diesen Sachverhalt wirft eine andere Zahl, die in der Mitteilung der ILO (2005) enthalten ist, auf den auch die obige Zeitungsmeldung sich bezieht: Der Anteil der "$ 2 working poor" unter den weltweit als arbeitend Geltenden lag 2002 bei 50,4 Prozent und sank trotz der Dollarentwertung in den beiden Folgejahren nur auf 48,7 Prozent im Jahr 2004. Etwa die Hälfte aller "Arbeitenden" verdient also weniger als zwei Dollar pro Tag, weniger als ein Viertel des Zuverdienstes eines 1-Euro-Jobbers. Auch diese Zahl sagt über die dahinter liegenden Wirklichkeiten wenig aus, von ihr erfasst sind ohne Vertrag arbeitende Lohnsklaven ebenso wie Elendsunternehmer, die am Straßenrand eine Handvoll Früchte am Tag auf eigene Rechnung verkaufen, und sie bezieht sich auf Länder, in denen man für zwei Dollar zumindest noch eine anständige Mahlzeit bekommt ebenso wie auf solche, in denen sie nicht einmal für ein Sonderangebot bei McDonalds reichen. Dennoch zeigt sich auch an ihr, dass bei der Berechnung der weltweiten Arbeitslosenquote ganz offensichtlich "Äpfel mit Kartoffelsäcken addiert" wurden. Anders gesagt: Die Zahl von 6,1 Prozent, die immerhin eine Zeitungsmeldung wert war, ist nicht einfach falsch, sondern hat keinerlei sachlichen Gehalt. Dasselbe gilt dann für die Nachricht ihrer Veränderung entsprechend.

Damit wird die "Korrektheit" der erhobenen Zahlenwerte nicht bestritten. Ob die ILO bei ihren repräsentativen Umfragen sauber oder unsauber gearbeitet hat, lässt sich von mir nicht überprüfen, spielt aber auch gar keine Rolle. Die Zahlen mögen korrekt sein, sie verlieren aber jeden Sinn, wenn mit ihnen Länder mit unterschiedlichen ökonomischen Verhältnissen und gesetzlichen Regelungen verglichen und dann über solche Ländergruppen hinweg gar noch Mittelwerte gebildet werden.

Wenngleich sinnlos, sind die Zahlen doch nicht ohne Wirkung, weil sie in fast beliebiger Weise instrumentalisiert werden können. Sind sie einmal in der Welt, lassen sich aus ihnen munter Schlüsse ziehen. Beispielsweise kann man mit ihnen jetzt den "empirischen Beweis" antreten, dass die Deregulierung von Arbeitsverhältnissen und die Senkung der Löhne zu einer Verringerung der Arbeitslosigkeit führt, da die ja schließlich, so orakeln jedenfalls die Zahlen, in den Billiglohnländern geringer ist. Aber um mehr als ein Orakel handelt es sich in der Tat nicht.

Zahlen scheinen in der modernen Gesellschaft nahezu das einzige Medium zu sein, sich "objektiv", also über den pluralistischen Meinungsaustausch hinaus, über den Zustand unserer Welt zu verständigen. Der abgespaltene, von Zahlen gar nicht erfassbare "weibliche" Bereich muss dabei von vornherein außer Betracht bleiben. Wie sich zeigt, sind aber auch die zahlenförmigen Kenntnisse über den öffentlichen "männlichen" Bereich mehr als fragwürdig. Letztlich lässt sich auf diesem Wege über unsere Gesellschaft nur wenig in Erfahrung bringen. Dem Glauben an den Zahlenfetisch und seine umfassende Geltung tut das allerdings keinen Abbruch.

Literatur

Adorno, Theodor W.: Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie. Einleitung, Neuwied 1969

Adorno, Theodor W. / Horkheimer, Max: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt 1988

Bockelmann, Eske: Im Takt des Geldes. Zur Genese modernen Denkens, Springe 2004

Bolay, Eberhard / Trieb, Bernhard: Verkehrte Subjektivität. Kritik der individuellen Ich-Identität, Frankfurt 1988

Comte, Auguste: Rede über den Geist des Positivismus, 1844, Neuausgabe der deutschsprachigen Ausgabe, Hamburg 1994

Dewdney, Alexander K.: Alles fauler Zauber?, Basel 1998

Greiff, Bodo v.: Gesellschaftsform und Erkenntnisform. Zum Zusammenhang von wissenschaftlicher Erfahrung und gesellschaftlicher Entwicklung, Frankfurt 1976

ILO 2005: Pressemitteilung vom 14.02.05 (ILO 05/8), Appendix http://www.ilo.org/public/english/bureau/inf/pr/2005/8tables.pdf

Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, 1781, 2. Auflage 1787, Nachdruck, Hamburg 1990

Keller, Evelyn Fox: Geschlecht und Wissenschaft: Eine Standortbestimmung, in Orland, Barbara / Scheich, Elvira (Hrsg.): Das Geschlecht der Natur, Frankfurt 1995, 64 - 91

Koyré, Alexandre: Leonardo, Galilei, Pacal. Die Anfänge der neuzeitlichen Naturwissenschaft, Frankfurt 1998

Kurz, Robert: Blutige Vernunft. Essays zur emanzipatorischen Kritik der kapitalistischen Moderne und ihrer westlichen Werte, Bad Honnef 2004

Marx, Karl: Das Kapital. Erster Band, 1867, MEW 23, Berlin 1984

Müller, Rudolf-Wolfgang : Geld und Geist. Zur Entstehungsgeschichte von Identitätsbewußtsein und Rationalität seit der Antike, Frankfurt 1977

Ortlieb, Claus Peter: Bewusstlose Objektivität. Aspekte einer Kritik der mathematischen Naturwissenschaft, Krisis 21/22, 15 – 51, Bad Honnef 1998

Ortlieb, Claus Peter: Markt-Märchen. Zur Kritik der neoklassischen akademischen Volkswirtschaftslehre und ihres Gebrauchs mathematischer Modelle, EXIT!, Krise und Kritik der Warengesellschaft, Heft 1, 166 – 183, Bad Honnef 2004

Scheich, Elvira: Naturbeherrschung und Weiblichkeit, Pfaffenweiler 1993

Scholz, Roswitha: Das Geschlecht des Kapitalismus. Feministische Theorien und die postmoderne Metamorphose des Patriarchats, Bad Honnef 2000

Scholz, Roswitha: Neue Gesellschaftskritik und das Dilemma der Differenzen, EXIT!, Krise und Kritik der Warengesellschaft, Heft 1, 15 – 43, Bad Honnef 2004

Sohn-Rethel, Alfred : Geistige und körperliche Arbeit. Zur Theorie der gesellschaftlichen Synthesis, Frankfurt 1970

Ulrich, Jörg: Individualität als politishe Religion. Theologische Mucken und metaphysische Abgründe (post-)moderner Individualität, Albeck bei Ulm 2002